Der Fall Sarrazin – Cancel Culture auf deutsche Art

……. Der Konflikt zwischen gefühlsgeleiteten Hoffnungen und den Einsprüchen der Vernunft lässt sich zwar entschärfen, aber er wird nie vollständig aufgehoben. Die Vernunft bremst, während Hoffnung selbst das Unmögliche leidenschaftlich begehrt. Im besten Fall führt dieser Kampf zu einem Unentschieden. Das Mögliche wird verwirklicht, das Unmögliche erfolgreich abgeschmettert. In letzter Zeit hat dieser beständige Kampf aber auch in Deutschland dazu geführt, dass der Beamtenstab – seit Preußen das kompetente Rückgrat des Staates – gestutzt oder in seiner Macht beschnitten wurde, weil Regierungen lieber den bezahlten und oft willfährigen Sachverstand privater Unternehmen mieten, um ihre Entscheidungen zu begründen. Tatsächlich würde ja auch nichts wesentlich Neues entstehen können, wenn eine Routine, die üblicherweise mit Vernunft gleichgesetzt wird, sämtliche Projekte gewagter Neuerung sabotieren darf. Als bewegende Kraft sehen sich Mensch und Gesellschaft immer nur dann, wenn sie zu fernen Ufern aufbrechen und dabei alles eingefahrene Handeln überwinden.

Der Zwiespalt, der aus dem Gegensatz von kühler Vernunft und leidenschaftlichem Wollen erwächst, ist mit größter Eindringlichkeit nach der Veröffentlichung im Jahre 2010 von Deutschland schafft sich ab ausgebrochen. Wie konnte es dazu kommen? Auch seine vielen Feinde haben – soweit mir bekannt – nie bestreiten können, dass Thilo Sarrazin eine vorbildliche Beamtenlaufbahn absolvierte. Niemand hat ihm nachzuweisen ver­mocht – obwohl alle genau dies später versuchten -, dass er in seiner Tätigkeit etwas anderes als das Allgemeinwohl im Auge hatte. Meines Wissems hat ihm auch niemand falsche Zahlen, leichtfertige oder gar populistische Äußerungen vorzuwerfen vermocht. Sarrazin stützte sich durchgehend auf wissenschaftliche Untersuchungen, die vorher keinerlei Aufsehen erregten. Allenfalls konnte man berechtigte Kritik an der einen oder anderen seiner Schlussfolgerung geltend machen. Aber für alle seine Schriften gilt, dass sie an faktischer Verlässlichkeit und Sicherheit des Urteils teilweise weit über dem Niveau seiner Gegner liegen.

Wie war es möglich, dass dieser Mann dennoch zum verhassten Feindbild aufrückte? Ich glaube, dass nur die hier zur Rede stehende Paradoxie darauf eine Antwort gibt. Wunschbilder – unsere Gefühle – sind eine mächtige und sehr oft auch eine wirklichkeitsgestaltende Kraft. Nach dem Kriege wollte Deutschland mit aller Kraft Scham und Schuld der Nazizeit überwinden – vor allem die mörderische Rassenideologie. Die Überwindung dieses unseligen Erbes forderte daher einen radikal anderen Umgang mit Fremden, also auch mit den vielen Migranten, die Deutschland schon aufgenommen hatte oder noch aufnehmen würde. Sehr viele, vor allem junge, Menschen waren bereit, sich für Fremde auch unter persönlichen Opfern einzusetzen. Sie haben dies, wie die warmherzige Aufnahme im Jahre 2015 bewies, auch wirklich getan. 

Sarrazins Buch wirkte da wie eine kalte, allen Enthusiasmus erstickende Dusche. Dem in die Zukunft zielenden, auf Veränderung drängenden Wollen stellte er Fakten entgegen – unbestreitbare Fakten -, die er aus der Vergangenheit schöpfte. Danach war das Zusammenleben mit Fremden oft problematisch verlaufen. Warum sollte es gerade jetzt anders sein? Hier standen sich Wissenschaft und hoffendes Wünschen in aller Unversöhnlichkeit gegenüber. Die eine kann immer nur auf vergangene Tatsachen verweisen, die sie in die Zukunft extrapoliert; das Wünschen dagegen sieht seine Mission darin, das Vergangene in einer ganz anderen, neuen Zukunft zu überwinden. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel gab ein treffendes Urteil ab. Sie nannte Sarrazins Buch „wenig hilfreich“. Tatsächlich ist für das vom eigenen Wollen und Wünschen getriebene Handeln – das eines Individuum wie das einer Gesellschaft – der Blick auf die Vergangenheit selten hilfreich. Skeptische Einsprüche können alles Handeln vollständig lähmen und haben das oft genug auch getan.

Aber ist das ein Einwand gegen die Wissenschaft? Soll sie deswegen schweigen? Dürfen wir uns von jedem Wunschbild leiten lassen, auch wenn es uns – wie so oft in der Geschichte – ins Abseits oder sogar wie Adolf Hitlers Rassenideologie in den Abgrund führt?

Niemals ist von vornherein erwiesen, ob der Wille zu einer neuen Zukunft, diese Zukunft auch tatsächlich hervorbringen wird. Im Falle Deutschlands bedeutet dies, dass es nach wie vor keineswegs ausgemacht ist, ob den Deutschen das ersehnte harmonische Zusammenleben mit den vielen von ihnen aufgenommenen Fremden gelingen wird, oder ob nicht umgekehrt die von Sarrazin aus vergangener Erfahrung im eigenen und in anderen Ländern abgeleiteten Schlüsse weiterhin gelten werden. Ob Deutschland einen anderen Weg einschlagen wird als Frankreich oder England, scheint zumindest zweifelhaft, etwa wenn man Sarah Wagenknecht (2021) liest.  Nach vier Jahren Recherche, zu der er /Bernard Rougier, der am Zentrum für Arabische und Orientalische Studien an der Sorbonne lehrt/ seine Studenten undercover in die Vorstädte geschickt hatte, legte er Ende 2019 eine 353 Seiten starke Arbeit über „Die eroberten Territorien des Islamismus“ vor. Darin beschreibt er, wie Salafisten und andere radikale Moslemgruppen französische Viertel unter ihre Kontrolle bringen und wie in den betroffenen Wohngebieten ein von der französischen Gesellschaft weitgehend abgeschottetes Paralleluniversum entstanden ist, in dem die westliche Lebensart als verwerflich gilt und weiße Franzosen als Eindringlinge betrachtet werden…  In Großbritannien tragen immer mehr Frauen mit Vorfahren aus Bangladesch einen Schleier, obwohl das in Bangladesch gar nicht üblich ist… An diesem Beispiel wird auch klar, dass das Anliegen gar nicht darin besteht, an Bräuchen und Traditionen der Herkunft festzuhalten, sondern die Praktiken ausdrücklich dazu dienen, sich von der einheimischen Bevölkerung abzugrenzen. Und Wagenknecht schließt mit der Bemerkung: Was von vielen Linksliberalen als Multikulturalität schöngeredet wird, ist in Wahrheit das Scheitern von Integration.*1*

Eines ist daher auf jeden Fall sicher: Wunschvorstellungen, die alle Erfahrung missachten, können kein brauchbares Leitbild für menschliches Handeln sein. Sarrazin hatte nicht nur ein Recht, sein Buch zu schreiben – als überdurchschnittlich gut informierter Zeitgenosse hatte er sogar die Pflicht dazu. Denn die politisch Verantwortlichen dürfen sich nie ausschließlich an bloßen Hoffnungen orientieren. Sie müssen darüber im Bilde sein, welche Hindernisse ihnen die bestehenden Institutionen oder auch die öffentliche Meinung entgegenstellen.

Am Beispiel Sarrazin offenbarte sich auf exemplarische Weise die Paradoxie von vergangenheitsbezogener Vernunft und zukunftgerichtetem Wollen. Beide Pole sollten gleich mächtig sein, nie einer allein die Überhand gewinnen. Hätte sich die deut­sche Politik damals stark genug gefühlt, alle (in der Öffentlichkeit bestehenden) Widerstände mühelos zu überwinden, dann wäre die Reaktion auf Sarrazin sicher nicht so heftig und bösartig ausgefallen. Man hat diesen Mann „fertiggemacht“, man wollte ihn „canceln“, weil man sich selbst und dem eigenen Erneuerungswillen nicht wirklich traute. Es ging darum, den Widerspruch bei sich selbst zu überwinden, indem man dafür ein symbolisches Opfer suchte.

1 Folgende Feststellung Wagenknechts könnten auch aus der Feder Sarrazins stammen: Selbstgerechtigkeit… wirft… Licht auf… einen weiteren typischen Zug des Lifestyle-Linken: eine moralisch unantastbare Haltung zu zeigen ist für ihn wichtiger, als seine Anliegen auch umzusetzen. Die richtige Gesinnung wiegt schwerer, als das Richtige zu tun. Oder der Satz: Wer von der eigenen Regierung erwartet, sie solle sich in erster Linie um das Wohl der hiesigen Bevölkerung kümmern und diese vor internationaler Dumpingkonkurrenz und anderen negativen Folgen der Globalisierung schützen – ein Grundsatz, der unter traditionellen Linken selbstverständlich war – gilt heute als nationalsozial, gern auch mit der Endung -istisch. Trotz dieser offensichtlichen mentalen Überschneidungen sollte man aber den Gegensatz nicht übersehen. Der ehemalige Berliner Senator hat sich in der Öffentlichkeit immer zurückgenommen. Dagegen betreibt Sarah Wagenknecht mit unverkennbarer Hingabe eine nicht selten grelle mediale Selbstinszenierung. Kein Wunder, dass der wohl größte Meister in dieser Kunst, Wladimir Putin, sie deshalb auch heute noch in den Bann schlägt – selbst nach dem barbarischen Überfall auf die Ukraine. Überhaupt lässt diese begabteste deutsche Linkspopulistin sich gern von ihrem Wunschdenken leiten, was dann dazu führt, dass ihr Realitätssinn bisweilen empfindlich darunter leidet. Umgekehrt vergisst Sarrazin zu leicht, dass Individuen und Gesellschaft nur lebendig bleiben, solange Wünsche und Hoffnungen sie beseelen.

Auszug aus meinem neuen Buch Am Anfang war – am Ende ist das Wort. Der ewige Kreislauf von Idealen und Paradoxien (Kindle Ausgabe).

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