Peter Michael Lingens – ehrlich oder doch nur „seriös“?

In Deutschland kennen allenfalls einige Eingeweihte Peter Michael Lingens oder die Wiener Wochenzeitschrift „Der Falter“, in der er als hochgeachteter Journalist seine wöchentlichen Beiträge schreibt. Das Problem von Seriosität und Ehrlichkeit ist nördlich der Alpen aber nicht weniger akut. Man könnte es, so scheint mir, geradezu als eines der Hauptprobleme unserer Zeit ansehen. So gesehen ist es mehr als dem bloßen Zufall geschuldet, dass ich gerade dieses Blatt und den genannten Autor wähle, um ein grundsätzliches Problem aufzuzeigen.

Ohne Übertreibung darf man behaupten,

dass der Wiener Falter für die österreichische Demokratie eine lebenswichtige Aufgabe erfüllt – er stemmt sich mit aller Kraft gegen die Orban-isierung des Landes. Sebastian Kurz, der derzeitige Kanzler der Republik, zeichnet sich durch überlegene Intelligenz, souveränes Auftreten und, so würde ich sagen, sogar durch persönliches Charisma aus. Das verleiht seiner Politik ein besonderes Gewicht, denn er hat aus seiner Bewunderung für Orban, den ungarischen Potentaten jenseits der Grenze, nie ein Geheimnis gemacht. Natürlich ist dieser Kanzler viel zu intelligent, um sich offen für eine „illiberale Demokratie“ auszusprechen, aber in der Praxis geht er genau in diesem Sinne vor. Während seine Regierung alle ihr gefälligen Printmedien mit großzügigen Anzeigen fördert, man kann auch sagen, besticht und durch Bestechung gefügig macht (ein demokratiepolitischer Skandal, denn sie tut das natürlich auf Kosten der Steuerzahler) ist der Falter auf die Einnahmen durch die verkauften Exemplare angewiesen. Man kann sich denken, wie prekär auch in diesem Fall die Stellung des kritischen Geistes ist.

Die Artikel von Peter Michael Lingens

habe ich immer mit besonderer Aufmerksamkeit und oft auch mit Bewunderung gelesen, weil er zu der bedrohten Spezies jener Journalisten gehört, die außer den beiden Kontrastfarben Schwarz und Weiß auch noch die dazwischenliegenden Grautöne erkennen. Die eigenen Gesinnungsgenossen in den Himmel zu loben, Andersdenkende zu schmähen oder sie in die Hölle zu verdammen – das ist die große Leidenschaft unserer Zeit. Aber das ist nicht Peter Lingens Sache. Er bemüht sich um Gerechtigkeit – genau das macht ihn in meinen Augen so liebenswert. In diesem Bestreben geht er manchmal sogar bis an die Grenzen des Zumutbaren. So etwa hat er in mehreren seiner Artikel die Wirtschaftspolitik eines Donald Trump ausdrücklich gelobt. Wer nicht weiß, dass er den pathologischen Lügner genauso verurteilt wie die anderen Autoren des Blattes, hätte diese Stellungnahmen bei oberflächlicher Lektüre als einen Sympathiebeweis auffassen können. Auch wenn er über die Türkis-Schwarzen in der derzeitigen Regierung spricht, lässt er sich diesen Sinn für Gerechtigkeit nicht durch Protest vernebeln. Lingens erinnert seine Leser daran, dass auch die Sozialdemokraten, als sie die Macht besaßen, keineswegs zimperlich vorgegangen waren. Peter Lingens wird in seinen Stellungnahmen zur Politik gerade dadurch so glaubwürdig, dass sein Sinn für Gerechtigkeit ihn stets daran mahnt, auch die Schwächen jener aufzuzeigen, denen seine eigentliche Sympathie gehört.

Dennoch: seine Ehrlichkeit hat Grenzen

und diese sind durch Seriosität abgezirkelt. Der Falter setzt sich für die Erhaltung der Demokratie ein. Seine besten Journalisten, Florian Klenk und Arnim Thurnherr, sind wie Spürhunde unterwegs, um aufzuzeigen, wie auf Betreiben der derzeitigen Regierung die Unabhängigkeit der Justiz unterminiert, Postenschacher betrieben und Medien bestochen werden. In Autokratien wie Russland oder China ist all dies längst geschehen: die Medien sind kaltgestellt, die Justiz ist von der Regierung abhängig, die wichtigsten Posten werden von oben per Weisung vergeben. In globaler Perspektive ist aber auch die Demokratie bedroht – auch und gerade in einigen jener Staaten, die ihr noch bis vor kurzem als Aushängeschild dienten. In den USA, dem vermeintlichen Vorbild und Verteidiger demokratischer Institutionen, wäre sie beinahe einem Überfall aus dem Hinterhalt zum Opfer gefallen: dem Sturm auf das Kapitol.

Peter Lingens ist leider im Recht,

wenn er das Vorgehen des rechten Teils der derzeitigen Regierung mit ähnlichem Machtgelüsten unter der Sozialdemokratie vergleicht. Das Vorgehen des rechten Lagers ist eben kein historisch einzigartiger Sonderfall. Auch in Demokratien waren die jeweils Mächtigen, und zwar gleichgültig ob linker oder rechter Observanz, stets bestrebt, ihre Macht auszudehnen und sie, wenn möglich, zu perpetuieren. Im Unterschied zu heute gab es allerdings bei der Bevölkerungsmehrheit und in regierungsunabhängigen Institutionen wie der Justiz, der Presse etc. einen starken Rückhalt für die Einhaltung der demokratischen Spielregeln. Es ist dieser Rückhalt, der seit einiger Zeit zu erodieren scheint. Ein charismatischer, hochintelligenter und begabter junger „Führer“ wie der derzeitige österreichische Kanzler könnte ihn sehr wohl in Frage stellen und ungarische Verhältnisse auch in Österreich einführen. Genau aus diesem Grund sind Zeitschriften wie der Wiener Falter für die Demokratie überlebenswichtig.

An diesem Punkt kommt die Seriosität

ins Spiel. Regierungskritische Zeitschriften haben nur dann eine Chance, wenn sie unbedingt seriös sind. Jeder offensichtliche Fehler wäre eine willkommene Blöße für ihre Gegner. Eine Zeitschrift, die sich gegen die Regierung stellt, also gegen die herrschende Macht einschließlich der Mehrheit der übrigen Medien, muss unangreifbar sein. Das ist sie aber nur, solange sie sich auf dasjenige Thema beschränkt, wo ihre Position schwer angreifbar ist, eben auf die Verteidigung der Demokratie und ihrer Institutionen. Dagegen sollte sie nach Möglichkeit alle Themen umschiffen oder auch ganz vermeiden, wo heftige und gut begründete Attacken sie so beschädigen könnten, dass man ihr Hauptanliegen nicht länger ernst nimmt. Ein solches Thema ist die Klimakrise.

Die Klimakrise ist ein neuralgischer Punkt

denn genau hier stellt sich die im Titel genannte Frage von Ehrlichkeit oder Seriosität. Was darf ein Herr Lingens sagen und was wird er auf keinen Fall sagen dürfen, wenn die Seriosität des Falters gewahrt bleiben soll?

Mancher mag diese Frage schon auf den ersten Blick für abwegig halten. Bei uns gibt es doch keine Zensur!, wird man mir entgegenhalten, gerade ein Intellektuellenblatt wie der Falter setzt sich doch aufs Schärfste gegen alle ihre möglichen Formen zur Wehr. Ich bin auch überzeugt, dass keiner der Starjournalisten, weder ein Florian Klenk noch Armin Thurnherr, einem Journalisten ihres Blattes bestimmte Denkinhalte vorschreiben. Sie werden nur eben keinen Artikel erscheinen lassen, der ihr Blatt in Gefahr bringen könnte, auch wenn er der Sache nach völlig richtig ist. Dieser verinnerlichte Imperativ genügt, um zu erklären, was ein Peter Michael Lingens zu einem heißumstrittenen Thema wie der Klimakrise sagen darf und was nicht. Oder – formulieren wir es etwas schärfer – was diesen sonst so ehrlichen Mann dazu zwingt, die Wahrheit zu verschleiern und uns stattdessen Halbwahrheiten aufzutischen.

Halb- und Unwahrheiten – das wäre an und für sich nichts Besonderes; in der Boulevardpresse sind Lügen viel zu alltäglich, als dass man sich noch besonders darüber ereifern könnte. Doch wenn man selbst den Falter und selbst einen so hervorragenden Journalisten wie Herrn Lingens davon nicht freisprechen kann, dann gewinnt dieser Fall eine paradigmatische Bedeutung. Er beleuchtet eine tiefgreifende Krise, die nicht nur das Klima sondern mindestens ebenso die Art betrifft, wie wir darüber reden und reden dürfen.

Die Behauptung der Unwahrheit wäre ungeheuerlich

ohne die entsprechende Begründung, die ich zugleich konkret und allgemein halten möchte, weil es sich um Unwahrheiten handelt, zu denen sich eben auch der Falter – von Blättern geringeren Rangs ganz zu schweigen – genötigt sehen. Herr Lingens hätte drei Möglichkeiten gehabt, um über die Klimakrise zu reden. Zwei davon sind „seriös“ in dem speziellen Sinne, dass er das Blatt dadurch nicht beschädigt, die dritte Alternative ist ehrlich, aber nicht seriös. Sie würde das Blatt in ernste Schwierigkeiten bringen.

Beginnen wir mit der Alternative eins,

die Herr Lingens nicht gewählt hat. Er hätte nahezu beliebig viele Experten zitieren können, um seinen Lesern zu zeigen, welche Strategie gegen die Klimakrise auf keinen Fall in Frage kommt: die Aufrüstung mit Atomkraftwerken, um fossile Energien zu ersetzen. Seit Tschernobyl wissen wir, was ein GAU anrichten kann, seit Fukushima weiß die Welt, dass selbst ein Land der Hochtechnologie wie Japan ohnmächtig gegen die Folgen atomarer Verseuchung ist. Das strahlende Material wird dort gerade in den Pazifik geleitet – mit unabsehbaren Folgen. Nirgendwo gibt es einen absolut sicheren Ort zur Aufbewahrung des strahlenden Rückstände. Würde man die fossil betriebenen Kraftwerke sämtlich durch atomare ersetzen, würde dies zu einer Vervielfältigung der Rückstände und der damit verbundenen nuklearen Verseuchung führen. Österreich und Deutschland haben gutgetan, aus der Atomenergie auszusteigen. Die wenigsten wissen aber – offenbar auch Herr Lingens nicht – dass dieser Weg in den kommenden Jahrzehnten auch jenen Staaten aufgezwungen sein wird, die weiterhin an der atomaren Produktion von Strom festhalten. Denn die Lager für Uran sind weitgehend ausgeschöpft; der heutige Bedarf wird vor allem aus demontierten Atomsprengköpfen gespeist. In dem Augenblick, wo auch dieser Vorrat aufgebraucht ist, wird man wieder Uran abbauen müssen, aber der natürliche Abbau ist schon jetzt außerordentlich teuer. Irgendwann wird er so viel Energie verschlingen, wie man anschließend aus dem Uran gewinnt (Ugo Bardi, 2013, S. 94ff).

So hätte Lingens – auf international anerkannte Experten gestützt – argumentieren können. Anschließend hätte er dann seine Leser mit der Perspektive beschwichtigt, dass das grüne Lager – dem ja seine Sympathie gehört – die richtige Antwort schon seit langem verkündet. Die erneuerbaren Energien müssen zügig ausgebaut werden und Elektroautos an die Stelle der fossil betriebenen Diesel und Benziner treten. Damit wäre das Problem dann grundsätzlich gelöst. Die meisten Leser des Falters hätten diese Antwort für seriös gehalten. Das Blatt hätte dadurch auf jeden Fall gewonnen; selbst in Wirtschaftskreisen ist die Atomlobby nicht stark genug, um den Falter deswegen als ein wirtschaftsfeindliches Blatt zu diskreditieren.

Herr Lingens hat Alternative zwei gewählt,

die für den Falter jedenfalls riskanter ist, da sie einen nicht geringen Teil seiner Stammleser irritieren muss. Wie schon gesagt, wer seine Artikel sorgfältig liest, weiß, dass er der grünen Partei große Sympathie entgegenbringt. Gerade daraus leitet er aber das Recht ab, sie ohne Wenn und Aber zu kritisieren. So nimmt er in seinem jüngsten Artikel das Credo der Grünen aufs Korn, wonach die Umstellung des Verkehrs auf das Elektroauto uns die erhoffte Zukunft der Nachhaltigkeit eröffnet. Er bezieht sich dabei auf eine Expertise, die – durchaus schlüssig – beweist, dass für die nächsten Jahrzehnte die Versorgung mit grünem Strom nicht im Entferntesten ausreichen wird, um nach einer vollständigen Umstellung alle Elektroautos damit zu versorgen. Selbst Österreich gewinnt nur etwa ein Drittel seines primären Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen (nicht 80 Prozent wie Lingens schreibt). Betreibt man die Autoflotte aber mit fossilem Strom, dann wird sich der CO2-Ausstoß natürlich nicht vermindern.

Wenn man bedenkt, dass der Übergang zur elektrischen Mobilität

für die Grünen eines der zehn Gebote ist, an die man unbedingt glauben muss, um zu den Ihren zu zählen, dann stellt dieser Artikel nicht weniger als eine frontale Attacke dar. Natürlich ist Lingens auf diesem Gebiet kein Experte; wie jeder von uns muss er sich auf die vorhandenen Expertisen verlassen. Er verlässt sich auf ein Buch des Technikers und Bloggers Kai Ruhsert. Aber er hätte auch eine international geschätzte Autorität wie den ehemaligen Präsidenten des Münchner ifo Instituts Hans-Werner Sinn zitieren können, der in seiner Kritik an den Versprechungen der Grünen noch viel weiter gegangen ist. In einer speziellen Studie hat der renommierte Wirtschaftswissenschaftler nachgewiesen, dass grüne Energien die deutsche Wirtschaft in ihrer jetzigen Form nicht aufrechterhalten können – die Kosten für die Speicherung des ja immer nur zeitweise eingespeisten Solarstroms seien schlicht unbezahlbar – selbst für ein reiches Land wie Deutschland. Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Die grüne Wende führt ins Nichts“. Tatsächlich muss Deutschland eine Parallelstruktur von weitgehend gasbetriebenen kalorischen Kraftwerken betreiben, um die Ausfälle des Solarstroms zu kompensieren. Kein Wunder, dass der Ausstieg aus Kohle und Kernkraft bisher keine Reduktion der CO2-Belastung gebracht hat.

Herr Lingens vertritt einen von der Wissenschaft

gut abgesicherten Standpunkt. Anders als die Grünen uns gerne glauben machen, wird die Klimakrise nicht auf so einfache Art überwunden, dass wir nur alle auf Elektroautos umsteigen – und schon leben wir in einer besseren Welt. Aber es genügt nicht, eine Illusion als solche zu entlarven. Kein Journalist kann bei bloßer Verneinung stehenbleiben. Nach dieser harschen Kritik am Credo der Grünen ist der Leser verunsichert und will von Herrn Lingens wissen, was er denn, bitte schön, stattdessen zu bieten habe: irgendetwas müssen wir doch tun! Diese Frage ist unabweisbar, ganz gleich, ob es sich um ein Boulevardblatt oder ein intellektuelles Medium wie den Falter handelt. Anders gesagt, ist Herr Lingens gezwungen, darauf eine Antwort zu geben. Man erwartet sie von ihm. Andernfalls hätte er zu dem Thema schweigen müssen. Ich glaube, sein Schweigen wäre für ihn selbst und den Falter die bessere Wahl gewesen.

Herr Lingens spricht sich nämlich für den Atomstrom aus

Das gelingt ihm auch ohne Vorbehalte, weil er die vielen Expertisen, die entschieden dagegensprechen, schlicht übersieht. Sie interessieren ihn nicht, können ihn nicht interessieren, denn nach der Kritik an den Grünen muss er seinen Lesern eine positive Perspektive bieten. Wie offensichtlich der Wunsch der Vater seiner Gedanken wird, erhellt aus einem weiteren Artikel, wo Herr Lingens sich nicht davor scheut, diese Lösung mit Wunderkräften auszustatten, von denen nur er selbst etwas weiß. Er will nämlich wissen, dass „preisgünstige Atom-Kleinkraftwerke nicht nur sehr sicher sind, sondern auch ohne „Endlager“ auskommen, weil sie ihren Abfall zum Fort-Betrieb nützen.“

Den Abfall zum Fort-Betrieb nutzen? Lingens erklärt die neuen Meiler zu einer Art perpetuum mobile, wo sich der ewige Betrieb aus den eigenen Exkrementen speist. Wer hat ihm diesen albernen Unfug aufgeschwatzt? Verwechselt er sie mit schnellen Brütern, den gefährlichsten Atommeilern überhaupt? Und woher bezieht er die abwegige Meinung, dass bloße Verkleinerung diese Kraftwerke sicherer macht? Das Gegenteil ist der Fall. So wie die neuen Mini-Atomsprengköpfe die Schwelle zum Atomkrieg abgesenkt haben, so vervielfältigen kleine Atomkraftwerke das Risiko terroristischer Übergriffe. Den nuklearen Abfall vermindern sie natürlich auf keinen Fall, zehn kleine Meiler produzieren davon eben insgesamt so viel wie ein großer. Die Erschöpfung der noch vorhandenen Uranvorräte können sie nur beschleunigen.

Mit dieser zweiten Alternative

hat Herr Lingens dem Falter keinen Dienst erwiesen. Indem er einfach einen Teil der Evidenz – die Argumente gegen den Atomstrom – souverän missachtet und sich dabei zu lächerlichen Behauptungen versteigt, hat er das Niveau der Diskussion über die Maßnahmen gegen die Klimakrise bedenklich abgesenkt. Sein Beitrag ist unehrlich, allerdings ist er immer noch „seriös“ (im oben beschriebenen Sinn), weil er dem Falter nicht ernsthaft schaden kann. Die Atomlobby wird sich darüber freuen. Und für eine regierungskritische Zeitschrift ist es von überlebenswichtiger Bedeutung, dass sie zumindest einen Teil der Wirtschaft auf ihrer Seite hat.

Kommen wir jetzt zu Alternative drei,

die sich dadurch von den beiden vorangehenden grundlegend unterscheidet, dass sie dem Falter großen Schaden zufügen würde, denn diese These ist radikal – und weder Deutsche noch Österreicher lieben das Radikale, auch dann nicht wenn es die reine Wahrheit ist. Wie diese Alternative beschaffen ist, wird der aufmerksame Leser bereits ahnen. Einerseits besagen gut dokumentierte Expertisen, dass die von den Grünen vorgeschlagene Strategie uns vor der Klimakrise nicht retten wird. Andererseits beweisen uns ebenso gut begründete Studien, dass eine Renaissance der Atomkraftwerke keine Lösung ist. Und damit wird es wirklich gefährlich, denn der Leser will jedenfalls wissen, was denn überhaupt noch zu tun bleibt, wenn die Grünen Illusionen statt Hoffnung verbreiten und wenn die scheinbar einfachste Lösung, die „saubere“ Versorgung mit Atomstrom, schon gar nicht in Frage kommt. Alternativen eins und zwei sind unehrlich, weil sie einen Teil der Wahrheit bewusst unterschlagen. Aber sie sind „seriös“, weil Wirtschaft, Politik und eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit noch am ehesten mit ihnen leben können und bereit sind, sie auch gegen die Evidenz der Experten zu glauben. Alternative drei ist ehrlich in dem Sinne, dass sie nichts vom Wissen der Experten verschweigt. Was ich meine, möchte ich mit einem Seitenblick auf einen großen deutschen Intellektuellen verdeutlichen.

Hoimar von Ditfurth

veröffentlichte 1985 ein Buch, das niemals in Druck gegangen wäre, hätte sein Verfasser nicht eine so große Autorität und auch Beliebtheit bei einem breiten Publikum genossen. Ein enzyklopädisches Wissen verband dieser Mann mit der seltenen Fähigkeit, selbst schwierige Probleme so zu erhellen, dass sie auch für Laien verständlich blieben. Anders als in Ländern mit langer demokratischer Tradition pflegt man in Deutschland dieses Vermögen eher geringzuschätzen. Eine unverständliche Sprache war und ist das Vorrecht der Experten wie im Mittelalter der Gebrauch des Latein ein Vorrecht der Priesterschaft. Von Ditfurth sprach und schrieb darüber hinaus noch ein schönes Deutsch. Jedenfalls wurde „Es ist so weit – so lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“ gedruckt und rückte zu einem Bestseller auf, der für einen kurzen Augenblick halb Deutschland erstarren ließ, denn die Botschaft des Buches war ungeheuerlich. Es war ein grundehrliches Buch, welches – in einer bis zum heutigen Tag unübertroffenen Weise – schon vor 35 Jahren alle existenziellen Probleme auflistete, welche die Menschheit gegenwärtig bedrohen. Von Ditfurth hielt die Situation für ausweglos.

Ich kann mich noch erinnern, wie eine Radioreporterin ihn fragte, ob er es denn verantworten könne, der jungen Generation durch diese apokalyptische Vision alle Hoffnung zu nehmen? Die Frage schloss die Antwort bereits ein – das Buch war radikal und daher eigentlich nicht „seriös“, so etwas sollte man nicht verbreiten. Gewiss, wie alle Bücher des großen Gelehrten war auch dieses hervorragend recherchiert. Es ist, soweit mir bekannt, bis heute in keinem wesentlichen Punkt relativiert oder gar widerlegt. Nur das Waldsterben ist heute weniger eine Folge des sauren Regens als des Klimawandels (Trockenheit und Feuer) sowie der Vernichtung der Wälder für Ölplantagen und MacDonald-Rinder. Dennoch: seine Radikalität wurde dem Buch zum Verhängnis. Das Publikum, einschließlich der meisten Experten, wollte von einer so niederschmetternden Vision nichts wissen. Man beeilte sich, auch den Autor schnellstens zu vergessen. Auf die berechtigte Frage der Leser: Aber was sollen wir denn tun?, gab von Ditfurth keine Antwort.

Keine Situation ist jemals ausweglos,

in diesem Punkt wünsche ich Hoimar von Ditfurth zu widersprechen. Es gehört zur Freiheit des Menschen, dass er in jeder Situation auch noch anders als gewohnt handeln kann. Aber von Ditfurth hatte recht damit, dass unsere Situation geschichtlich einmalig ist, und dass alle gewohnten Rezepte in dieser neuen Lage versagen. In einem gewaltigen Fest, einem Potlatsch – so möchte ich es ausdrücken – hat der Mensch innerhalb von nur drei Jahrhunderten das fossile Energiereservoir von Millionen Jahren schon nahezu verfeuert und dabei Luft (CO2), Wasser (Plastikmüll in den Meeren) und Boden (mit Kunstdünger und Pestiziden) so sehr vergiftet, dass eine aus dem Gleichgewicht gedrängte Natur sich nun an ihm rächt. Es ist zwar wahr, dass ein Großteil der Menschen gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einen materiellen Lebensstandard erreichte wie nie zuvor in der Geschichte. Doch jetzt erkennen wir, wie hoch der Preis ist, den wir für dieses Fest zahlen müssen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts leben wir in einer Reparaturgesellschaft. Zum sicheren Untergang, wie von Ditfurth meinte, sind wir zwar nicht verurteilt – aber gewiss zu einem sehr wahrscheinlichen, wenn es uns nicht gelingt, das Ruder herumzureißen. Und das kann heute nur noch auf radikale Art geschehen. Das Ende des großen Potlatsch bedeutet Verzicht, und zwar radikalen Verzicht – wenn nicht heute, dann eben erzwungenerweise morgen. So sieht die dritte Alternative aus, von der bei Peter Lingens aus gutem Grund keine Rede ist. Man muss die Vokabel Verzicht nur laut genug aussprechen, um von allen Seiten mit empörtem Protest bombardiert zu werden. Die Grünen nehmen die heiße Kartoffel gar nicht erst in den Mund, stattdessen machen sie den Wählern illusionäre Versprechen. Es leuchtet ein, warum ein Journalist wie Peter Michael Lingens sich lieber auf unehrliche Art zum Propagandisten der Atomkraft macht, statt das Wort Verzicht in den Mund zu nehmen. Und wir verstehen, warum ein Artikel, der uns die bittere, radikale Wahrheit sagt, im Falter – noch nicht – abgedruckt werden kann. Die innere Zensur verhindert das.

Die Wahrheit lässt sich aber nicht dauerhaft unterdrücken

Das sollte auch Lingens wissen. Er ist eine Autorität, wenn er sich auf sein in langer Erfahrung gereiftes psychologisches Gespür verlässt. Hier weiß er die Spreu sicher vom Weizen zu trennen, also die politischen Gaukler von jenen, die an mehr als nur an das eigene Ego und die eigene Laufbahn denken. Da verzeiht man ihm selbst die gelegentliche Neigung, dozierend ex cattedra zu sprechen, so als hätte er sich bereits in sein eigenes Standbild verwandelt. Denn seine Beobachtungen über heutige und frühere Politiker sind immer erhellend und von großer Treffsicherheit. Lingens ist ein Menschenbeobachter, ein Mann der Praxis. Es zeichnet ihn aus, dass er dazu auch noch mutig ist. Aus einer Familie von Widerstandskämpfern stammend, ist er als Freund Simon Wiesenthals nicht einmal davor zurückgeschreckt, dem großen Kreisky Paroli zu bieten.

Was die Theorie angeht,

hat er sehr viel weniger Glück. Wenn jemand sich im Kampf für moralische Werte nichts aus Attacken macht, dann bewundert man eine solche Haltung als Charakterstärke. Ganz anders ist es, wenn jemand theoretisiert und sich nichts aus Argumenten macht, die seine Position in Frage stellen. Dann spricht man nicht von Charakterstärke sondern von Dogmatismus. Das eine ist ein Kompliment, das andere ein berechtigter Tadel. Lingens Aussagen zur Wirtschaftstheorie sind oft auf schwer erträgliche Art dogmatisch und, wie wir sahen, mangelt es seinen Empfehlungen zur Überwindung der Klimakrise an der nötigen Ehrlichkeit. Wenn er über Politik spricht, ist Lingens ein Kenner und hat es nicht nötig, mit Aplomb aufzutreten. Dann gehorcht er nur seinem Gerechtigkeitssinn, z.B. wenn er den Rückhalt der autoritären FiS-Regierung in der Bevölkerung Polens damit begründet, dass sie die neoliberalen Maßnahmen ihrer Vorgänger durch eine Politik des sozialen Ausgleichs ersetzte. Wenn er aber als Theoretiker in Erscheinung tritt, hat er genau dies nötig: er kompensiert die eigene Unsicherheit durch den Schein von Unfehlbarkeit.*1*

1  Herr Lingens ist ein schlechter Theoretiker – wenn dies ein persönlicher Angriff ist, wird Herr Lingens sich damit abfinden müssen, da er es seinerseits liebt die Meinungen anderer recht dezidiert als ahnungslos und dumm zu diskreditieren – vor allem, wenn er seine ökonomischen Dogmen vertritt. So wie die Verteidigung der Atomenergie seit kurzem zu seinem intellektuellen „Markenzeichen“ zu werden droht, hat Lingens sich, wenn er als Ökonom auftritt, mit Enthusiasmus für die Staatsverschuldung eingesetzt. Er geht dabei so weit, sogar das Graben und Zuschütten von Löchern zu empfehlen. Ihm zufolge belebt der Staat dadurch immer das Wirtschaftsgeschehen (die betreffende Stelle mit den Löchern scheint er inzwischen jedoch gelöscht zu haben). Um seinen Standpunkt zu erhärten, sucht er auch in diesem Fall nach Wundern. Ähnlich wie er bei der Atomenergie das perpetuum mobile erfindet, dient ihm eine geheimnisvolle „Saldenmechanik“ dazu, der Verschuldung – speziell der Staatsverschuldung – Zauberkraft anzudichten. Saldenmechanik, das ist die schon jedem Erstsemester in BWL geläufige Tatsache, dass den Schulden immer ein gleich hoher Betrag an Guthaben entspricht. Genau darin liegt aber für undogmatische Linke das große Problem, denn in normalen Zeiten müssen die Schulden mit Zinsen zurückgezahlt werden, machen die Armen also ärmer und die Reichen reicher. Im Augenblick leben wir in einer Ausnahmezeit: die Realzinsen liegen unter Null, doch das kann sich jederzeit ändern.

Lieber Herr Lingens, wäre das wirklich ein Patentrezept, dann könnte sich jeder „failed state“ an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herausziehen. Er müsste sich nicht einmal mit Fremdkapital verschulden, er brauchte nur Geld zu drucken und es zu verteilen. Selbst wirtschaftliche Laien wissen jedoch, dass Schulden nur dann sinnvoll sind, wenn sie zu Investitionen führen, mit deren späterem Ertrag man zumindest die Schulden bezahlt. Das gelingt selbst Unternehmen nicht immer; Staaten scheitern sehr oft daran, weil das aufgenommene Geld meist nur verwendet wird, um Wahlgeschenke zu verteilen, die wenig oder gar keinen Ertrag ergeben. Dann haben nur kommende Generationen – und zwar gerade der ärmste Teil der Bevölkerung! – unter der Last der Schulden zu leiden. In einem Punkt hat Herr Lingens allerdings recht. Es war richtig, dass der Staat bei der Abwehr der Coronakrise nicht zögerte, viel Geld in die Hand nehmen. Diese Schulden erwirtschaften zwar keinen Ertrag, aber sie haben einen Großteil der verheerenden Folgen (also Ertragsminderungen) abgewehrt, welche die Wirtschaft ohne diese Verschuldung erlitten hätte.

taz-Journalist Andreas Zumach schreibt:

Ehrlich oder seriös ist aber das falsche Gegensatzpaar. Lingens Plädoyer für die Atomkraft ist weder ehrlich noch seriös.

Gruß

Meine Replik:

Sein Plädoyer ist seriös in dem vor mir formulierten Sinn, dass viele an die von ihm vorgeschlagene Lösung glauben, während eine Botschaft des Verzichts und radikalen Umbaus unserer Wirtschaft nur wenige Anhänger zählt und von einer Mehrheit immer noch für unseriös gehalten wird. Da können Experten wie Herman Daly, William Rees oder auch Naomi Klein sich mit noch so guten Argumenten dafür verbürgen. Noch ist die Situation nicht dramatisch genug, um auch den Zweiflern die Augen zu öffnen. Erst wenn das der Fall ist, wird man die Ehrlichen auch als seriös bezeichnen.

Herr Voss aus Odense, Dänemark schreibt folgenden Kommentar:

S.g.H. Jenner,

Ich habe Ihren wie immer elegant und wichtigen Aufsatz an meinen in Wien lebenden Sohn geschickt. Aber trotzdem kann ich nicht anders, als mich kritisch zu verhalten. Zumach bezeichnet das Wortpaar Ehrlich oder Seriös als nicht ganz passend als Gegensatz. Was aber, wenn Atomkraft, die mir auch zuwider ist, in einer der neueren Formen unumgänglich wird? Wenn wir daran denken, dass mit der Sonnen-. und Windenergie der Welt sowohl der gesamte  Verkehr, alle Computer und Alternativvalutas, die Gebäudeerwärmung und –Beleuchtung usw. betrieben werden soll und indirekt Treibmittel für die Schifffahrt, das Fliegen und wahrscheinlich den Lastwagentransport hergestellt werden müssen, dann zweifle ich an der durchführbarkeit dieses gewaltigen Vorhabens. Und was mit der Produktion von Metallen, Zement, dem Ausgraben von allerlei Grundstoffen? Wird die Menge von gewissen Stoffen für die Batterien, für das Leitungsnetz für die Bereitstellung von Strom allerorten und in dem benötigten Umfang ausreichen ohne gewaltige Preisschübe zu generieren? Und die Löhne nicht folgen? Weil ja, wie Sie meinen, keine Schulden gemacht werden sollten? Irgendwann wird die Makroökonomische Buchhaltung doch noch studiert werden müssen. Und vieles wird sich dann als Sinnlos erweisen.

Mit freundlichem Gruss

Peter Voss

Meine Replik:

Lieber Herr Voss,

wie Sie aus meiner Antwort an Herrn Zumach erkennen, habe ich dem Begriff „seriös“ eine ironische Färbung gegeben!

Wenn es stimmt, dass die Menschheit vor ihrer größten Krise steht (aber genau das wollen ja viele nicht wahrhaben, solange ihnen das Dach nicht über den Köpfen brennt), dann muss sie auch Maßnahmen von einmaliger Schärfe ergreifen. Ich fasse dies unter dem Begriff „Verzicht“ zusammen. Sie fragen, was wir uns darunter konkret vorstellen sollen. Gehen dann die Lichter aus? Werden die Menschen verhungern, weil man ihnen keine Löhne mehr zahlt? Sie haben schon Recht: Was nützt es uns, die Natur zu schützen, wenn wir uns dadurch unserer ökonomischen Lebensgrundlage berauben?

Diese Fragen habe ich in meinem Buch Ob wir das schaffen? (englisch: Yes, we can – No, we must!) zu beantworten versucht. Verzeihen Sie, dass ich die Antwort nicht an dieser Stelle zu zwei Sätzen verkürzen kann.

Übrigens bin ich durchaus nicht gegen Schulden. Die moderne Wirtschaft beruht auf ihnen und hat damit spektakuläre Erfahrungen gemacht. Nur müssen es ökonomisch sinnvolle Schulden sein.

Robert Menasse schreibt folgende Zeilen:

Glänzend! Mit einem schweren Makel: den Retro-Ökonomen Hans-Werner Sinn als „Autorität“ ins Treffen zu führen, wirft einen langen Schatten des Zweifels über die „Seriosität“ der Argumentation.

Meine Replik:

Lieber Robert,

danke für das Kompliment.

Jetzt aber lass mich antworten, wie es in ähnlichen Situationen auch Lingens getan hat, den ich ja nur in seiner Eigenschaft als Theoretiker kritisiere. Herr Sinn ist einer der großen Ökonomen Deutschlands, ein Mann, der nicht davor zurückschreckt, auch Unpopuläres zu sagen, wenn er meint, dass die Fakten ihm keine andere Wahl gestatten. Diese Fähigkeit hat er gerade auch in seiner Studie über die Finanzierung der Grünen Wende bewiesen. Vergiss bitte nicht, dass ich Herrn Lingens gerade dafür schätze, dass er neben Schwarz und Weiz auch noch Grautöne kennt.