Wie lange wird Europa noch am Energietropf des russischen Präsidenten hängen?

Der Krieg war von langer Hand vorbereitet. Spätestens seit 2005, als Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, war er bestrebt, die seiner Meinung nach unheilvolle Entwicklung wieder rückgängig zu machen. Europa war darauf nicht vorbereitet – am wenigsten waren es die vielen Putinfreunde und -Versteher, die noch in den Wochen vor dem 24. Februar 2022, als der neue Zar seine Truppen an der Grenze zur Ukraine in Bjeloruss positionierte, der Lüge immer noch glaubten, wonach Russland doch nur harmlose Übungen im Sinne habe – alles andere sei nicht mehr als die übliche russophobe Propaganda. Die US-amerikanische Regierung wusste es besser: ein solcher generalstabsmäßiger Aufmarsch bedeute immer und überall Krieg. Den Amerikanern war ebenfalls klar, dass der Westen handeln müsse, wenn er Putin daran hindern wolle, die Geschichte in seinem Sinn zu revidieren. Aber wie? Ein Einsatz der NATO auf Seiten der Ukraine war von vornherein ausgeschlossen – er hätte den totalen Krieg einschließlich des nuklearen ausgelöst. Wenn der Westen aber Putins Krieg nicht tatenlos zusehen wolle – so wie die Welt bis zum Einfall Hitlers in Polen dessen Eroberungsgelüsten tatenlos hinnahm -, dann bleibe nichts anderes übrig als die Wirtschaftsblockade (erweitert durch Maßnahmen gegen die Drahtzieher der russischen Kriegstreiberei) – also ein Vorgehen, dass man gemeinhin als „Sanktionen“ bezeichnet.

Krieg – vor allem in seiner modernen Form – ist eine Orgie der Zerstörung von Land und Menschen. Sanktionen zerstören „nur“ Teilbereiche, vor allem die Wirtschaft. Aber sie waren immer schon ein zweischneidiges Schwert. Man kann keine gewachsenen Bindungen und Abhängigkeitsverhältnisse zerreißen, ohne auch sich selbst beträchtlichen Schaden zuzufügen. Aus dem rechten Lager von Marine Le Pen in Frankreich, Herbert Kickl in Österreich, Matteo Salvini in Italien und natürlich Viktor Orban in Ungarn tönt daher schon seit einiger Zeit heftiger Protest gegen die „unsinnigen Sanktionsmaßnahmen“. Während bei uns die Preise für Energie und Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen und der Mangel an Energie die deutsche Industrie in die Knie zu zwingen und Massenarbeitslosigkeit zu bewirken droht, scheint man in Moskau noch kaum etwas von Einschränkungen zu bemerken.

Richtig ist, dass der Westen durch seine Sanktionspolitik die eigene Wirtschaft der schwersten Erschütterung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt hat. Die Ersetzung fossiler Energien durch die Erneuerbaren steht zwar schon seit geraumer Zeit auf dem Programm zumindest der europäischen Grünen, denn nur so können wir den Klimawandel zumindest begrenzen, aber ein solcher Prozess erfordert Zeit: mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrzehnte. Jetzt aber findet die Befreiung von russischer Energieabhängigkeit von einem Tag auf den anderen statt, zumal der russische Präsident in der Unterbrechung der Gaszufuhr eine nur zu willkommene Chance erblickt, sich für die Sanktionen am Westen zu rächen.

Sind die Sanktionen also falsch, weil auch wir selbst offensichtlich darunter leiden? Nein, denn außer dem offenen Krieg – einer für alle Betroffenen mörderischen Option – sind sie das einzige Mittel, um die Expansionsgelüste Putins zu bändigen. Orban, Le Pen und Kollegen hoffen darauf, sich beim russischen Zaren einzuschmeicheln und die eigene Haut zu retten. Aber damit war schon der britische Premier Neville Chamberlain gegenüber Hitler gescheitert. Beschwichtigung trifft am Ende auch jene, die sich davon einen vorläufigen Vorteil erhoffen.

Andererseits können Sanktionen wirksam sein oder auch nicht. Von Wirksamkeit kann nur dann die Rede sein, wenn sie die russische Wirtschaft so stark erschüttern, dass Putin seinen Krieg nicht länger führen kann, weil die Bevölkerung rebelliert. Davon ist vorläufig nichts zu bemerken. Der stark gedrosselte Export von Hochtechnologie, ohne den die russische Rüstungsindustrie ihre Hightechwaffen nicht produzieren kann, wird sich erst mit der Zeit auswirken. Umgekehrt verschafft die Reduktion des Gas- und Ölexports nach Europa Russland sogar bedeutende Vorteile, da die Preise explodieren. Die russischen Einnahmen für einen stark verminderten Energie-Export haben insgesamt zugenommen. So weit stimmt die Kritik an den Sanktionen.

Schmerzhaft ist die Wirtschaftsblockade nur dann, wenn Russland auf die Einnahmequelle für seinen Rohstoffexport ganz oder weitgehend verzichten muss – bekanntlich macht dieser ganze vierzig Prozent des russischen Staatshaushalts aus. Da Europa der beiweitem wichtigste Importeur seiner fossilen Rohstoffe ist, würde ein völliger Verzicht unsererseits den Zusammenbruch des russischen Staatsbudgets nach sich ziehen (weil China und Indien den Ausfall fürs erste nicht ersetzen). Die Russen werden dann zwar weiterhin überleben – sie haben ihr außerordentliches Durchhaltevermögen in Notsituationen historisch immer wieder unter Beweis gestellt -, aber unter solchen Bedingungen werden sie ihre Expansionskrieg nicht länger führen können.

Allerdings wird auch Europa schwer getroffen. In Ermangelung von erneuerbaren Quellen reicht das fossile Angebot aus nicht-russischen Ländern gegenwärtig nicht aus, um den zumindest teilweisen Zusammenbruch europäischer, vor allem auch deutscher Industrien zu verhindern. Der nur langfristig mögliche, aber nun unvorhergesehen plötzlich erzwungene Übergang zu einer grünen Wirtschaft wäre mit einer zumindest teilweisen Deindustrialisierung und einem dramatischen Einbruch des bisherigen Lebensstandards erkauft – von den unabsehbaren sozialen Folgen einmal ganz zu schweigen.

Das ist die Stunde, in der Europa entweder scheitert oder sich für alle sichtbar bewährt. Rechte Außenseiter wie Le Pen, Kickl, Salvini, Orban usw. betreiben Beschwichtigungspolitik für und im Sinne Putins – eine Politik, welche die Union nicht nur schwächt sondern sie endgültig spalten würde (wobei sie Putins Expansionsgelüste durch ihre Nachgiebigkeit zusätzlich anstacheln). Dagegen vertritt die Europäische Kommission die Interessen Gesamteuropas gegen nationale Egoismen. Die einfachste Sanktionsvariante, ein Einfuhrverbot sämtlicher Rohstoffeinfuhren aus Russland, kommt für die Union nicht infrage, da sie auch den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung existenziell gefährdet. Dagegen kann Europa sehr wohl etwas dagegen tun, dass Russland durch höhere Preise für Öl und Gas statt zum Opfer sogar noch zum Profiteur der Sanktionen wird. Nur eine Deckelung der Preise für fossile Rohstoffe kann dies verhindern. Auch die Käufer von Energie können sich zu einem Kartell zusammenschließen, wie es die Verkäufer schon seit Jahrzehnten tun. Russland hat sich mit der OPEC auf eine Begrenzung der Fördermengen geeinigt, um die Preise auf hohem Niveau zu stabilisieren. Nachdem es seine Lieferungen drosselte, sind diese dann steil in die Höhe geschossen. Wenn Europa sich gemeinsam mit den G7, den führenden westlichen Industriestaaten, seinerseits zu einem Kartell der Käufer zusammenschließt, dann ist dies die einzige Möglichkeit, gegen eine überhöhte Preisentwicklung wirksam vorzugehen. Europa und die G7 beschließen, Russland nur einen Preis zu zahlen, der nahe am oder unwesentlich über dem Erzeugerpreis liegt.

Dieses Vorgehen ist nicht ohne Risiko, denn Russland braucht nicht zu liefern; es könnte die Ausfuhr nach Europa auch auf Null reduzieren. Regierungssprecher Peskow und Dmitri Medwedjew, der einst so sympathische Premier, der inzwischen zum ärgsten Kriegstreiber wurde, haben genau damit gedroht, weil sie wissen, was das europäische Vorgehen für Russland bedeutet. Putin selbst bezeichnet eine solche Maßnahme als dumm – der sicherste Hinweis auf ihre Wirksamkeit. Sie würde, wie schon gesagt, den russischen Staatshaushalt nach wenigen Monaten erschüttern und das derzeitige Regime aus den Angeln hebeln. Die Auszahlung der Renten und eine Fülle anderer Staatsleistungen wären nicht länger gewährleistet. Die angedrehte totale Einstellung aller Lieferungen – schon heute weitgehend realisiert, aber aufgrund exorbitanter Preise für Russland kaum spürbar – wäre zwar momentan durchaus möglich, aber sie ließe sich nur kurze Zeit durchhalten, ohne dass es zu einem russischen Staatsbankrott und einem dann wahrscheinlichen Systemwechsel kommt. Vergessen wir nicht: Europa hat sich zwar von russischer Energie abhängig gemacht, aber umgekehrt hat sich Russland genauso in die Abhängigkeit von den daraus fließenden Zahlungen begeben. Kurzfristig stände die Europäische Union vor einer besonderen Herausforderung, falls es zu einem totalen Lieferstop käme. Ihre Solidarität mit den stärker von Gaslieferungen abhängigen Nationalstaaten wie Österreich oder Tschechien muss die Union dann dadurch beweisen, dass sie das vorhandene Gas zeitweise unter allen Mitgliedern verteilt.

Kartelle der Käufer gegen Verkäuferkartelle haben eine lange Geschichte auf nationaler Ebene. Die großen Handelsketten in allen modernen Staaten sorgen dafür, dass die Produzenten von Grundnahrungsmitteln keine regionalen Monopolpreise fordern können. Im Auftrag der Konsumenten, also im Auftrag von uns allen, kaufen sie überregional billig ein und verhindern dadurch Preisexzesse auf Seiten der Verkäufer (wobei sie allerdings ihrerseits oft zu weit gehen, indem sie den Verdienstspannen speziell von Kleinproduzenten auf ein Minimum reduzieren).

Aber Preisdeckelungen, zu denen sich der einzelne Nationalstaat im Sinne seiner Bürger entscheidet, indem er die Ausgaben vor allem des ärmeren Bevölkerungsteils für Energie (Strom oder Gas) auf einen zumutbaren Betrag begrenzt, sind etwas ganz anderes. Dem einzelnen Staat stehen dabei drei mögliche Instrumente zur Verfügung: Umverteilung, Staatsverschuldung oder Geldschöpfung. Im Falle der Umverteilung werden Steuergelder, die der Staat von allen Bürgern erhebt, dazu benutzt, um dem ärmeren Bevölkerungsteil in einer Notsituation zu helfen. Das ist bei Staatsverschuldung nicht anders, nur dass die Umverteilung in diesem Fall zeitlich versetzt erfolgt: die kommende Generation zahlt für die gegenwärtige (wobei es in aller Regel der ärmere Teil der Bevölkerung ist, der mit seinen Steuergeldern die Kredite der Reichen bedient). Geldschöpfung für das Staatsbudget (der EZB durch die eigene Satzung verboten) ist die schlechteste aller Möglich­keiten. Indem der Staat die Geldpresse anwirft, hilft er zwar den Ärmsten im ersten Moment, erzeugt aber zur gleichen Zeit eine Inflation, die alle Preise im nächsten Moment in die Höhe treibt und daher die früheren Vorteile wieder zunichte macht. Umverteilung ist das Mittel der Wahl. Zur Linderung einer akuten Not ist sie ein unverzichtbares Instrument, aber sie hat ihre Grenzen, weil der Staat nur jene Mittel anders verteilen kann, über die er tatsächlich verfügt. Gegenwärtig hat ihn die Pandemie aber schon an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht.

Und die ungeheuren und ungerechtfertigten Gewinne, welche einige Energieproduzenten sich verschafften, ohne die eigene Leistung im Geringsten erhöht zu haben? Zeigt sich nicht hier die ganze Misere des modernen Kapitalismus?

Diese oft gehörten Ausbrüche von Empörung beruhen auf einem Missverständnis. Die Regelung, dass der jeweils teuerste Energieproduzent den Preis vorgibt, war bis vor kurzem, also bis zur heutigen Energiekrise, eine sinnvolle und geradezu notwendige Maßnahme. Wer billig produzierte, wurde belohnt. Er setzt den Mehrgewinn dafür ein, die eigene Produktion zu erhöhen und die teureren Produzenten auf diese Art zu verdrängen – ein gewaltiger Anreiz für die Investition in Windräder und Solarpanele. Wenn dieser Mehrgewinn in einer Zeit der unmittelbaren Energieverknappung zu Zwecken der Umverteilung abgeschöpft wird, dann mag das sinnvoll sein, um unmittelbare Not zu lindern, aber die Folge besteht natürlich darin, dass Investitionen in billige Energie darunter leiden.

Hier sprechen wir von nationalen Maßnahmen in der Kompetenz der einzelnen Regierungen Europas. Aber die Bewährungsprobe, die von der Europäischen Kommission gefordert wird, besteht in einem gemeinsamen Vorgehen gegen die russische Preistreiberei. Europa darf nicht länger am Energietropf des russischen Präsidenten hängen, der sich jeden einzelnen Tropfen in Gold aufwiegen lässt! Das Kartell der Käufer und damit der Deckel auf den Preis für russische Energie ist das Gebot der Stunde. Offenkundig erleben wir gerade das Ende einer Ära, denn auf dramatische Weise wird das Credo erschüttert, wonach der Markt alles regelt. Erst hat Putin, um Europa zu schwächen und zu spalten, in den Markt eingegriffen. Nun ist die Europäische Union ihrerseits gezwungen, den Markt zu regulieren. Es wird sich zeigen, ob die Europäische Kommission dieser überlebenswichtigen Aufgabe gewachsen ist.

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Herr Albrecht Müller von den Nachdenkseiten schreibt:

Danke vielmals, sehr geehrter Herr Jenner,
Ihr Artikel ist sehr instruktiv: man kann gebündelt lernen, wie manipuliert und pervers man denken kann und daran anschließend formulieren kann.
Schöne Grüße
Albrecht Müller

Meine Replik:

Meinerseits vielen Dank, Herr Müller, für Ihre bezeichnende Antwort, die ich natürlich als wertvollen Kommentar unter meinem Artikel abgedruckt habe.

Man kann daraus lernen, wie sich immer mehr Menschen in der Bundesrepublik – auch solche von einiger intellektueller Prominenz – hinter ihren einmal bezogenen Positionen (andere würden von Dogmen sprechen) verschanzen und nicht nur nicht bereit sind, andere Meinungen ernst zu nehmen sondern sich sogar zu gut sind, auch nur darauf einzugehen. Eine traurige Entwicklung in einem Land, das sich einmal nicht nur seiner Dichter sondern auch seiner Denker rühmte.

Alles Gute

Gero Jenner