Kommt der Frieden für die Ukraine während des G 20 Gipfels im November?

Ich erlaube mir, an ein Wunder zu glauben, das keines ist, weil die Gebote der Vernunft Russland und die USA zum Handeln zwingen. Ja, für diejenigen, die nicht an die politische Vernunft glauben wollen, setze ich noch hinzu, dass elementare Interessen im Spiele sind. Wladimir Putin hat mittlerweile begriffen, dass er seinen Krieg gegen das „Brudervolk“ der Ukrainer nicht länger gewinnen kann, denn anders als er zu Anfang wähnte, brachten diese den Russen zwar früher einmal große Sympathien entgegen, inzwischen sind sie aber zu ihren erbittertsten Feinde geworden. Wladimir Putin hat es fertiggebracht, aus den Ukrainern, das zu machen, was sie bis dahin zwar schon lange sein wollten aber nie richtig waren: eine sich ihrer Eigenart bewusste, auf ihre Unabhängigkeit pochende Nation. Landgewinne sind für den russischen Präsidenten bei so viel hartnäckigem Widerstand nicht länger möglich, vielmehr würde ein längerer Krieg ihm nur weitere Verluste bescheren. Die einzige Option, welche die eigene Luftüberlegenheit dem russischen Militär immer noch eröffnet, ist die Bombardierung der gesamten ukrainischen Infrastruktur, bis das Land unbewohnbar wird und seine Bevölkerung in die Steinzeit zurückfällt. Diese Möglichkeit steht immer noch offen, aber sie stößt in der ganzen Welt – nicht nur im Westen – auf wachsenden Widerstand. Putins engste Verbündete, China und Indien, haben bereits Protest angemeldet.

Den Vereinigten Staaten verdanken die Ukrainer, dass ihr Überlebenswillen und Unabhängigkeitsstreben überhaupt eine Chance gegen die Eroberungsgelüste ihres übermächtigen Nachbarn haben. Ohne deren entschlossenen Beistand hätte der russische Goliath den ukrainischen David längst besiegt und stände heute an der Grenze zu Polen. Der Krieg hat aber auch die USA hart getroffen. Ich spreche hier nicht von den Milliarden an Rüstungsgütern sondern von den Auswirkungen der Sanktionen und der weltweiten Zerstörung des ökonomischen Gleichgewichts. Joe Biden muss damit rechnen, dass die Midterm Elections vom 8. November zu einem Desaster für seine Partei und für ihn persönlich werden. Die Inflation zerstört dort ebenso wie in Europa die Ersparnisse der kleinen Leute; sie hat deren Leben so stark verteuert, dass sie der Regierung mit größer Wahrscheinlichkeit einen kräftigen Denkzettel verpassen. Biden hätte noch großes Glück, wenn ihn eine desaströse Wahlniederlage nicht zum Rücktritt zwingt.

Was liegt also näher, als in dieser Situation an die Vernunft zu glauben und auf sie zu hoffen? Ihr salomonisches Urteil wäre im gegebenen Fall leicht zu fällen. Der Krieg wird beendet, und die Grenzen so wiederhergestellt, wie sie vor dem 24. Februar, also vor seinem Beginn, bestanden. Die Ukraine verzichtet endgültig auf die Krim, die ihr in den Zeiten der Sowjetunion ohnehin nur in einer Wodkalaune von Chruschtschow zugesprochen worden war. Sie verzichtet auch auf den Donbass, wo eine Mehrheit nicht nur russischsprachig sondern auch russenfreundlich eingestellt war und wohl immer noch ist. Außerdem verzichtet die Ukraine auf einen Beitritt zur NATO, erhält aber im Namen der NATO eine vertragliche Zusicherung, dass ihre Grenzen von da an unverletzbar sein sollen. Die Sanktionen werden zur gleichen Zeit größtenteils außer Kraft ersetzt, die beschlagnahmten Vermögen der russischen Föderation allerdings ganz oder teilweise zum Wiederaufbau des zerstörten Landes eingesetzt.

Für Joe Biden wäre eine solche Einigung ein glänzender Erfolg, dem er mit größter Wahrscheinlichkeit eine deutliche Bestätigung im Amt verdanken würde. Außerdem wäre damit der Verdacht – auch auf Seiten seiner Bündnispartner – entkräftet, dass Amerika von diesem Krieg profitiert, weil es sein Gas zu exorbitant hohen Preisen nach Europa exportiert und die dortige Wirtschaft nebenbei so tiefgrei­fend schädigt, dass sie als Weltmarktkonkurrenz für amerikanische Unternehmen nicht länger infrage kommt. Mit einem solchen Schachzug würde Biden der Welt beweisen, dass die USA wirklich sind, was sie immer zu sein behaupten, nämlich eine friedenschaffende und – weitgehend – uneigennützige Ordnungsmacht. Sie geben der Forderung Putins nach, die Sanktionen aufzuheben, weil sie wissen, dass Europa seine Abhängigkeit von Russland danach ohnehin einschränken wird. Wenn der amerikanische Präsident am 15. oder 16. November diesen Schritt in Bali tatsächlich vollzieht, wird er als Friedensmacher in die Geschichte eingehen. Amerika hätte – nach langer Zeit – endlich wieder einen moralischen Erfolg vorzuweisen. Die Sache hat nur einen offensichtlichen Haken: die zeitliche Reihenfolge. Die Midterm Elections finden am 8. November statt, das G 20 Gipfeltreffen erst eine Woche danach. Die Verhandlungen hinter den Kulissen müssten also jetzt schon laufen und ihr Ergebnis vorher bekannt gemacht werden, damit Joe Biden davon profitiert.

Und welche Vorteile hätte der russische Präsident von einem Friedensschluss? Für ihn ist bei diesem Überfall auf ein Nachbarvolk nichts „wie geplant“ verlaufen, obwohl alle staatskontrollierten Medien den Auftrag haben, genau diese Illusion zu verbreiten. Die ukrainischen Brüder haben sich ihm keineswegs in die Arme geworfen, als er in den ersten Tagen seinen Blitzkrieg gegen das ganze Land einschließlich der Hauptstadt Kiew entfesselte. Der seiner Meinung nach moralisch längst degenerierte Westen hat auch nicht verängstigt zugesehen (wie noch zu Zeiten des Krimüberfalls) sondern sich mit aller Entschiedenheit an die Seite der Überfallenen gestellt. Außerdem wurde die Expansion der NATO keinesfalls eingedämmt sondern zwei neue Mitglieder, Schweden und Finnland, sind ihr eilig beitreten, wodurch die Ostsee nun zu einem Binnenmeer unter der Kontrolle der NATO wurde. Auch die Abhängigkeit Europas von den russischen Ressourcen, die von Russland bewusst betrieben und von den Europäern noch bis vor kurzem blauäugig gutgeheißen wurde, weil die ökonomische Verkettung, wie man leichtfertig wähnte, auch den politischen Frieden bringen würde, hat Russland weniger genutzt als man dort hoffte. Der weitgehende Stopp der Gas- und Öllieferungen hat Europa zwar schwer erschüttert, aber die Union nicht in die Knie gezwungen. Zwar hat Russland unter den westlichen Sanktionen weniger gelitten als vorausgesagt, aber gelitten hat die Bevölkerung auf jeden Fall. Insgesamt blutet das Land ökonomisch wie militärisch aus. Seine Raketenbestände dürften sich inzwischen stark gelichtet haben, außerdem bringt die Teilmobilisierung immer mehr Russen gegen die eigene Regierung auf. Der von Putin versprochene Erfolg der „speziellen militärischen Operation“ hat sich somit als eklatanter Misserfolg erwiesen; der als völlig unzweifelhaft verheißene Sieg Russlands erscheint als leeres Versprechen. Für Putin steht nicht weniger auf dem Spiel als seine bisher unangefochtene Stellung als Präsident der russischen Föderation.

Unter diesen Umständen besteht eine begründete Aussicht, dass er an einem Frieden genauso interessiert sein könnte wie sein amerikanisches Gegenüber. Zwar wird ihm ein harter Verzicht abverlangt – das Gebiet von Cherson bis Mariupol wird er an die Ukraine zurückgeben müssen, aber die russische Herrschaft über den Donbass und die Krim wird festgeschrieben. Und was für ihn das Wichtigste ist, weil die russische Propaganda darin von Anfang an die Hauptforderung sah: Die Ukraine wird der NATO nicht beitreten können. Dieses Zugeständnis an Putin ist von zentraler Bedeutung, weil es ihm erlaubt, den Frieden als einen Sieg hinzustellen und so das Gesicht zu wahren. In den Augen der Scharfmacher und eines Teils der russischen Bevölkerung wird er zwar viel von seinem Renommee einbüßen, aber als Präsident wird er den erzwungenen Frieden leichter überleben als die Fortsetzung eines erfolglosen Krieges. Immerhin gibt es jetzt schon einen – wenn auch nur einen einzigen – Hinweis darauf, dass Verhandlungen zwischen Russen und Amerikanern hinter den Kulissen bereits im Gange sein könnten. Auf einer Pressekonferenz vom 14. 10. in Astana, Kasachstan, gab Wladimir Putin vor zwei Tagen überraschenderweise bekannt, dass er keine weiteren schweren Schläge gegen die ukrainische Infrastruktur plane – zwei Tage nachdem er diese in einem bisher unbekannten Ausmaß bombardierte. Dies ist der Grund, warum ich diesen optimistischen Artikel schreibe.

Und die Ukraine? Präsident Zelensky ist ein seltener Glücksfall an Klugheit und Besonnenheit. Wer hätte so etwas damals geahnt, als er sich als Spaßvogel der Nation in die Politik verirrte? Natürlich musste er nach Beginn des Krieges darauf bestehen, dass die Ukraine auch nicht einen einzigen Zoll des eigenen Territoriums hergeben würde. Die Krim und den Donbass, alles würde sie zurückerobern – das ist bis heute der politisch verordnete Refrain. Hätte Zelensky gewagt, diese Forderung als unerfüllbar zu bezweifeln, dann würden ihn seine Mitstreiter längst als (jüdischen!) Verräter aus dem Amt gejagt haben. Ganz anders ist es aber, wenn Joe Biden ein Machtwort spricht, dann sind alle aus dem Schneider – auch Zelensky. Die Bevölkerung und ihr Präsident werden zwar lauthals protestieren – aber alle sind sich bewusst, dass nicht nur jeder Protest sinnlos ist, da die Ukraine den Krieg nur so lange führen kann, wie die Amerikaner ihr die dazu nötigen Waffen liefern. Im Grunde werden alle – trotz der verbalen Proteste – aber auch überglücklich sein, dass dieser mörderische Krieg endlich ein Ende hat. Sobald die Russen nicht länger bombardieren und die USA keine Himars-Raketenwerfer mehr schicken, ist der Frieden gesichert.

Warum sollen wir nicht an ein Wunder glauben oder zumindest an die Vernunft, aber auf jeden Fall an handfeste, unabweisbare Interessen? Wenn es die Verhandlungen, wie ich glaube, hinter den Kulissen tatsächlich gibt, dann müsste ihr Ergebnis allerdings vor dem achten November verkündet werden – nur dann ergeben sie einen Sinn für den amerikanischen Präsidenten.

(Einen Tag nach Abfassung dieses Essays bin ich schon weniger überzeugt. Kiew wurde erneut angegriffen. Von den billigen iranischen „Kamikaze-Raketen“ scheint sich Russland eine Wende zu seinen Gunsten zu versprechen. Außerdem würde Putin seinem Gegner im Weißen Haus vor dem 8. November einen größeren Gefallen erweisen als dieser umgekehrt ihm. Daran könnten etwaige Verhandlungen scheitern.)

Peter R. Neumann (Autor des sehr empfehlenswerten Buches Die neue Weltunordnung) schreibt:

Liebe Herr Jenner,

vielen Dank für Ihre Mail. Es freut mich sehr, dass Ihnen mein Buch so gut gefallen hat. Danke fürs Kaufen und vor allem fürs Lesen!

Was Ihren Text zur Ukraine angeht, sympathisiere ich mit Ihrem Vorschlag, aber befürchte, dass keine der beiden Seiten bereits an diesem Punkt angekommen ist. Kompromisse werden möglich, wenn beide Seiten ein „schmerzhaftes Patt“ empfinden, wenn also Verhandeln lohnender erscheint als weiter zu kämpfen. Ich habe leider nicht das Gefühl, dass Putin und Selenski bereits an diesem Punkt angelangt sind. Die Lösung könnte tatsächlich so aussehen wie von Ihnen skizziert, aber würde Putin natürlich innenpolitisch erheblich in Bedrängnis bringen. Ich befürchte also, dass es einige Zeit noch so weiter geht wie bisher.

Vielen Dank nochmals und beste Grüße

Ihr PN 

Gerhard Hanappi schreibt:

Lieber Gero Jenner!

Dieser Vorschlag für den Frieden trifft sich mit meinen eigenen Einschätzungen und Vorschlägen, siehe attachments.

Mit freundlichen Grüßen

Hardy