Spieglein, Spieglein an der Wand – Wer sind die Tüchtigsten im Land?

Die längste Zeit der Geschichte war diese Frage eher leicht zu beantworten. Das höchste Ansehen genossen Menschen, die den Sinn der Welt und des Lebens erklärten. Das waren vor allem Priester und Weise, denn der Sinn lag im Ratschluss der Götter oder der ewigen Ordnungen der Natur, welche ihrerseits richtiges moralisches Handeln auf Seiten der Menschen bedingten. Weltliche Herrscher konnten sich nur dann eines gleich hohen Ansehen erfreuen, wenn man sicher war, dass sie ihrerseits dem Auftrag der Götter folgten. Nicht selten fielen weltliche und spirituelle Macht daher zusammen. Theokratien erhoben den Anspruch, die Weisungen höherer Mächte unmittelbar zum Wohle der Menschen in die Tat umzusetzen.

Dieser Bezug auf Moral und den Willen höherer Mächte galt in den drei größten Zivilisationen Eurasiens, in China ebenso wie in Indien und in Europa. In Indien waren es die Brahmanen, in China die Literaten-Gouverneure, in Ägypten die Priester, welche das größte Ansehen bei der Bevölkerung genossen. Im christlichen Abendland war es bis zur französischen Revolution die Kirche, welche über alle politischen Wechsel und Wandlungen hinweg den Menschen einen weltanschaulichen Halt, ein Verständnis der Wirklichkeit nicht nur gab sondern es ihnen als verbindliche Lehre verordnete. Ihre Aura von Ansehen und Macht beruhte nicht zuletzt auf besonderem Können: Bis in die Neuzeit waren es vor allem Priester und Mönche, welche die magische Kunst des Lesens und Schreibens beherrschten.

Doch nirgendwo auf der Welt wurden dieses Verständnis und seine Vermittler vorbehaltlos und ohne Widerspruch akzeptiert. Immer schon gab es Zweifel und Gegenstimmen, doch gelangten diese während der vergangenen zehntausend Jahre niemals zu einem dauerhaften Durchbruch. Dazu kam es erst nach der fossil-industriellen Revolution. Dann aber ereignete sich dieser Wandel gleichsam über Nacht. Von da an gab das Spieglein an der Wand eine ganz andere Antwort: Die Tüchtigsten wurden ausgetauscht.

Allerdings war diese Revolution nicht unvorbereitet gekommen. Zwar beanspruchte die moralische und religiöse Welterklärung weiterhin ewige Gültigkeit, aber durch zunehmende Relativierung hatte sie unter Intellektuellen bereits viel Rückhalt verloren. Seit Ende des 15. Jahrhunderts hatten Handel, Kriege und Reisen die verschiedenen Kulturen Europas, Asiens und der Neuen Welt einander näher gebracht. Man warf den Blick über die eigenen Grenzen und musste erkennen, dass die Menschen jenseits von ihnen andere Götter und heilige Schriften verehrten und anderen Moralvorschriften gehorchten. Die Vielgötterei der Hindus relativierte den atheistischen Geisterglauben der chinesischen Elite, und beide zusammen wiederum die Vorstellungen der Christen oder Muslime. Jede Kultur, so schien es, setzte ein eigenes Weltverständnis und eigene Moralgebote voraus. Wie sollte man den Anspruch eines Brahmanen auf absolutes, durch die Veden garantiertes Wissen noch glauben, wenn sein muslimischer oder christlicher Kollege denselben Anspruch aufgrund der Bibel oder des Koran ganz genauso erhob? In Europa ließ diese wechselseitige Relativierung spätestens seit dem 16. Jahrhundert den traditionellen Glauben und mit ihm auch den an seine jeweiligen Vertreter rapide schwinden – vor allem im Italien der Renaissance (siehe Jacob Burckhardt).

Denn schon bald kam ein anderes Wissen auf, das in den Menschen zum ersten Mal die Hoffnung erweckte, die bestehende Welt konkret verändern und sie noch dazu verbessern zu können, aber ohne dass man sich dabei auf eine dieser vielen widerstreitenden Glaubenssätze stützen oder gar verlassen müsste. Das war ein neues Wissen, das nicht von moralischen Überzeugungen oder philosophischen Grundsätzen abhängig war, sondern von der Natur. Diese aber war über alle Grenzen hinweg dieselbe; ihre Gesetze konnten daher auch von allen Menschen in derselben Weise erkannt und zu ihrem Nutzen verwendet werden. Das magische Spieglein, in dem man die Wahrheit suchte, setzte nun einen ganz anderen Menschenschlag als Priester und Mönche an die Spitze, nämlich die Erfinder von technischen Apparaten – ein Menschenschlag, der bis dahin so wenig gegolten hatte wie alle übrigen Handwerker und praktisch tätige Menschen. Nicht länger von den Erklärern des Sinns sondern von diesen Praktikern erhoffte man sich eine Veränderung und Verbesserung der Welt.

Es ist kein Zufall, dass Francis Bacon im Zeitalter Shakespeares (über dessen Gottlosigkeit sich Leo Tolstoi so sehr beklagte), diese Vision einer menschengemachten neuen Welt, in seiner unvollendeten Utopie „Nova Atlantis“ auf unheimlich modern erscheinende Weise zum ersten Mal explizit formulierte und darin das kommende Paradies der industriellen Gesellschaft beschwor – ganze zweihundert Jahre vor ihrer tatsächlichen Genese! „Wir haben auch eine Mechanikerwerkstatt“, heißt es bei ihm, „wo es Maschinen und Werkzeuge für jede Art von Triebwerken gibt. Dort versuchen wir raschere Antriebe zu erzeugen, als ihr sie bei euch habt, sei es mit euren kleineren Pulverbüchsen, sei es mit irgendeiner anderen Maschine… Wir ahmen dort auch den Vogelflug nach und haben gewisse Stufen und Startplätze, um gleich geflügelten Tieren durch die Luft fliegen zu können… Wir haben Schiffe und Nachen, die unter dem Wasser fahren und so die Stürme des Meeres leichter aushalten können…“ (Bacon, 1638).

In Nova Atlantis ist in der Tat eine völlig neue Welt entstanden. Nicht länger werden dort jenen Menschen Statuen aus Stein oder Bronze errichtet, welche den Sinn des Leben erkunden, sondern Vorzüglichkeit und Größe werden an den vielen kleinen technischen Gadgets gemessen, die sie erfunden haben. Es bedurfte fast eines halben Jahrtausends, bis diese neue Sinnvorstellung von einem großen amerikanischen Ökonomen auf folgende Weise auf den Punkt gebracht und zugleich persifliert worden ist. John Kenneth Galbraith schrieb. „Wenn ein Mensch versucht, eine bessere Mausefalle zu entwickeln, ist er die Verkörperung des Unternehmertums; wenn er versucht, nach einer besseren Gesellschaft zu fragen /also nach dem Sinn/, hält man ihn für verrückt.“ So ist es. Zuerst wurden die Erklärer des Sinns beiseitegedrängt, schließlich hielt man sie nicht nur für überflüssig sondern für schädliche Störenfriede, kurz für verrückt.

Francis Bacon und selbst die Französische Revolution taten sich mit „Mausefal­len“ allerdings immer noch schwer. Der materielle Fortschritt durch vermehrte Erkenntnis und Beherrschung der Natur blieb vorerst noch bloßes Gedankenspiel – die Energiequellen waren dafür noch allzu begrenzt. Zwar gab es seit Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrtausends in weiten Teilen Europas schon Wasser- und Windmühlen und in England zusätzlich oberirdisch geförderte Kohle, das aber waren denn auch die einzigen Quellen neben der uralten Muskelkraft von Mensch und Tier. Dieses magere Energiepotenzial reichte gerade aus, um sich eine andere Welt in der Fantasie vorzuträumen – nicht um sie tatsächlich herbeizuführen.

Der eigentliche Durchbruch wurde daher auch nicht durch diese prophetischen Gedankenspiele sondern erst durch die fossil-industrielle Revolution des späten achtzehnten Jahrhunderts bewirkt. Erst seit dieser Zeit wurden die unterirdischen Energiereserven entdeckt und angezapft: die gespeicherte Sonnenkraft von Milliarden Jahren. Das war die entscheidende Wende. In kürzester Zeit konnte der Mensch nun zum ersten Mal von sich behaupten, eine nahezu unbegrenzte Herrschaft über die Natur zu erringen, zumindest über die eigene Heimat, den Planeten. Und die Folgen waren spektakulär. In zweihundert Jahren wurden das Antlitz der Erde und das Zusammenleben mit anderen Arten weit einschneidender und folgenreicher verändert als selbst durch die neolithische Revolution vor zehntausend Jahren. Kein Wunder, dass das Spieglein an der Wand dem Fragenden auf einmal eine ganz andere Antwort erteilte als in der ganzen voraufgegangenen Geschichte. Die Tüchtigsten und die Vorbilder – das waren von da an Wissenschaftler, Ingenieure und Erfinder. In der neuen fossil-industriellen Gesellschaft von Nova Atlanta waren es sie, die den Ton angaben. Aus den Träumereien eines Francis Bacon wurde zwei Jahrhunderte nach seiner Zeit alltägliche Realität. Den Technikern und Erfindern, den Grundlagenforschern und überhaupt allen, die sich auf die neue Heilslehre der Naturwissenschaften beriefen, wurden Statuen errichtet und die höchsten Ehrungen zuteil. Das Nobelkomitee in Schweden ehrt nicht etwa Philosophen, Priester oder andere Sinnerklärer sondern in erster Linie Menschen, welche die Natur erkennen und sie tätig verändern. Demgegenüber behaupten Religion und Kunst nur noch eine Nebenrolle. Das trifft auch noch auf ihren säkularen Ableger zu: die Philosophie und die Geisteswissenschaften. „Philosophie“, sagt der US-amerikanische Psychologe und Bestseller-Autor Steven Pinker, „wird nicht mehr respektiert. Viele Wissenschaftler sehen darin ein Synonym für kraftlose Spekulation.“ Und an anderer Stelle: „(Amerikanische) Universitäten investieren immer weniger in Geisteswissenschaften. Seit 1960 ist deren Anteil auf die Hälfte geschrumpft, Gehälter und Arbeitsbedingungen stagnieren“ (Pinker 2003).

So gesehen ist die Bezeichnung der neuen Heilslehre als Wissenschaft eigentlich irreführend. Richtiger wäre es von einer Tatenschaft zu sprechen. Gerade Priestern und Philosophen war ja vor allem das Wissen vorrangig erschienen. Die Natur dagegen betrachteten sie als fertiges Werk, das der Mensch so fraglos hinnehmen sollte, wie Gott es geschaffen hatte. Aus ihrer Perspektive war es eine Anmaßung, an Gottes Natur Änderungen vorzunehmen (der seltsame Doppelgänger von Francis, der Mönch Roger Bacon wurde im 13. Jahrhundert von seinen Oberen noch dafür bestraft, dass er Experimente anstellte). Erst die neue Natur-Tatenschaft zielte von Anfang an über das bloße Wissen hinaus: Mit ihrer Hilfe sollten die Menschen von nun an die Welt aktiv verändern. Praktischer Erfolg, das war der höchste und eigentliche Sinn der neuen Tatenschaften, wie ein großer österreichischer Physiker treffend erkannte. Bei Ludwig Boltzmann lesen wir: „Nicht die Logik, nicht die Philosophie, nicht die Metaphysik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern die Tat. Darum halte ich die Errungenschaften der Technik nicht für nebensächliche Abfälle der Naturwissenschaft, ich halte sie für logische Beweise. Hätten wir diese praktischen Errungenschaften nicht erzielt, so wüssten wir nicht, wie man schließen muss. Nur solche Schlüsse, welche praktischen Erfolg haben, sind richtig.“

Dieser praktische Erfolg stand prinzipiell jedem Menschen offen. Anders als die Heiligen Schriften, die nur den Eingeweihten und Lesekundigen zugänglich waren, liegt das Buch der Natur ja offen vor aller Augen, jeder konnte darin lesen und daraus lernen. Anders gesagt, waren jetzt alle Menschen dazu aufgerufen, sich an der ständigen Veränderung, Umgestaltung und Revolutionierung der physischen Welt zu beteiligen. Als sich nach dem Ende des 18. Jahrhunderts das Füllhorn der fossilen Energie erst über Europa und danach über mehr und mehr Nationen zu ergießen begann, wurde die Erkundung und Beherrschung der Natur zu einem kollektiven Menschheitsprojekt, das mit unglaublicher Schnelligkeit alle früheren verdrängte. Wenn wir mit Darwin den Erfolg einer Spezies an ihrer Reproduktionsrate messen, dann ist die Menschheit seit ihrem Bestehen nie so erfolgreich gewesen wie seit Ende des 18. Jahrhunderts. Seit jener Zeit hat sich ihre Zahl um das Siebenfache vermehrt – bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird ihre Zahl voraussichtlich den zehnfachen Wert erreichen.

Warum war die neue Heilslehre der Tatenschaften so viel erfolgreicher als alle früheren Ideologien? Zwei Eigenschaften müssen wir, wie ich meine, an die Spitze setzen. Einerseits das Merkmal der potenziell unendlichen Extension: die Erkundung der Naturgesetze und deren praktische Anwendung kennt keine Grenzen – sie lässt sich bis ins Unendliche ausweiten und fortsetzen, sogar noch weit über den begrenzten Lebensraum des Menschen hinaus bis in die Grenzenlosigkeit des extraterrestrischen Kosmos. Zweitens, aber kann diese neue Methode von allen bisherigen Kulturen und sogar von tödlich verfeindeten Ideologien übernommen werden. Denn ihr zweites wesentliches Merkmal besteht darin, weder auf ästhetischen noch moralischen Kriterien zu beruhen. Ihrem Wesen nach ist die Erkundung der Natur außer-moralisch und trans-ästhetisch, daher überwindet sie mühelos alle noch vorhandenen kulturellen Grenzen. Mongolische Schamanen, indische Gurus, die Anhänger von ISIS und die Zeugen Jehovas haben gleich wenig Hemmung, moderne Gadgets wie Handys und Computer zu verwenden.

So konnte es dazu kommen, dass sieben und bald schon zehn Milliarden Menschen ihren höchsten Daseinszweck darin erblicken, die in Milliarden Jahren gewachsene erste Natur im Eiltempo in eine zweite künstliche zu verwandeln: eine künstliche Apparatewelt. Wir sind die Zeugen eines exponentiell beschleunigten Prozesses der Stoffumwandlung, wir können auch sagen der Naturverdauung, bei dem wir wachsende Mengen an natürlichen Ressourcen zuerst in unendlich viele Maschinen und anschließend in Müll transformieren – Müll, der die Luft (CO2), die Meere (Plastik) und den Boden (Pestizide) vergiftet.

Noch bis vor einem halben Jahrhundert wurde dieser Prozess als Befreiung von den Zwängen der Natur gefeiert, als Aufschwung und gefeiertes Wunder von einem nie endenden Wachstum, an dessen Ende die Verheißung eines irdischen Paradieses stand: ein garantiert besseres Leben für alle. Erst heute erkennen wir, wie illusionär diese Hoffnung war und dass wir uns statt auf das Paradies eher auf die Hölle zubewegen. Denn die fossile Revolution hat eine exponentielle Lawine in Gang gesetzt, deren zwangsläufige Wirkung, wenn wir sie nicht rechtzeitig bremsen, in der vollständigen Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen besteht. Auf einmal erkennen wir, dass Wissenschaft und Technik, eben weil Moral in ihnen grundsätzlich keine Rolle spielt, ebenso das bessere Leben wie sein genaues Gegenteil, das Ende allen Lebens, bewirken können. Um nur bei einem einzigenBeispiel zu bleiben. Immer noch feiern wir die Entdeckung der Atomenergie als überragende geistige Leistung (was sie zweifellos ist), aber dass die Menschheit aufgrund dieser Erkenntnis Gefahr laufen könnte, ihr eigenes Ende herbeizuführen, diese Einsicht wird wie ein Tabubruch ausgeblendet, als wäre es unerlaubt, das reine Wissen in Zusammenhang mit seinen praktischen Folgen zu bringen.

Doch genau darin besteht das Versagen der neuen Tatenschaften. Wir schließen die Augen vor ihren Folgen, als würden wir unsere geistigen Leistungen dadurch entweihen. So haben wir eine Welt geschaffen, wo in Millionen von Laboren und sogar in privaten Mansarden und Garagen nicht nur über nützliche Mausefallen geforscht wird sondern ebenso über chemische, biologische und nukleare Massenvernichtungswaffen. Die Erweiterung unseres Wissens von der Natur und deren Beherrschung ist zu einem Ziel an und für sich geworden – wie früher einmal die Erkenntnis Gottes. Die Tüchtigsten, die Pioniere, die Vorbilder, die das Nobelpreiskomitee alljährlich mit den höchsten Preisen belohnt, das sind nach heutigem Weltverständnis all die Millionen Tatenschaftler, die – ohne es zu merken oder gar zu wollen – im Begriff sind, durch unzählige Eingriffe in den Kreislauf des Lebens unseren Globus zunehmend unbewohnbar zu machen, wenn sie nicht gar die Instrumente schaffen, um uns final in die Luft zu sprengen.

Gewiss – ohne Wissenschaft und Technik kommt die Welt nicht mehr aus, aber mit Wissenschaft und Technik, wie sie den Globus krakenartig umschlingen, ruinieren wir das Klima, zerstören die Böden, fressen die Landschaften, töten schließlich auch noch das Leben in den Ozeanen. Müsste uns die unheimliche Progression nicht dazu motivieren, erneut nach dem Sinn des Ganzen zu fragen und Tüchtigkeit neu zu definieren? Nicht die Erfinder von „Mausefallen“ können uns retten – im Gegenteil, sie manövrieren uns immer weiter in Richtung Kollaps – sondern nur jene angeblich „Verrückten“, die beharrlich nach dem Sinn dieses außer Rand und Band geratenen Unternehmens fragen.

Ja, die Wissenschaften berufen sich auf die Wahrheit und haben damit neue, unwiderrufliche Maßstäbe gesetzt, aber Wahrheit darf sich nicht länger nur auf die außermoralische, trans-ästhetische Erkenntnis der Natur beziehen; sie muss im Gegenteil danach fragen, was Forschung und Technik für den Menschen und die Natur bedeuten. In der Rüstung, wo schon bloßes Versehen die Auslöschung der Spezies beschwört, verlieren sie ihren Wert für den Menschen. Da sind sie nicht bloß außer-, sie sind eindeutig amoralisch. Und sie verlieren ihren Wert für die Natur, wenn sie das Gleichgewicht des Globus ruinieren: biologische Kreisläufe und jene Schönheit, die wir einst an der „Schöpfung“ bewunderten. Es ist Zeit, höchste Zeit, dass das Spieglein an der Wand uns wieder eine andere Antwort gibt. Nein, die alten Sinnerklärer, die Priester und Mönche, wünschen wir uns nicht zurück sondern eine neue Generation von Menschen mit einem Blick für das Ganze, für die Weisheit des Lebens und die Liebe zur Natur. Solange wir Tüchtigkeit nicht neu definieren, besteht wenig Hoffnung auf eine bessere Welt.

Alexander Dill schreibt:

Lieber Herr Jenner,

ein herausragender Essay, der mich an Eric Voegelin und seine Schüler erinnert („Politik, Wissenschaft und Gnosis“, 1955), die ein aristotelisches Weltbild des natürlichen Seins, das die Ordnung sozusagen in sich trägt, der platonisch-hegelianisch-marxistisch-kapitalistischen Fortschritts-Hybris entgegensetzten, ganz im Sinne der chinesischen Tradition des Wu-Wei (Nicht-Tun), in der wir die chinesische Haltung zum Ukraine-Konflikt verstehen können.

Peter Sloterdjik nennt den neuen Zustand das Anthropozän.

GJ: Der Begriff stammt allerdings von Paul Crutzen.

Mein Social-Engineering in der UN – Sie lehnen ja leider Links ab – ist ein Versuch, das Tun und Gestalten auf eine sozial-geistige Ebene zu bringen, in der Naturzerstörung und Krieg nicht als zivilisatorischer Fortschritt dargestellt werden, wie es nun leider die Grünen in Deutschland tun.

GJ: Die Grünen stellen den Krieg als zivilisatorischen Fortschritt dar?

Wir haben jahrzehntelang die positive Wirkung einer konservativen Schicksalsunterwerfung, wie die Religionen sie predigten, unterschätzt.

GJ: Ich glaube nicht, dass wir die Schicksalunterwerfung schätzen sollten, aber natürlich die Erhaltung von Leben und Umwelt.

Wir waren nicht fortschrittlich, sondern zerstörerisch und blöd.

GJ: Wir waren wohl beides, würde ich sagen, das macht unsere Aufgabe so sehr viel schwieriger.

Herzlicher Gruß von Ihrem linklosen Alexander Dill

Prof. Karl Acham (Soziologe) nimmt auf meine Stellungnahme zu einem seiner Artikel und zu dem vorliegenden Essay Bezug.

Sehr geehrter, lieber Herr Jenner!

Leider erst etwas verspätet kann ich auf Ihr freundliches Schreiben vom 7. April antworten und zu dessen Inhalt kurz Stellung nehmen.

Welche Umwege doch so ein Internet-Beitrag macht: von Graz nach Brasilien und wieder zurück in die Nähe von Graz! Dass er dort wohlwollend aufgenommen wurde, freut mich. Es handelt sich bei jener Abhandlung um die Vorlage eines im Jahre 2003 ins Japanische übersetzten Zeitschriftenbeitrags.

Ich habe natürlich umgehend Ihren Beitrag gelesen, und das mit großer Zustimmung. Er nimmt ja ebenfalls seinen Ausgang von dem notorisch aktuellen Problem des historischen und kulturellen Relativismus (Historismus), um dann festzustellen, dass „Wahrheit“ eigentümlich gesplittet ist: auf moralische Ziele und einen noch umfassenderen Sinn bezogen ist sie einerseits prekär, weil über die intersubjektive Geltung von Werten und Normen nicht herstellbar; andererseits ist sie auf Aussagen der Logik und der Erfahrungswissenschaft bezogen intersubjektiv überprüfbar. In jenem Fall wird eine nur faktische Geltung (die zum Beispiel durch die Majorität garantierte Durchsetzbarkeit) von Werten und Normen behauptet; in diesem Fall eine auf die Ideale von Gewissheit und Exaktheit gegründete Richtigkeit. Die Frage, wie die beiden Bereiche von Kultur auf der einen, von Logik und Natur auf der anderen einem ihnen gemeinsamen Wahrheitsbegriff zugeordnet bzw. unterstellt werden können, ist noch nicht beantwortet. 

Ich finde Ihr Bemühen sehr konstruktiv, die Konsequenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in den Blick zu nehmen, damit aber auch das mögliche Leid künftiger Generationen, wenn nicht sogar der gegenwärtig Lebenden. Denn durch diese Aufweisungsanalysen kann immerhin der Frage nach der Geltung von Werten und Normen eine Wendung gegeben werden. Diese kann m. E. darin bestehen, dass – ähnlich wie im Falle des „negativen Utilitarismus“ von Karl Popper – zwar zugestanden wird, nicht intersubjektiv gültig festlegen zu können, worin „Glück“ besteht, jedoch zeigen zu können, was Unglück ist. Dessen Evidenz wiegt schwerer als alle Unsicherheiten und Ambivalenzen der Normendiskussion. (Vielleicht ist „Evidenz“ ein zu suggestiver Ausdruck, da es schließlich auch Meinungsunterschiede in Bezug auf das geben kann, was man unter „Unglück“ verstehen will – spätestens wenn Blut fließt und wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, haben wir es hier jedoch nur mit Sophismen zu tun.)

Ich möchte hier enden, um nicht allzu langatmig zu werden. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Ausführungen.

Noch etwas, gewissermaßen als Nachtrag: Ich habe erst jüngst Ihren Ende März erschienenen Beitrag „Schachmatt!“ einem meiner Freunde und Kollegen weitergeleitet. Er, der sich immer mit Fragen von Geschichte und Politik aus der Sicht der historischen Soziologie befasste, hat sich über Ihre Überlegungen sehr zustimmend geäußert.

Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Jenner, für ihre weiteren Aktivitäten alles Gute und Gleiches für die bevorstehenden Festtage.

Mit herzlichen Grüßen

Karl Acham