Das Wunderbare und seine Feinde (2)

Demokratische Antignosis

In diesem Buch möchte ich den Leser dazu ermuntern, seinen Blick für das Wunderbare zu schärfen. Mein Vorgehen wird allerdings nicht darin bestehen, Autoritäten zu zitieren oder Behauptungen aufzustellen. Vielmehr soll meine Anleitung darin bestehen, das eigene Denken anzuregen. Selbständiges Denken ist das Vorrecht jedes Menschen, jeder kann sich darauf einlassen und jeder dabei gewinnen, wenn er sich in diesem Prozess von herrschenden Vorurteilen oder angesagten Tabus befreit.

Ausdrücklich appelliere ich daher an ein demokratisches Vermögen, denn das reine Denken ist keine Fähigkeit, welche Experten für sich beanspruchen dürfen. Das reine oder elementare Denken bildet jene intellektuelle Grundlage, die auch die Grundlage allen Expertenwissens bildet. Diese Tatsache gerät nur zu leicht aus dem Blick. Gewiss – um mit Sachverstand über irgendein Gebiet der Physik, Chemie, Astronomie etc. zu reden, bedarf es eines Studiums von mehreren Jahren, und auch dann bleibt das Wissen selbst des größten Gelehrten immer noch bruchstückhaft, so immens ist inzwischen der Bereich des auf allen Gebieten Wissbaren geworden. Seit Leibniz und Voltaire gibt es den Universalgelehrten nicht mehr; dafür ist jedes individuelle Gedächtnis zu klein. Doch die Prinzipien, die allem menschlichen Wissen – und eben auch allem Expertenwissen – zugrunde liegen, sind einfach und elementar und gehören zur Auffassungsgabe jedes Menschen. Genau deswegen sind die Wissenschaften ja für alle Menschen erlernbar – alle besitzen die dafür notwendigen Voraussetzungen der „reinen Vernunft“.

Diese elementaren Voraussetzungen

sind so universal, dass nach einem Untergang der gegenwärtig lebenden Menschheit eine neue Generation, die dann wieder vom Nullpunkt beginnen müsste, Wissenschaft in Theorie und Praxis von neuem hervorbringen würde. Alle konventionellen Festlegungen wie Länge, Gewicht, Zeit, Temperatur etc. würden möglicherweise anders festgelegt werden (schon heute unterscheiden sich Celsius von Fahrenheit, Zoll von Zentimetern usw.), aber nach Umrechnung dieser konventionellen Einheiten würden die Gesetze der Natur die gleiche Form wie zuvor besitzen, und zwar aus einem naheliegenden Grund: wir abstrahieren sie aus einer außerhalb von uns selbst, unabhängig von unserem Wünschen und Wollen bestehenden Wirklichkeit.

Es ist von entscheidender Bedeutung,

diese demokratische Grundlage menschlichen Denkens hervorzuheben, denn ihr gegenüber – und diese Grundlage oft genug leugnend – stehen Ansprüche der Macht, die es in der Wissenschaft ganz genauso gibt wie in allen übrigen menschlichen Tätigkeiten. Ich sagte schon, dass sich jeder lächerlich machen würde, der sich über Details der Quantentheorie verbreitet, ohne sich das entsprechende Wissen in jahrelangem Studium angeeignet zu haben. In einem solchen Fall ist Spott nur zu berechtigt. Er wird aber zu einem Machtmissbrauch, wenn Spezialisten sich dagegen wehren, dass der Generalist die elementaren, demokratischen Grundlagen der Erkenntnis erhellt, welche allem und deshalb auch seinem Wissen zugrunde liegen. Dann schreiben sie sich ein Monopol von Wahrheit und Erkenntnis zu, dass sie genau deshalb nicht haben können, weil die Grundlagen ihres Vorgehens im Denken aller Menschen angelegt sind.

Das reine oder elementare Denken,

das man früher einmal mit dem heute eher verbrauchten Begriff der Philosophie umschrieb – führt den Menschen nicht nur zu einer wissenschaftlich verstandenen Wirklichkeit, die ihm als objektive Instanz gegenübertritt, es führt ihn genauso auch zu sich selbst. Zwar kann er auch sich selbst auf wissenschaftliche Art verstehen, nämlich wie ein Objekt, da er aus demselben Stoff gemacht ist wie die ihn umgebende Natur. Für den Arzt ist mein Körper eine Maschine, die er aufgrund seiner physikalischen, chemischen, biologischen, neuronalen und psychologischen Kenntnisse zu diagnostizieren und unter Umständen zu reparieren vermag. Wenn er die Körper-Maschine wieder in ihren normalen Zustand zurückversetzt, sprechen wir von einer Heilung. Die Naturgesetze innerhalb meines Körpers unterscheiden sich nicht von den außerhalb vor mir geltenden. Deshalb haben hier Wunder ebenso wenig Platz wie in der uns umgebenden Natur. Ein Toter ist noch niemals auferstanden, ein abgeschlagener Kopf noch nie nachgewachsen, kein Mensch widersteht einem Kugelhagel.

Und doch treffen wir gerade hier auf das Wunderbare,

das den meisten Menschen nur deshalb verborgen bleibt, weil es ihnen so alltäglich, gewohnt und deshalb gewöhnlich erscheint. Die Wissenschaft geht davon aus, dass ein Stein sich in einem bestimmten Moment von der Felswand löst, weil ganz bestimmte, eindeutig festlegbare natürliche Ursachen dafür verantwortlich sind. Würden sie diese Ursachen vollständig kennen, dann wären sie in der Lage, in jedem Einzelfall genau vorhersagen zu können, wann und warum ein solches Ereignis geschieht. Auf jeden Fall können wir heute schon Ursachen und Wirkungen derart genau bestimmen, dass eine Rakete zum Mars sekundengenau gerade zu der Zeit und an dem Ort eintrifft, wie die Theorie es vorausgesagt hat. Dagegen vermag niemand – meist nicht einmal ich selbst – vorauszusagen, was ich in einer halben Stunde unternehmen werde.

Der Gegensatz zwischen dem Verhalten des Steins

und dem eines Menschen scheint auf den ersten Blick unüberbrückbar. Offenbar gehorcht der Stein sklavisch jenen Gesetzen, die wir in der gesamten Natur nachweisen. Er hat keinen eigenen Willen, keine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verändern. Er wird ausschließlich von Kräften dirigiert, auf die er selbst keinen Einfluss hat – so die Sicht der klassischen Naturwissenschaft. Inzwischen lässt die Quantentheorie immerhin gewisse Zweifel an dieser Auffassung zu. Seit sie den Zufall einführte, spricht sie dem Stein (genauer gesagt, den Elementarteilchen, aus denen er besteht) eine gewisse Eigeninitiative zu, wenn auch eine unendlich kleine. Theoretisch ist es inzwischen durchaus denkbar, dass der Stein nicht nur sklavisch äußeren Gesetzen gehorcht sondern in Einzelfällen, die Initiative zu seinem Sturz von der Felswand bei ihm selbst liegen muss, weil einige seiner Atome durch ihre erratische, unvorhersehbare Bewegung den Sturz erst ermöglicht haben…

Wie der Stein unterliegen auch der Mensch und andere Lebewesen Tausenden von Abhängigkeiten. Fehlen Kalorien in ihrer Ernährung, sterben sie an Entkräftung, mangelt es an Kalzium, dann verkümmern ihre Knochen, sind sie einem Übermaß an ultravioletter Strahlung ausgesetzt, entstehen auf der menschlichen Haut krebsartige Melanome. Überdies sind wir uns nur selten bewusst, wie eng die Grenzbedingungen unserer Existenz auf diesem Planeten tatsächlich sind. Die Luft muss einen Mindestanteil an Sauerstoff besitzen und darf ein Maximum an CO2 oder Stickstoff nicht überschreiten. Noch dazu ist der Temperaturbereich, der uns und allen anderen Lebewesen das Überleben auf Gaia ermöglicht, ein sehr enger Korridor – und überhaupt spielt sich Leben nur in einem hauchdünnen, nicht mehr als zehn Kilometer umspannenden Bereich zwischen der harten Oberfläche des Erdballs und der umgebenden Unendlichkeit ab. So gesehen, schränken die Naturgesetze mögliches Leben radikal ein. Wir sind Teil der Natur und ihren Gesetzen so unausweichlich unterworfen, dass schon geringe Änderungen an den bestehenden physischen Parametern unsere Existenz auf dem Globus vollständig auslöschen könnten.

Doch das ist keineswegs alles

Auch wenn das Leben denselben Naturgesetzen unterliegt, schließen diese Gesetze Zufall und Freiheit nicht aus. Mit sinngelenktem Wollen greifen wir beständig in die Wirklichkeit um uns ein, um sie (zum Guten oder zum Bösen) nach eigenen Wünschen zu gestalten. Diese Veränderung geschieht nicht gegen die Gesetze der Natur, aber sie lässt sich auch keinesfalls aus ihnen herleiten oder begründen.

Dies ist das Wunderbare schlechthin, denn in einer Welt, wo alles Geschehen ausnahmslos gesetzmäßig determiniert verläuft, dürfte es ein derartiges Eingreifen des Wollens auf die Welt der äußeren Dinge eigentlich gar nicht geben. Haben wir nicht eben noch festgestellt, dass das Vorgehen des Wissenschaftlers darin besteht, die Wirklichkeit – unabhängig von eigenem Wollen und Wünschen – so zu beschreiben und zu erklären, wie sie „objektiv“ also tatsächlich ist? Aber wenn diese Tatsächlichkeit (außer im interstellaren Raum jenseits unseres Globus) gar nicht besteht, weil hier auf der Erde lebende Wesen durch ihr Wollen und Wünschen in einem fort in die Wirklichkeit eingreifen und sie gestalten, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild! Das Wollen – menschliches Wollen ebenso wie das unserer tierischen Mitbewohner – ist de facto eine wirklichkeitsgestaltende Kraft neben den Naturgesetzen. Noch dazu eine Kraft von so gewaltigem Ausmaß und so immenser Energie, dass sie uns in die Lage versetzt, unseren eigenen Lebensraum in ein Paradies zu verwandeln oder ihn umgekehrt so zu vergiften und zu zerstören, dass er für alles Leben schon bald unbewohnbar sein könnte.

Solchen Einsichten von der Macht menschlichen Wollens

braucht sich der wissenschaftliche Spezialist nicht zu verschließen, dennoch gehören sie nicht zu seinem und zu keinem anderen Fachgebiet – sie gehören zum reinen, elementaren Denken, das allen Menschen gemeinsam ist. Das Wunderbare führt nicht nur zu geistiger Expansion – wie gerade gezeigt, kann es auch das Schreckliche und Bedrohliche sein. Das ist der Grund, warum es uns zugleich zu begeistern und zu erschüttern vermag. Hier liegt auch der Grund, warum es überhaupt einen Sinn macht, sich mit so grundsätzlichen Fragen zu befassen. Der Spezialist, jeder Spezialist, beschäftigt sich mit bestimmten Problemen theoretischer oder praktischer Art. Dafür wird er geachtet und honoriert. Wenn seine Leistungen das übliche Maß bedeutend überschreiten, wird er unter Umständen sogar mit dem höchsten Preis ausgezeichnet, den die heutige Menschheit zu vergeben hat, mit dem Nobelpreis. Das wirft eine wichtige Frage auf.

Was leistet ein Generalist,

wenn er auf das reine elementare Denken zurückgreift, sozusagen auf die menschlichen Anfangsgründe im Umgang mit der Natur? Wir werden sehen, dass er auf etwas völlig anderes verweist: auf die Grenzen, welche die menschliche Erkenntnis nicht zu überschreiten vermag. Grenzen – das Wort stößt im ersten Augenblick ab. Da kann leicht der Eindruck entstehen, als würde der Erkenntnis ein schlechter Dienst erwiesen. Der gelehrten Wissensgewissheit, dem Unterwerfung heischenden Wissenshochmut, wie er in jeder und vor allem gerade in unserer Zeit existiert, hält er die Grenzpfähle entgegen, über die unser Wissen und die Erklärung des Wirklichen nicht hinausgelangen.

Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass demokratische Antignosis nicht etwa nur jene zeitbedingten Grenzen im Auge hat, wie sie in jeder Entwicklungsphase durch den Stand unseres jeweiligen Wissens bedingt sind. Nein, sie spricht von grundsätzlichen Grenzen, die sich aus der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens selbst ergeben. Einer Ameise trauen wir nicht zu, dass sie eine vollständige Theorie von der Welt besitzt, ihre Sinne und Intelligenz sind ausschließlich für ihren Lebensbereich gemacht. Nach geltender Lehre ist aber auch der Mensch ein Produkt der Evolution. Wir besitzen Sinne und einen geistigen Apparat, die für die Orientierung der für uns relevanten Wirklichkeits­bereiche gemacht sind. Daraus ergeben sich offenkundige Grenzen, die wir mit unseren Sinnen teilweise überschreiten, indem wir sie durch allerlei Instrumente gleichsam verlängern. Auch unsere Vernunft können wir durch Künstliche Intelligenz quantitativ erweitern, aber wir können sie nicht qualitativ verändern, denn dann würden wir als Menschen die Künstliche Intelligenz nicht länger verstehen.

Ich spreche von demokratischer Antignosis

als derjenigen Erkenntnis, welche die eigenen Grenzen nicht nur intuitiv beschreibt sondern deren Evidenz zwingend demonstriert.*1* Demokratisch ist diese Erkenntnis, weil sie die Grundlage allen spezialisierten Wissens bildet und daher jedermann zugänglich ist. Als „Antignosis“ bezeichne ich sie, weil sie keinesfalls identisch mit jener ähnlichen Lehre ist, die sich als Agnostizismus einer langen Geschichte rühmen darf. Agnostizismus besteht in dem meist zögernden Eingeständnis, dass wir vieles nicht wissen und vielleicht nicht einmal wissen können. Agnostizismus ist ein anderes Wort für Verzicht, und der wird immer nur als Mangel erlebt und verschafft keine Befriedigung.

Dagegen weiß die Antignosis sehr viel mehr als der Agnostizismus. Sie zeigt nämlich auf, nein, sie beweist mit den Mitteln des reinen Denkens, dass menschliche Erkenntnis prinzipiell begrenzt ist, sodass wir vieles grundsätzlich nicht wissen können. Doch ist das keineswegs ein Verzicht. Es wird sich zeigen, dass darin keine Beschränkung liegt sondern die Rückkehr zu einer von Vorurteilen der Hybris befreiten Welt. Denn im Umkehrschluss zeigt die demokratische Antignosis, dass wir in einer Welt, die wir völlig enträtselt haben, weder leben könnten noch leben wollen. Eine solche Welt würde alle Horizonte blockieren und alls Freiheit ersticken. Dass eine demokratische Antignosis nebenbei auch den Hochmut der Experten in seine Schranken weist, mag manchem als erwünschte Nebenwirkung erscheinen.

1 Ich brauche nicht zu betonen, dass ich die Begriffe Gnosis und Antignosis in ihrem ursprünglichen Sinn verwende. Gnosis ist das griechische Wort für Erkenntnis, also nicht nur einer bestimmten Art der Gotteserkenntnis, welche um die Zeitwende entstand. Unter radikaler Gnosis verstehe ich den Anspruch der Wissenschaftsreligion, die göttliche Allwissenheit für den Menschen zu reklamieren. Antignosis wird damit zu einer Aufgabe einer kritischen Deutung menschlicher Erkenntnis. Wenn sie streng verfährt, dann wird daraus eine kritische wissenschaftliche Selbstreflexion.

Prof. Siegfried Wendt schreibt mir:

Lieber Herr Jenner,

beim Lesen Ihres sehr einleuchtenden Textes musste ich doch auch an die Aussage des Komödienautors und Schauspielers Curt Götz denken, der gesagt hat: „Allen ist das Denken erlaubt – vielen bleibt es erspart.“

Mit herzlichem Gruß

Siegfried Wendt

Prof. Michael Kilian schickt mir folgende Mail:

Lieber Herr Dr. Jenner,
herzlichen Dank für die Fortsetzung Ihres schönen Beitrags.
Wie sagt Shakespeare: „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt“.
Und die Bibel: Was hülfe es dem Menschen, wenn er alle Welt gewönne (= auch das Weltwissen) und nähme doch Schaden an seiner Seele. 

Anbei eine kleine Gegengabe aus jüngster Zeit, Ihr Michael Kilian