Karl Marx – ein hellsichtiger Reaktionär?

(auch erschienen in: Zeitschrift "Humane Wirtschaft" 4/2015 und "scharf-links")

Dass die Krise des Kapitalismus zu einer Renaissance des Interesses für Karl Marx führen würde, war zu erwarten. Dass es aber jemand wagen würde, den großen Sozialutopisten als Reaktionär zu bezeichnen, das kommt eher unerwartet. Andererseits leben wir trotz der Krise immer noch in einer Spaß- und Sensationsgesellschaft, in der es praktisch keine Tabus mehr gibt. Von Jesus Christus bis zum Holocaust wird heute alles durch die Spaß- und Pointenmühle gedreht, Hauptsache, so etwas hat noch keiner zuvor behauptet. Warum also nicht auch Marx zu einem Reaktionär erklären?

Die gesunde Reaktion besteht in einem solchen Fall darin, den Müll gleich dort abzulagern, wo er fast immer hingehört: in den Papierkorb. Wenn ich diese natürliche Handbewegung unterließ, dann deswegen, weil ich die vier ersten Zeilen des Autors bereits gelesen hatte – und die haben mich denn doch neugierig gemacht.

Marx wollte das Eigentum an den Produktionsmitteln abschaffen, genau das, so der bewusste Autor, hätten die großen Feudalsysteme Jahrtausende lang getan. In der Theorie und sehr oft auch in der Praxis war ein König von Gottes Gnaden Eigentümer des ganzen Landes sowie der Arbeitskraft seiner Untertanen. Im real existierenden Sozialismus war es nicht anders, nur dass ein Zentralkomitee statt eines Königs Eigentümer des Landes und aller Produktivkräfte ist und Marx die Stelle Gottes besetzt. Müsse man daraus nicht folgern, dass die Forderung nach Abschaffung des Eigentums die Vision eines Reaktionärs ist, der die Zukunft unbewusst nach dem Bilde einer mehrtausendjährigen Vergangenheit modelliert, die er doch bewusst mit aller Kraft bekämpfte?

In einem territorial definierten Staat das Eigentum schlechthin abzuschaffen, sei grundsätzlich unmöglich – irgendwer behalte immer die rechtliche und rechtmäßige Verfügung (z. B. gegenüber dem Ausland). Im absolutistisch-theokratischen Feudalsystem sei, wie gesagt, der König der einzig rechtmäßige Eigentümer gewesen, seine Untertanen dagegen nur Besitzer, denen er die Verfügung über das Land und dessen Erträge auf Widerruf gewährte. Im real existierenden Sozialismus sei der durch das Politbüro repräsentierte Staat ebenso der einzige Eigentümer des Territoriums und seiner Produktionsanlagen gewesen, das Volk durfte darüber nur wie über einen temporär genehmigten Besitz verfügen. Beide Systeme glichen sich darin, dass sie Befehlsordnungen sind: Dem einzelnen wird sein Los von oben zugeteilt, ohne dass er Einspruch erheben kann: gegen den gottbegnadeten König ebenso wenig wie gegen das marxistische Zentralkomitee.

In dieser von ihm ausdrücklich als ‚reaktionär’ bezeichneten Ausrichtung der Marxschen Zukunftsvision an den Eigentumsverhältnissen des Feudalismus erblickt der Autor einen unverzeihlichen Fehler, denn Marx hätte sehr wohl erkennen können, dass der demokratische Impetus der amerikanischen und französischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts einer ganz anderen Forderung entsprach. Geburtsrechte sollten beseitigt, Privilegien abgeschafft werden, um an die Stelle erblicher Vorrechte das individuelle Verdienst zu setzen. Überall, wo Demokratie wenigstens in Ansätzen verwirklicht wurde, laufe dies in der Praxis auf eine Neuverteilung von Vermögen (z.B. Landbesitz) hinaus – das hatte sich ja auf unerträgliche Weise in wenigen Händen konzentriert, nämlich in denen eines funktionslos gewordenen Adels und eines auf weltliche Macht versessenen Klerus. Nicht Abschaffung des Eigentums, sondern dessen gerechte Verteilung – darin habe immer die Grundforderung demokratischer Revolutionen bestanden!*1* Und was man unter einer ‚gerechten’ Verteilung zu verstehen hatte, schien ebenfalls klar. Individuelles Wissen und Können, die der Gesellschaft wie dem einzelnen dienten, sollten ein Anrecht auf soziale Anerkennung und persönliches Eigentum verschaffen, und eben nur diese: Geburtsbedingte Privilegien hätten in einer solchen demokratisch bestimmten Gesellschaftsordnung nichts mehr zu suchen.

Diesem Aufbegehren gegen das unverdiente, parasitäre Privileg verdanken Demokratien ihre Schlagkraft gegen die von ihnen abgelösten Feudalsysteme. Sie appellieren an den einzelnen, damit er aus eigenem Antrieb seinen Beitrag zum eigenen und zum Wohl der Gesellschaft leiste. Allerdings habe dieser Appell notwendig zur Folge, dass die einzelnen in einem solchen System der ‚Selbstverwirklichung’ miteinander im Wettbewerb stehen, während in den Befehlssystemen (Feudalismus und real existierender Sozialismus) Wettbewerb streng genommen keinen Platz haben könne, da allen Schichten und deren Gliedern die eigene Rolle von oben zugeteilt und verordnet wird.

Nach Überzeugung des Autors erklärt sich so ein weiterer reaktionärer Rückschritt bei Marx: die Anrüchigkeit des Wettbewerbs, die mit dem tatsächlichen Ergebnis der demokratischen Revolutionen erst recht nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Denn der Kampf gegen die allem Wettbewerb entzogenen Privilegien von Adel und Klerus und die Ersetzung der Privilegien durch individuelles Wissen und Können laufe zwangsläufig darauf hinaus, dass der Wettbewerb in der neuen demokratischen Gesellschaft eine besondere Stellung einnehmen musste. Wissen und Können unterscheiden sich ja nicht allein von einer Person zur anderen, sondern ändern beständig ihren Inhalt, da jede Zeit andere Prioritäten setzt. Anders gesagt, setzen Wettbewerb und Demokratie einander notwendig voraus. Wo Wissen und Können das Privileg ablösen, da herrsche Wettbewerb, wo Privilegien sich entfalten dürfen, sei der Wettbewerb ganz oder weitgehend abgeschafft.*2* Das sei im Feudalismus ebenso der Fall gewesen wie in den kommunistischen Staaten mit ihrer geschützten Nomenklatura.

Der Autor nennt Marx daher einen zweifachen Reaktionär, weil er erstens mit der Verteufelung des Eigentums und zweitens mit der Ablehnung des Wettbewerbs wesentliche Merkmale des Feudalismus übernommen habe. Diesen Fehler habe Marx auch dadurch nicht besser gemacht, dass er die ideale Verwirklichung des Kommunismus als einen utopischen Ausbruch aus aller staatlichen Ordnung verstand, wo das vollkommen befreite Individuum morgens den Jäger, mittags den Fischer und abends den kritischen Kritiker spielt. Das sei etwa so realistisch wie die Behauptung, dass sich unter einem König von Gottes Gnaden sämtliche Konflikte in Nichts auflösen, weil der Herrscher sein Volk ja definitionsgemäß mit einer gottgewollten Ordnung beglücke.

Allerdings würdigt der Autor vorbehaltslos jene Grundforderung von Marx, die er mit den beiden demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts teilt. Es ging Marx um die Bekämpfung der Ungleichheit – mit seiner Vision einer klassenlosen Gesellschaft habe er diesem Bestreben einen theoretisch prägnanten Ausdruck verliehen.

Doch wiederum stellt der Autor auch hier die Frage, ob Marx mit der von ihm propagierten Methode nicht ein drittes Mal reaktionär hinter die Väter der demokratischen Revolutionen zurückgefallen sei? Denn diese Revolutionen hatten in der Praxis eine bestechend einfache Lösung für das Problem der Ungleichheit gefunden: den Wettbewerb und die Zurückdrängung des Privilegs. In dem Augenblick, da alle persönliche Bereicherung ausschließlich auf Wissen und Können beruht, kann sich eine Generationen überdauernde Ungleichheit von vornherein gar nicht entwickeln. Jeder Vorsprung, den ein Mensch vor dem anderen an Wissen und Können besitzt, verschwinde ja spätestens mit dem Ableben dieses Menschen: In jeder Generation würden die Karten deshalb von neuem gemischt. Anderseits sorge der Wettbewerb, sofern er durch ein politisch strikt unabhängiges Kartellamt scharf überwacht wird, verlässlich dafür, dass jeder den eigenen Gewinnvorsprung nur solange aufrecht erhalten könne, wie ein anderer diesen Gewinn nicht durch gleiches oder überlegenes Können in Frage stellt. Und damit gelangt unser Autor zu einer Schlussfolgerung, die ich für die bemerkenswerteste seiner Ausführungen halte, manche werden sie vielleicht sogar als aufsehenerregend bezeichnen:

Die klassenlose Gesellschaft ist das voraussagbare Entwicklungsstadium einer Gesellschaft, die ihre Glieder ausschließlich nach Maßgabe von Wissen und Können und eben nicht aufgrund von Privilegien honoriert. Klassen entstehen dort, wo sich Unterschiede unabhängig von Wissen und Können über Generationen verhärten, sie sterben ab, sobald dies nicht länger der Fall sei. Wenn eine solche Entwicklung immer nur begonnen, aber nie zu Ende geführt worden ist, dann weil der Kampf gegen das Privileg bis heute niemals entschlossen genug geführt worden sei.

Diese Behauptungen unseres ikonoklastischen Autors klingen so ungewohnt, dass mancher sie schlicht für abwegig halten wird, zumal da noch ein weiteres Geschütz aufgeführt wird – gegen die Marxsche Verelendungstheorie, die ja auf dem Wettbewerb fußt, diesen also im gegebenen Fall expressis verbis zu einem Übel erklärt. Gemäß dieser innerhalb des Marxschen Lehrgebäudes zentralen Theorie würden die Unternehmer sich gegenseitig zu Tode konkurrenzieren, da jeder seine Produkte zu verbilligen trachte und dadurch das Einkommen der Arbeiter soweit drücke, dass diese zunehmend verarmen und die erzeugten Produkte immer weniger Abnehmer finden. Dies führe dann zwangsläufig an einen Punkt, wo das System aus dem Gleichgewicht gerate und schließlich zusammenbreche.

Karl Popper, so unser kühn dreinschlagender Autor, hätte in der ‚Offenen Gesellschaft’ gegen dieses Modell bereits ernsthafte Einwände vorgebracht, andere sich ihm darin angeschlossen, dass ein solches Zu-Tode-Konkurrenzieren nur bei gleichartigen Produkten möglich sei, nicht aber auf dem Felde der Innovation, die aber schon zu Zeiten von Marx der eigentliche Motor des Fortschritts gewesen sei.

Der Autor begründet die eigene Ablehnung der Marxschen Verelendungstheorie mit einem, wie ich meine, weit besseren, weil tiefer ansetzenden Argument. Angenommen, alle unsere Geräte vom Staubsauger bis zum Auto würden vollautomatisch erzeugt, so dass am Ende nur eine Handvoll von Arbeitern über den richtigen Betrieb der Herstellungsanlagen wachen, so wären nahezu alle Menschen arbeitslos, die heute noch in den Fabriken beschäftigt sind. Dieselbe Entwicklung, die in der Landwirtschaft dazu führte, dass ein einzelner heute so viel Nahrung erzeugt wie ein Jahrhundert zuvor an die hundert Menschen, würde sich dann auch im industriellen Sektor ereignen. Aufgrund der Verelendungstheorie von Marx müsste man einen katastrophalen Einkommensverlust befürchten. Die Automation hätte ja letztlich dieselbe Wirkung der Arbeitsvernichtung wie das gegenseitige Niederkonkurrenzieren.

Der Autor weist diese Annahme als historisch unzutreffend und logisch abwegig zurück. Die Automatisierung der industriellen Prozesse muss die Gesellschaft ebenso wenig verarmen lassen wie die ihr voraufgegangene weitgehende Mechanisierung der Landwirtschaft. Wenn es seit den achtziger Jahren tatsächlich einen Prozess der Verarmung gibt, der mit der Automatisierung einhergeht, so lägen dessen Ursachen gerade nicht dort, wo Marx sie gesehen hat, sondern im Gegenteil genau dort, wo die Väter der demokratischen Revolution des 18. Jahrhunderts sie sahen: beim Privileg.

Automation bzw. Mechanisierung bieten nämlich die Chance, die erzeugten Produkte nicht nur mit einem Bruchteil des Arbeitsaufwandes, sondern zu einem Bruchteil der Preise herzustellen. Angenommen, die täglichen Geräte vom Staubsauger bis zum Auto werden überhaupt vollautomatisch hergestellt (und auch die verwendeten Rohstoffe von Robotern gefördert), dann könnte ihr Preis theoretisch gegen Null absinken. Außer den Herstellungskosten für die Produktionsmaschinen (später wären das nur noch die Kosten für die Instandhaltung der Maschinen) enthält ihr Verkaufspreis nur noch das Einkommen jener Handvoll von Arbeitskräften, die für die Wartung der Geräte zuständig sind. Die Menschen kommen mit einem Bruchteil ihrer früheren Einkommen aus, da sie die Güter nun auch zu einem Bruchteil ihrer früheren Preise beziehen. Im übrigen bestehe der Tausch zwischen ihnen überwiegend in Dienstleistungen (hierzu vergl. im Detail: http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Uns_geht_die_Arbeit_aus%21_Geht_uns_die_Arbeit_aus.html).

Bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Güter hat dieser Preisverfall tatsächlich stattgefunden. Im industriellen Bereich kann von einer solchen Tendenz der sinkenden Preise jedoch heute nur noch in wenigen Sektoren die Rede sein. Automation wird nämlich – gleichgültig ob produktivitätsfördernd oder nicht – von den Vermögenden aus ganz demselben Grund forciert wie einst – vor den demokratischen Revolutionen – der Landerwerb durch Adel und Klerus. Die großen Shareholder, die eigentlichen Nachfahren von Adel und Klerus, sehen darin die Grundlage der Bereicherung durch leistungslose, parasitäre Renditen. Das Privileg hat sich in der kapitalistischen Wirtschaft tief eingenistet und fordert überall, wo produziert wird, den neuen Zehnten.

Dass das Ergebnis dieser Bereicherung noch weit spektakulärer sei als in den Feudalsystemen, habe einen naheliegenden Grund. Gesellschaften, welche das individuelle Wissen und Können einer maximalen Anzahl von Bürgern (im Idealfall der ganzen Bevölkerung) mobilisieren, vermögen ungleich größeren Reichtum hervorzubringen als Befehlsordnungen (Feudalsysteme und real existierender Sozialismus), welche Können und Wissen im Gegenteil an ihrer Entfaltung gehindert haben. Es sei daher kaum erstaunlich, dass sich heute mehr Reichtum in wenigen Händen häuft als jemals in der Vergangenheit.

Dadurch gerate das System als ganzes allerdings in höchste Gefahr. Trotz fortschreitender Automation sänken die Preise relativ zum Einkommen eben gerade nicht gegen Null, und zwar deshalb, weil die oberen zehn Prozent (in den Vereinigten Staaten ist es nur noch das obere ein Prozent) über ihre Investitionen einen immer größeren Strom parasitärer Rendite aus dem Produktionssektor pressen. Selbst wenn die Preise insgesamt fallen, gehe die zur Verfügung stehende Lohnsumme der arbeitenden Menschen eben noch schneller zurück – die Differenz wird über Zinsen, Dividende und die Rendite des unverschuldeten Sachkapitals in die Taschen der oberen zehn bis ein Prozent gelenkt. So verfestige sich gerade in unserer Zeit jene sozial bedrohliche Ungleichheit, die mit der Abschaffung des Privilegs problemlos verschwinden würde, weil Wissen und Können in jeder Generation in neuen Köpfen geboren werden. Statt zunehmender Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit würden wir einen Rückfall in feudale Verhältnisse erleben. Im Unterschied zu Marx hätten das, so der Autor, die Väter der demokratischen Revolutionen sehr wohl gesehen und deswegen den Wettbewerb gefördert und statt der reaktionären Forderung nach einer Abschaffung des Eigentums (an den Produktionsmitteln)*3* dessen Verteilung auf eine maximale Zahl von Köpfen gefordert.

Selbst diese Kritik scheint dem militanten Autor noch nicht genug zu sein. Marx habe – so sein wohl mindestens ebenso schwer wiegender Vorwurf – das Verhältnis zwischen den Produktivkräften heillos vergiftet, indem er die Produzierenden gegen die Produzierenden, also gegen einander, in Stellung brachte: die Arbeiter gegen die Unternehmer, die Proletarier gegen die als Expropriateure gebrandmarkten Leiter der Betriebe. Das sei ein heilloser Missgriff gewesen, denn der wirkliche Gegensatz liege an anderer Stelle, nämlich zwischen jenen, die ihr Geld durch Arbeit und jenen, die es im Schlaf auf Kosten der Arbeitenden verdienen. Die einen seien – in welcher Stellung auch immer – als Produzierende tätig, die anderen seien Parasiten im strengen Sinne, da sie ihr Kapital, ohne einen eigenen Handgriff zu tun, ausschließlich mit dem Schweiß anderer vermehren. Es sei zwar wahr, dass der Unternehmer in beiden Rollen erscheinen könne, doch, weil sich endlos über den wirklichen Wert seiner Arbeit streiten lasse,*4* sei er jedenfalls weit weniger angreifbar als der eindeutig als solcher definierbare Ausbeuter, nämlich der Rentier, der keinerlei Arbeit verrichtet, sondern, wie man es fälschlich sage, sein Kapital für sich arbeiten lässt, während es in Wahrheit heißen müsse, dass er andere Menschen als unfreiwillige Sklaven für seine Rendite missbraucht.

Eine naive Linke, im Gegensatz zu einer aufgeklärten, hätte das nie wirklich begriffen – der Irrtum reiche sogar bis in die Zeiten des Feudalismus zurück.  Die Verwalter feudaler Güter wurden damals als die eigentlichen Ausbeuter gesehen, ihnen schlug der Volkshass entgegen, während sie in Wahrheit doch nur willfährige Instrumente der sie beschäftigenden, sich vornehm hinter ihnen verbergenden adligen Eigentümer waren, die bei ihren seltenen Auftritten auf den eigenen Gütern vom Volk meist noch mit kniefälliger Ehrerbietung begrüßt worden sind. Diese Verwechslung finde sich genauso bei Marx und jenen Linken, die ihm bis heute kritiklos folgen. Auf den Unternehmer schlagen sie ein, weil er im Vordergrund steht und genau wie die ehemaligen Verwalter feudaler Güter ein unmittelbar aufzeigbares Objekt für demagogische Hetze bietet. Man wolle nicht sehen, dass Unternehmer in der modernen Industriegesellschaft in der Regel nur noch die ausführenden Organe des renditehungrigen Kapitals in ihrem Rücken seien.*5*

Wie kein zweiter habe Marx zwar das Gewissen seiner und kommender Zeiten für das Unrecht geschärft, das den Benachteiligten und Schwachen zugefügt wurde und weiterhin zugefügt wird, das sei, wie unser Autor festhält, sein bleibendes Verdienst. Er habe zudem mit größter Hellsicht erkannt, dass eine auf zunehmender Ausbeutung beruhende Gesellschaft nicht auf Dauer stabil sein könne, daher werde der Kapitalismus eben auch schließlich an seinen inhärenten Widersprüchen zerbrechen.*6* Doch statt die Ursache dieses angesagten Zerfalls im Privileg zu sehen und ihm den Boden durch eine demokratische Ordnung zu entziehen, die auf Wissen und Können und einer größtmöglichen Verteilung des Eigentums auf sämtliche Glieder der Gesellschaft beruht (wie der Sozialstaat sie bis in die achtziger Jahre in den Staaten des Westens auch mit einigem Erfolg zu verwirklichen vermochte), habe Marx das Eigentum zum Popanz erklärt und einen bis heute andauernden Unfrieden im Lager des arbeitenden Teils der Bevölkerung gestiftet (weshalb sich die wirklichen Ausbeuter und Parasiten bis heute vergnüglich die Hände rieben). Die echten Linken, die eigentlichen Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, das seien jene Kräfte der Revolution gewesen, welche den heute wie damals im Hintergrund wirkenden, eigentlichen Gegner erkannten: nämlich die parasitären Rentiers – Großgrundbesitzer oder Großinvestoren – die von der Arbeit anderer leben. Indem Marx die Unternehmer zu Feinden erklärte, habe er eine welthistorisch verhängnisvolle Weichenstellung vollzogen.*7*

Am Ende seiner harschen Kritik überrascht der Autor mit abschließenden Bemerkungen, die man beinahe als Selbstkritik auffassen könne. Warum bringe jeder, der wie Karl Marx das Eigentum und den Wettbewerb diskreditiert, verborgene Saiten im Herzen jedes Menschen zum Schwingen, während deren Rechtfertigung – auch wenn sie als durchaus zutreffende Analyse erscheint – doch nur die kalte Vernunft anspreche? Warum reihe sich Karl Marx mit dieser Verdammung in eine lange Reihe ehrwürdiger oder gar vergötterter Namen ein, die vom Begründer des Christentums über Joachim von Floris und Franz von Assisi und die Hochreligionen bis hin zu Rousseau und – ja – bis zu Christian Felber reicht, Propheten, die alle mit mehr oder weniger Pathos die Unterscheidung zwischen Mein und Dein – wie sie das Eigentum – sowie die zwischen besser, tüchtiger, klüger – wie sie der Wettbewerb bewirke – als eigentlichen Sündenfall der Menschheit ansehen? Dieses religiöse Pathos sei auch bei Marx zu finden. Während dessen Begriffsziselierungen und pseudowissenschaftlichen Ableitungen vermeintlich unverbrüchlicher Sozialgesetze nur noch in den Köpfen ewig gestriger Genossen spuken, sei es die religiöse Komponente des Kommunismus, dieser Aufruf zur allgemeinen Verbrüderung und zum brüderlichen Teilen, die ihre Wirkung bis heute nicht eingebüßt hätten. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ – das ist die Blaupause für eine Gesellschaft ohne Eigentum und ohne Wettbewerb.

Die elementare Wirkung dieses Appells beruhe darauf, dass es solche Verbrüderung und ein solches fragloses Teilen tatsächlich gebe und man eine Gesellschaft auch nur dann gesund nennen könne, solange es sie gebe. In der heilen Familie, unter Freunden, in kleineren religiösen Gemeinschaften, in durch ehrenamtliche Tätigkeit zusammengeschweißten Gruppen durfte es kein Mein und Dein und keinen Wettbewerb geben. Dieser unmittelbare innere Bereich der kleinen emotional heißen Gemeinschaften bildete stets den Gegenentwurf zur emotional kalten Außenbereich der Gesellschaft mit ihren rationalen Anforderungen – sie bieten dem einzelnen einen emotionalen Zufluchts- und Rückzugsort. Ohne den Schutz und die Wärme dieses Innenbereichs wären die meisten Menschen nicht fähig, in der Kälte des Außenbereichs zu überleben.

Jede Prophetie, welche den Wettbewerb und das Eigentum diskreditiert, könne daher mit einer spontanen Zustimmung rechnen, da wir alle, zumindest aus unserer Kindheit diesen paradiesischen, beinahe heiligen Zustand kennen, wo beides keine Geltung besaß. Die großen und kleinen Heilspropheten von Rousseau bis Marx hätten allerdings einen großen Fehler begangen, so unser Autor, wenn sie nicht wahrhaben wollten, dass eben auch beide Dimensionen unlösbar zur Conditio Humana gehören. Es sei ein historisches Faktum, dass alle Versuche, den Urkommunismus der Familie auf die Gesellschaft als ganze zu übertragen, ebenso verheerend geendet hätten wie das entgegengesetzte Bemühen, Wettbewerbs- und Eigentumsdenken in die Familie, die kleine religiöse Gemeinschaft oder die Freundschaft hineinzutragen. Mao Zedong hatte die Verbrüderung als ideologischen Imperativ einem ganzen Volk aufgezwungen – in seinen Folgen kam das einer kollektiven Vergewaltigung gleich. Kaum dass Deng Xiao Ping den brutalen polizeistaatlichen Zwang aufhob, da verwandelten sich die blauen Männchen über Nacht in eine Meute beißwütiger Kapitalisten. Der beißwütige Kapitalismus seinerseits hat in unserer Zeit den Versuch unternommen, auch noch in die Familie das Prinzip der Konkurrenz und den Gegensatz von Mein und Dein hineinzutragen – soweit ihm dies gelang, hat er diese älteste Form menschlicher Gemeinschaft von innen her zersetzt. Der Fehler liege, wie so oft, in einem bornierten ideologischen Absolutismus: Man bringt den Menschen und sein Zusammenleben auf eine einzige und dazu noch möglichst einfache Formel. Überall soll nur ein und dieselbe Regel herrschen. Der Mensch brauche aber beides: das Heilige und das Profane – das unbedingte Vertrauen, das ihm die kleine brüderliche Gemeinschaft bietet und die Herausforderungen, mit denen er sich in der großen Welt bewährt. Das religiöse Pathos der kommunistischen Idee sei deshalb der zugleich anziehendste und gefährlichste Aspekt der Marxschen Lehre, weil er Hoffnungen auf eine Gleichschaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft nähre, die weder erfüllt werden könnten noch sollten.*8*

Soweit der bewusste Autor, dessen Namen der neugierige Leser, der diesen unehrerbietigen Ausführungen über Karl Marx bis hierher gefolgt ist, wohl schon seit einiger Zeit in Erfahrung bringen möchte. Nun, vermutlich hat er schon früh geahnt, dass er gar nicht weit nach dem ‚Autor’ zu suchen hat. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich nämlich eine zeitweise Schizophrenie erlaubt: die Aufspaltung seiner eigenen Person. Die hier nur angedeuteten Bemerkungen über den Verrat an den Gründungsprinzipien der Demokratie sollen übrigens in einem neuen Buch weiter ausgeführt und begründet werden. Dort werde ich auch zeigen, dass allein in Deutschland die oberen zehn Prozent Jahr um Jahr eine Summe im Schlaf, d.h. auf Kosten der unteren neunzig Prozent, ‚verdienen’, welche in etwa der Summe der größten Massensteuer, d.h. der Lohnsteuer, entspricht.*9*

1 Ehrlichkeit sollte uns zu dem Eingeständnis nötigen, dass es bei allen Revolutionen immer um das Vermögen der anderen ging, das man selbst nicht hatte. Sofern die anderen ihren Reichtum dem Privileg verdanken, ist dies ein berechtigtes Aufbegehren gegen fundamentales Unrecht.

2 Damit wolle der Autor allerdings keineswegs sagen, dass Wettbewerb harmlos sei. Ohne durch soziale Maßnahmen flankiert zu sein, kann er eine Gesellschaft sehr wohl von innen zerreißen. Als eine Form des kontrollierten Krieges sei Wettbewerb eine potentiell zerstörerische Kraft. Das sei der Preis, den demokratische Gesellschaften für die Entfesselung von Talent und Leistung zu zahlen hätten.

3 Die Abschaffung des Eigentums an den Produktionsmitteln hat, wie das Beispiel der real existierenden sozialistischen Staaten zeigte, deutliche Konsequenzen für das Privateigentum schlechthin, das in diesen Staaten vor willkürlichem staatlichen Eingriffen niemals sicher war.

4 Bei funktionierendem Wettbewerb kann sich der einzelne Unternehmer ohnehin nur begrenzte Zeit übermäßig bereichern, da auch neue Ideen durch Patente nur befristet gegen den Wettbewerb geschützt sind.

5 Es gehörte wenig Mut dazu, die Verwalter zu steinigen, da halfen ihre Herren manchmal auch gerne mit, um den Hass von sich selbst abzulenken. Man fühlt sich dabei auch an die Finanziers der Feudalherren erinnert: oft Juden, die sich in einer ähnlichen Stellung wie die Verwalter befanden. An der Bereitschaft, auf die Stellvertreter statt auf die eigentlich Schuldigen einzuschlagen, hat sich bis heute nichts geändert. Es gehört wenig Mut dazu, einzelne Manager und Unternehmer an den Pranger zu stellen, aber es gehört eine gehörige Portion Zivilcourage dazu, die sie für ihre Zwecke dirigierenden Herren anzuklagen – zumal diese inzwischen in den Medien, in der Politik, in den Lobbys, kurz an allen Schaltstellen der Macht zu finden sind. Jean Ziegler hat kräftig auf den Vorstandsvorsitzenden von Nestlé Peter Brabeck-Letmathe eingeschlagen, aber zugleich eingestanden, dass dieser von den Eigentümern augenblicklich hinweggefegt werden würde, wenn er nicht deren Vorgaben folgt. Im übrigen hat niemand so sehr wie Jean Ziegler zu spüren bekommen, was es heißt, sich mit den ‚Beutejägern’ anzulegen. Diese haben eine prozessuale Treibjagd gegen ihn losgetreten.

6 In meinem Buch „Das Ende des Kapitalismus – Triumph oder Kollaps eines Wirtschaftssystems“ hatte ich bereits 1999, als solche Warnungen eher unzeitgemäß waren, von diesem Zerfall gesprochen. Eine brandneue Analyse von bezwingender Schärfe ist Wolfgang Streeck auf wenigen Seiten gelungen (Wie wird der Kapitalismus enden? Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015, 4/2015).

7 Vermutlich geht der Autor dann doch einige Schritte zu weit, wenn er nicht nur die objektiven Ergebnisse des ‚Kapitals’ in Zweifel zieht, sondern auch noch die subjektive Ehrlichkeit seines Verfassers. Ein besonderes Mitgefühl für die Benachteiligten dieser Erde habe Marx nämlich nur in der Theorie aber keineswegs in der Praxis erkennen lassen. Der große Demokrat Lewis Mumford wird in diesem Zusammenhang mit folgender Beobachtung zitiert: Finally, he Marx who thundered against the moral airs of the bourgeoisie was too squeamish to admit Engel’s beloved Irish mistress, a girl of the working classes, into his family circle… a day came when Engels (immerhin jahrzehntelang Marxens Brotherr im eigentlichen Sinne) was cut to the quick by Marx’s unfeeling comments upon the death of the girl Engels had loved and lived with… that day was almost for Engels an awakening…( Lewis Mumford, The Condition of Man, 330, 339; New York 1944. Auf diesen wunderbar intelligent geschriebenen Seiten ist wohl eine der besten sozial-psychologischen Deutungen des Marxismus und seiner Begründer zu lesen).

8 Soziologen haben in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, dass das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ in Gemeinschaften von mehr als drei vier Dutzend Menschen unweigerlich den Trittbrettfahrer hervorbringt, der nur noch die zweite Hälfte dieser Maxime befolgt. Der Grund für das Versagen des Liebeskommunismus außerhalb der Familie und der kleinen Gemeinschaft hat in meinen Augen aber weit tiefere Wurzeln. Eigentum und Wettbewerb sind Aspekte der kreativen Selbstverwirklichung, die jeder der Kindheit entwachsene Mensch in gewissem Maße anderen entgegenhält. Wir gestalten nicht nur in Kleidung, Schmuck, Tattoos den eigenen Körper und durch eigene Thesen, Postulate, Philosophien den eigenen Geist als unser unmittelbarstes Eigentum, sondern der Gärtner gestaltet sein eigenes Stück Land, der Häuslbauer seinen eigenen Wohnbereich, der Künstler seine eigene Kunst, der Staatsmann die politische Gestalt ,seines‘ Landes etc. Diese Selbstverwirklichung oder Anverwandlung macht einen Teil der äußeren Welt zu unserem Eigentum und gehört als kreativer Wettbewerb zu den am tiefsten in der Biologie verwurzelten Bedürfnissen des Menschen. Das ist die geistige oder physische Spur, die wir in der Welt hinterlassen möchten.

9 „Das ökonomische Manifest – fünf Fundamentalreformen, um den Niedergang von Wirtschaft und Demokratie zu beenden“.