Hass nichs, biss nichs, asso werrsn Lerrer

Auszug aus meinen biografischen Notizen: Der Einsteiger – auf der Suche nach all den verschollenen Ichs.

Einer unserer Lehrer ist mir besser als alle anderen in Erinnerung. Bis heute verkörpert er in meinen Augen den Inbegriff des Unerklärlichen und Irrationalen: Autorität, für die es keine rationale Begründung gibt. Wenn Herr Will, der Lehrer für Chemie und Mathematik, die Tür durchschritt, herrschte Stille, Totenstille, und zwar auf der Stelle. Die ganze Klasse zitterte vor diesem Mann. Dabei hätte er ein Ausbund der Lächerlichkeit abgeben können, hat er uns doch einmal in unglaublicher Offenheit gestanden: „Hass nichs, biss nichs – asso werrs‘n Lerrer.“ Jeder andere hätte nach diesem Spruch alles Ansehen verloren, nicht so der fürchterliche Herr Will. Wir wagten nicht einmal zu lachen, als er vor uns dieses Geständnis ablegte. Der Mann war einfach furchterregend. Jeder, der von ihm an die Tafel gerufen wurde, erstarrte und zitterte um sein Leben. Was mich betrifft, so hatte ich es bei ihm zwei oder drei Jahre recht gut, weil die Mathematik mich faszinierte und ich den Stoff in der Chemie vor der Stunde nur einmal durchzusehen brauchte, um ihn dann auswendig zu memorieren. Aber als mein Interesse sich später einem anderen Gegenstand zuwandte und ich weniger gut abschnitt, ließ er mich das auf der Stelle spüren. Wie alle anderen hatte ich da ebenfalls Grund, im Inneren zu erbeben.

Worauf beruhte die außerordentliche Autorität dieses Mannes? Ich glaube, wir alle spürten, dass da unter der Oberfläche etwas Gefährliches lauerte: Bereitschaft zur Gewalt. Das mag unsinnig klingen: einen Lehrer, dem auch nur die Hand ausgerutscht wäre, hätte die Elternschaft aus reichen Hamburger Bürgern sofort mit einem Fußtritt auf die Straße gesetzt. Da gab es ein eindeutiges soziales Gefälle, das dieser Mann ja mit seinem „Hass nichs, bis nichs, asso werrsn Lerrer“ deutlich genug beschworen hatte. Aber Will konnte es sich ungestraft erlauben, einen so entlarvenden Spruch zu äußern. Lehrer mit wirklichem Format wurden von den Schülern zu Tode geärgert, wenn sie wehrlos erschienen. Herr Will wurde gehasst, aber er wurde noch weit mehr gefürchtet…

…Mehrfach bin ich Lehrern begegnet, die ich als solche nicht zu akzeptieren vermochte. Sehr eindrucksvoll war das z.B. nach meinem zweiten japanischen Aufenthalt in Heidelberg der Fall. So eindrucksvoll, dass mir dieses Ereignis noch heute als ein Rätsel vor Augen steht. Der Leser wird sich erinnern, dass schon dem Gymnasiasten Autorität als ein Geheimnis erschien. Der Chemie- und Mathematiklehrer Will – „hass nichs, kanns nichs, asso werrs en Lerrer“ – war das Urbild unbegreiflicher Autorität. Er brauchte nur in die Tür zu treten und alle Schüler bebten und erzitterten vor diesem Mann. Dem Urbild einer ganz anderen, nämlich einer unglaublich sanften aber dennoch gleich starken Autorität sollte ich in Heidelberg in Gestalt eines indischen Guru begegnen (der Name ist mir entfallen). Das war ein reichlich fetter junger Mann – so wie ich ihn heute noch vor mir sehe, vermutlich zwischen 25 und 30 Jahren –, der wie ein junger Gott vor einem Publikum von Akademikern thronte: Professoren und Studenten, die an seinen Lippen hingen, als würde er sie mit milder und sicherer Hand direkt ins Paradies begleiten. Für mich, einen Indologen, sagte der Mann nichts anderes, als was ich in Dutzenden von Texten schon hunderte Male gelesen hatte – also nichts Neues (was natürlich nichts über den Wahrheitswert besagt, aber dieser ließ sich aus einem ein- bis zweistündigen Vortrag ohnehin nicht erschließen). Es war aber auch gar nicht der Inhalt seiner Worte, welcher die Faszination dieses Mannes begründete – der junge Gott hätte auch den reinen Unsinn verkünden können – die eigentliche Botschaft bestand nicht im Inhalt des Gesagten, sondern wie er diesen verkündete.. Denn den jungen Guru umgab eine Aura, eine Selbstgewissheit, eine innere Ruhe, wie sie in unseren Breiten nicht gefunden wird. Da setzte alles Wenn und Aber vollständig aus, das die Deutschen einander sonst bei jeder Gelegenheit an die Köpfe werfen. Denken und Widerspruch waren vor dieser Erscheinung schlicht gelähmt. Verbrecher wie Adolf Hitler müssen im teuflischen Sinne eine ähnliche Präsenz besessen haben. Manche seiner Gesprächspartner berichteten später, sie glaubten, der Kalk würde von der Decke fallen, wenn jemand in seiner Gegenwart so etwas wie einen Einwand oder gar Widerspruch wagte.

In dem Publikum aus Akademikern war ich vielleicht einer der wenigen, die bei allem Erstaunen über diesen indischen Avatar nie auf den Gedanken gekommen wären, sich ihm zu Füßen zu setzen. Ich betrachtete den Mann als ein Phänomen, aber nicht als jemanden, von dem ich hätte lernen können. Ich glaube, es war in der Nähe von Rischikesch, dass mir bei meiner Fahrt durch Indien, also sehr viel früher, etwas Vergleichbares passierte. Ich war dort mit einem japanischen Studenten ins Gespräch gekommen, der mir voller Begeisterung von einem großen Yogalehrer erzählte, den ich unbedingt kennenlernen müsse. Er unternahm es, mich zu dem Mann zu führen. Wir betraten also den Aschram, in dem der Meister residierte. Der junge Japaner warf sich sogleich vor ihm nieder, wobei er mit der Stirn den Boden berührte. Ich aber stand aufrecht daneben und neigte nur zum Gruße den Kopf, wie das die Höflichkeit auch in Europa geboten hätte. Dabei war ich durchaus beeindruckt. In seiner Art zu schauen und in seiner ganzen Haltung hätte ich ihn am ehesten mit Friedrich von Weizsäcker verglichen, also mit einem großen Gelehrten. Da war keine Spur von jener angemaßten, oft auf den Westler nur abstoßend wirkenden Wildheit in Aussehen und Gebaren, die so manche angeblichen Heiligen Indiens charakterisiert. Dennoch nehme ich an, dass der Mann das Unterwerfungsritual seiner westlichen Verehrer zu schätzen wusste und meine aufrechte Haltung ihn eher befremdete.

Lag in meiner Haltung eine Überschätzung der eigenen Person, also Arroganz, die vor keinem anderen das Haupt beugen will? Ich selbst würde es so nicht sehen, denn in Japan habe ich einmal voller innerer Erregung, ja, mit wirklicher Hingabe das Haupt vor einem anderen Menschen gebeugt. Das war bei einer Teezeremonie, wo es üblich ist, dass die den Tee darbietende Frau und der Gast, den sie damit beehrt, sich gegenseitig tief voreinander verbeugen. Ich habe diesen Vorgang wechselseitiger Ehrung als unglaublich schön empfunden. Da gab es keine Spur von Unterordnung sondern in der gegenseitigen Verbeugung bekundete sich die Anerkennung eines anderen Menschen, der sein Gegenüber seinerseits mit dem gleichen Gefühl beehrt. 


Auszug aus meinen biografischen Notizen: Der Einsteiger – auf der Suche nach all den verschollenen Ichs.

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Die Schriftstellerin Ulla Fröhling schreibt:

Wunderbar! Danke. Werde es sofort kaufen und im Freundinnen*kreis bekannt machen.

Herzliche Grüße,

Ulla Fröhling.

*Freunde sind mitgemeint.

Alexander Dill trägt eine wichtige Information hinzu:

Bei dem Guru sollte es sich um Guru Maraji Ji handeln, der in den 80er Jahren diesen Titel ablegte und sich seitdem Prem Rawat nennt. Ich durfte in Südfrankreich 1977 seine Füsse küssen. Er ist übrigens 1958 geboren.

Meine Replik:

Für mich eine wichtige Information. Laut Wikipedia kam Maharaj Ji (Prem Rawat) am 10. Dezember 1957 zur Welt. Da sein Auftritt in Heidelberg entweder 1972 oder 1973 stattfand, war er damals also gerade einmal 15 oder 16 Jahre alt. Auffallend war, dass eine Frau (seine Frau) im Hintergrund des Podiums thronte.