(3) Die Schatten des Wunderbaren

Jede Zeit, jedes Volk lebt von Ideen, für die es sich begeistert, für die es sich zu leben lohnt. Unsere Epoche lebt seit etwa zweihundert Jahren von der Leitidee, dass der Mensch aus eigener intellektueller Kraft die Welt nicht nur vollständig zu erkennen sondern sie auch perfekt zu beherrschen vermag. Der deutsche Philosoph Max Scheler drückte es 1926 auf folgende Weise aus: „Es ist … ein neuer Wille zur Herrschaft über Natur … in schärfstem Gegensatz zur liebevollen Hingabe an sie …, der jetzt das Primat in allem erkennenden Verhalten gewinnt. Herrschaftswille … Das Ziel und der Grundwert, der die neue Technik leitet, ist nicht der, ökonomisch oder sonst nützliche Maschinen zu ersinnen, deren Nutzen man schon vorher erkennen und abmessen könnte. Er geht auf etwas viel Höheres. Er geht auf das Ziel, – wenn ich so sagen darf -, alle möglichen Maschinen zu konstruieren, und zwar zunächst nur als Gedanken und als Plan, durch die man Natur zu irgendwelchen, sei es nützlichen, sei es unnützlichen Zwecken leiten und lenken könnte, wenn man es wünschte.“

Holt man diese Idee von dem Sockel der Erhabenheit herab, auf dem sie üblicherweise thront, dann müssten wir etwas prosaischer formulieren, dass die heutigen Menschen überzeugt davon sind, immer neue, immer erstaunlichere Apparate zu erzeugen, die ihr Leben nicht nur erleichtern, es sicherer und bequemer machen sondern mehr und mehr auch ihren Lebensinhalt bilden; die Beschäftigung mit ihnen erfüllt das tägliche Leben. Das trifft gewiss auf das Auto zu, gilt aber in besonderem Maße für die jeweils jüngsten Erzeugnisse der Technik wie Computer und Handy. Die Digitalisierung aller automatisierbaren Vorgänge ist nur der vorläufig letzte Trumpf auf diesem scheinbar unaufhaltsamen Weg technologischen Fortschritts. Der mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter soll nach Meinung der Enthusiasten den Menschen nicht nur nachahmen sondern ihn überhaupt ersetzen.

Auf eine vereinfachte Formel gebracht,

könnte man sagen, dass sich in unserer Zeit das Wunderbare in den neuesten Apparaten verkörpert sowie in dem wissenschaftlichen Denken, das ihnen zugrunde liegt. Apparate beherrschen nicht nur jene, die sie als Konsumenten passiv nutzen, sondern bestimmen auch das Leben einer wachsenden Zahl von Menschen, die als Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler aktiv für ihre Hervorbringung verantwortlich sind. Wie sehr der Traum des technologisch Fantastischen und Wunderbaren den Menschen dabei als Pate über die Schulter schaut, lässt sich an jener für unsere Zeit typischen Literatur erkennen, die solche Träume in immer größere Höhen schraubt. Natürlich spreche ich von Science-Fiction. Hier feiert die technologische Fantasie ihre weitaus tollsten Feste. Wir malen uns all die unglaublichen Geräte aus, die wir in Zukunft noch erschaffen werden, um damit auch die fernsten Winkel des Alls und unser tägliches Leben zu kolonisieren. Wir berauschen uns daran, welche Siege der neue gottgleiche Mensch – Homo Deus – noch erringen wird, nämlich Siege über eine Natur, die dabei nur noch in der Rolle eines willenlosen Sklaven erscheint.

Die Selbstbetörung durch das technisch Wunderbare

ist an ihrer Maßlosigkeit zu erkennen. Das bloße Mittel zum Zweck wird schließlich zum eigentlichen Zweck verdreht: zum Selbst- und zum Lebenszweck. Seit Erfindung von Hacke und Pflug sind Apparate sinnvoll, wenn sie das Leben erleichtern und dabei helfen, uns größere Freiheit für eine schönere, eine geistige Welt zu erschaffen. Behält man dieses letzte Ziel im Auge, bekommt Technik einen für den Menschen heilsamen Sinn. In dem Augen­blick aber, wo die Berauschung durch den technologischen Fortschritt diesen in einen Erlösungswahn und eine Obsession verkehrt, werden Technik und Wissenschaft zu einer Bedrohung: Sie wenden sich gegen den Menschen.

Dieses Stadium haben wir inzwischen erreicht. Das beweisen gigantische Unternehmungen wie die Flüge zum Mars und dessen in Aussicht gestellte Besiedelung. Dieser Planet – sowie sämtliche in erreichbarer Nähe befindliche Himmelskörper – ist eine wüstenartige Kugel, auf der menschliches Überleben nur unter einer übergestülpten Käseglocke mit künstlicher Atmosphäre überhaupt möglich ist. Menschliche Existenz lässt sich dort nur unter Bedingungen fristen, die denen von Kriminellen in einem Hochsicherheitsgefängnis nicht nur ähneln sondern sie an Härte noch übertreffen. Bisher ist es niemandem eingefallen, eine Hütte in den heißesten Teilen der Sahara zu errichten oder auf den kältesten Eisbergen in der Antarktis. Woher also der Überschwang, der selbst halbwegs vernünftig denkende Menschen dazu verleitet, sich die Zukunft in der lebensfeindlichen Hölle des Mars mit Hingabe auszumalen?

Diese Obsession, dieser seltsame Wahn lässt sich nur damit erklären, dass wir die Verdammnis mit dem Purpur der Hochtechnologie kaschieren.

Nirgendwo lässt sich so deutlich wie hier erfahren, wie sehr der moderne Mensch von Technik und Wissenschaft verhext und besessen ist. Er erklärt sich bereit, wie ein Sträfling unter unsäglichen Bedingungen zu vegetieren (das tägliche Leben auf den Raumstationen gleicht ja einer ähnlichen Tortur), sofern das nur im Namen von Wissenschaft und Technik geschieht, denn heute glauben die Menschen so an die Wissenschaft wie früher an einen seligmachenden Gott. Dieser irrationale Glaube behauptet sich selbst noch in einer Zeit, wo vieles uns darauf vorbereitet, dass unsere technische Zivilisation uns das Leben auf dem Planeten schon bald zur Hölle machen könnte.

Wenn eine Zeit sich an Idealen berauscht,

die für sie das Wunderbare repräsentieren, wird alles was diesen Rausch gefährdet und zur Ernüchterung führen könnte, verpönt, verspottet, als reaktionär oder „unwissenschaftlich“ diskreditiert – wobei das letztgenannte Urteil in einer wissenschaftshörigen, von Wissenschaft besessenen Zeit wohl als das härteste überhaupt gelten darf. Dabei kann die Ernüchterung von verschiedenen Seiten ausgehen. Sie kann in der vorsichtigen Relativierung eines herrschenden Absolutheitsanspruchs bestehen oder in einer radikalen Antithese. Ich möchte alles, was unter diese Ernüchterung fällt, in einem einzigen Begriff zusammenfassen, dem des Schattens.*1*

Der Schatten zum vorherrschenden

wissenschaftlichen Weltverständnis wird in erster Linie durch Religion, Schönheit, Geschichte und kritische Philosophie repräsentiert.

Dass Religion der Schatten des wissenschaftlichen Weltbildes ist – ihre radikale Antithese -, ist eine gut bekannte Tatsache der Geschichte. Das Weltbild der Wissenschaften ist eine Schöpfung der Aufklärung, und diese hatte das neue rationale Denken und Wissen von vornherein in einen schroffen Gegensatz nicht nur zum irrationalen Aberglauben sondern zu allem Glauben gesetzt, weil dieser durch Experiment und Beweis nicht zu erhärten ist. Mit anderen Worten: das neue Weltbild entwickelte sich im Kampf mit der Religion.

Eine radikale Antithese zum techno-wissenschaftlichen Weltbild bildet, wie zuvor bereits angedeutet, auch die Kunst, die nicht nur auf völlig anderen Voraussetzungen beruht sondern auch ganz andere Ziele verfolgt. Schönheit ist eine menschliche Kategorie – warum für die Menschen des Westens die Kunst eines Johann Sebastian Bach so bedeutsam ist, für die Chinesen aber die Peking Oper, lässt sich aus keinem Gesetz ableiten. Denn anders als das Gesetzeswissen von Technik und Wissenschaft entspringt Kunst menschlicher Freiheit und Wahl. So ist es nicht verwunderlich, dass sie im wissenschaftlichen Weltbild keine Heimat hat – aus der Alltagswirklichkeit als gestaltendes Prinzip ist sie deswegen auch nahezu völlig verschwunden. Weil Schönheit immer weniger zählt, werden Landschaften in Agrarwüsten, Wälder in Nutzhölzer verwandelt, überall weicht Schönheit dem Nutzen und dem Profit. Und dieselbe Missachtung des menschlichen Bedürfnisses nach Schönheit gilt ebenso für unsere Wohnstätten und Städte. Im besten Fall erfüllen diese die Forderung nach Nützlichkeit, weil sie Stätten der Produktion und Aufbewahrungsorte für Menschen sind.

Bloßer Nutzen und bloße Schönheit sind unversöhnliche Rivalen: je mehr Wissenschaft und Technik während der letzten drei Jahrhunderte im Vormarsch waren, umso stärker haben sie die Kunst an den Rand unseres Lebens und aus unseren Landschaften und Städten gedrängt. Schönheit ist in Theorie und Praxis eine radikale Antithese zu bloßer Nützlichkeit.

Nicht anders verhält es sich mit der Geschichte,

auch sie existiert nur noch als Schatten unserer wissenschaftsgläubigen Zeit. Eine Ausnahme – und zwar von charakteristischer Art – bildet nur die materielle, messbare Erforschung der Geschichte. Diese hat im Gegenteil gerade während der letzten Dezennien erstaunliche Fortschritte zu verzeichnen. Mit immer größerer Genauigkeit wird erforscht, an welchen Krankheiten die Steinzeit­menschen litten, wie früh sie starben, welche Waffen sie benutzten und wovon sie sich ernährten. Über die physisch-mate­riellen Bedingungen in der Vergangenheit haben wir mittlerweile ein nahezu unendliches, nicht mehr überschaubares und auf weiten Strecken nur noch für den Spezialisten interessantes Wissen erlangt. Was hingegen kaum mehr jemanden interessiert, weil es sich nicht messen und wissenschaftlich exakt darstellen lässt, sind das Denken, Fühlen und die Weltanschauung früherer Generationen, deren Erforschung im 19. Jahrhundert bis um die Mitte des zwanzigsten noch das Hauptinteresse gebildet hatten. Die heutige ganz auf das Materielle und Messbare versessene Forschung interessiert sich dafür so wenig wie ein junger Mensch unserer Zeit für das Wissen seiner Eltern – und zwar aus dem gleichen naheliegenden Grund. Aus technischer Sicht ist deren Wissen veraltet und überholt. Es zählt nicht länger, nur Menschen, die den letzten Stand der Technik beherrschen, verfügen über ein brauchbares, nützliches, verwertbares Wissen. Aus Sicht einer wissenschaftsgläubigen Welt sind das Denken und die Weltanschauung früherer Zeiten schlicht ohne Wert und daher belanglos.

Die beiden Schatten von Schönheit

und immaterieller Geistesgeschichte kann man sehr wohl als absolute Gegensätze zu unserer Zeit begreifen. Dagegen steht die kritische Philosophie nur in einem relativierenden Gegensatz zu ihr. Es liegt ihr fern – ja, sie würde es als unverzeihliche Dummheit erachten -, die Leistungen der Wissenschaft und die ihr zugrundeliegenden Voraussetzungen des Denkens zu schmälern oder gar zu verkennen. Die europäische Aufklärung ist eine der größten geistigen Umbrüche in der Geschichte des Menschen. Richtig und sinnvoll eingesetzt, könnte Wissenschaft ein Paradies auf Erden verwirklichen – genau wie die größten Aufklärer, allen voran der geniale, in den Wirren der Revolution umgekommene Mathematiker Marquis von Condorcet, sich das zu jener Zeit ja auch vorstellt hatten.

Allerdings fügt eine kritische Philosophie dieser Feststellung sogleich einen relativierenden Nachsatz hinzu. Auch die Religion hätte, richtig verstanden und sinnvoll eingesetzt, das Paradies auf Erden hervorbringen können. Hätte Christen die Feindesliebe des Neuen Testaments wörtlich verstanden, dann würde es keine Kriege mehr geben. Und das wäre sicher eine größere Annäherung an das Paradies gewesen als alle Erfindungen von Wissenschaft und Technik zusammen …

So wenig eine kritische Philosophie

die Religion in Bausch und Bogen verdammt, so sehr hütet sie sich vor der gegenteiligen Dummheit, indem sie Wissenschaft und Technik in Bausch und Bogen verklärt. Vielmehr sieht sie ihr Ziel darin, die Voraussetzungen unserer Verhexung durch Wissenschaft und Technik kritisch zu beleuchten und deren prinzipielle Grenzen aufzuzeigen – ein Bemühen, dass ich im Vorwort als „demokratische Antignosis“ bezeichnet habe.

Diese kritische Sicht, diese aufsässige Philosophie ist allerdings vorderhand auch nicht mehr als ein Schatten. Sie ist weder tot noch lebendig – ein Zombie, der von der zünftigen Wissenschaft mit äußerstem Misstrauen beargwöhnt wird. „Philosophie“, sagt der US-amerikanische Psychologe und Bestseller-Autor Steven Pinker, „wird nicht mehr respektiert. Viele Wissenschaftler sehen darin ein Synonym für kraftlose Spekulation.“ Und an anderer Stelle: „(Amerikanische) Universitäten investieren immer weniger in Geisteswissenschaften. Seit 1960 ist deren Anteil auf die Hälfte geschrumpft, Gehälter und Arbeitsbedingungen stagnieren“ (Pinker 2003).

Warum, so fragt ein kritischer Leser

vielleicht an dieser Stelle, warum soll ich mich mit einem Schatten befassen, wenn das Licht, das die Wissenschaften seit mehr als zweihundert Jahren auf die Wirklichkeit werfen, so hell erstrahlt und die Menschheit zum ersten Mal aus ihrem vieltausendjährigen Schlummer gerissen hat?

Aber strahlt dieses Licht wirklich so hell? Wenn es stimmt, dass wir unsere Theorien an ihren Früchten erkennen und messen sollen, dann müsste unsere erste Frage doch lauten: was bieten uns Religion, Schönheit, Geschich­te und kritische Philosophie – und was bieten uns Wissenschaft und Technik? Ist das nicht die alles entscheidende Frage?

1 Diesem Begriff hat C. G. Jung eine spezielle Bedeutung gegeben. Ich fasse ihn hier als das verdrängte, vernachlässigte, entwertete Gegenstück zur offiziellen Wirklichkeitsdeutung auf.

Herr Ingenieur Karl Ernst Ehwald schreibt dazu folgenden Kommentar:

Lieber Gero Jenner,

ich bitte um Entschuldigung, wenn die folgenden Zeilen, geschrieben von einem alten Industriephysiker ohne hinreichende philosophische Allgemeinbildung, vielleicht sehr anmaßend klingen. Dennoch will ich versuchen, einige kritische Gedanken zu Ihren sehr anregenden Betrachtungen über das Wunderbare in der uns umgebenden Natur, über das Verhältnis des wunderbaren menschlichen Intellekts zu derselben, über den scheinbaren Widerspruch zwischen Determinismus und Willensfreiheit, über das Wunder unserer Empfänglichkeit für Kunst, das Verhältnis von exakter Naturwissenschaft zur Philosophie und Religion sowie vor allem über die schrecklichen Gefahren, die von der unbegrenzten Nutzung unserer heutigen und künftige technischen Möglichkeiten ausgehen, zu formulieren. Ich konzentriere mich mit auf letzteres.

 Seit der Steinzeit  beeinflusst die Entwicklung der Technik entscheidend die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Formen des Zusammenlebens, der gegenseitigen Abhängigkeiten, die Stellung der Familie in der Gesellschaft, unsere Moralvorstellungen und auch das Verhältnis der Menschen zu traditionellen Werten, zu Kunst und Religion. Wie ich Ihnen schon an anderer Stelle andeutete, glaube ich, dass die seit Beginn des Industriezeitalters ungeheuer erfolgreiche, durch Konkurrenz angetriebene kapitalistische Wirtschaftsweise, bei der das Privateigentum unbegrenzt und heilig ist, heute in eine tödliche Sackgasse führen muss, da sie ohne ständiges Wachstum und ständig steigenden Ressourcenverbrauch nicht lebensfähig ist. Staatliche Reglementierung, Planwirtschaft und Beschränkung des Privateigentums sind meines Erachtens nötig, um langfristig einen globalen Kollaps zu verhindern, die Anwendung von „wunderbarer“ Wissenschaft und Technik sinnvoll zu beschränken. Die „zwar wenig kreativen, aber ziemlich stabilen sozialistischen Gesellschaften des Ostens“ nach 1945 zeigten zumindest eines: Abgesehen von der auf beiden Seiten des „eisernen Vorhangs“ betriebenen unsinnigen Hochrüstung waren sie weniger konsumorientiert, boten aber der Masse der Bevölkerung bezüglich der Teilnahme an  klassischer Literatur, Theater, Klassischer Musik, Volkskunst usw. verhältnismäßig viel und teilweise sehr hochwertiges. Die materialistische Ideologie war hierfür kein Hinderungsgrund. Die viel stärkere Einschränkung politischer und religiöser Freiheiten im Vergleich zum kapitalistischen Westen war die Kehrseite der Medaille. Kein Grund, eine nicht kapitalistische, aber leider auch zwangsweise stärker reglementierende Gesellschaft als Gegenentwurf zum Istzustand nicht wieder anzustreben als das kleinere Übel. Was das Verhältnis der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften betrifft, sehe ich keine unüberbrückbare Kluft. sondern häufig Missverständnisse durch in beiden Disziplinen unterschiedlich belegte Begriffsbestimmungen. Hierzu ein Artikel von meinem hochbegabten Studienfreund Prof D,E,Liebscher, der sich auch mit diesen Problemen mal beschäftigt hat, wenn vielleicht auch etwas einseitig vom Standpunkt des theoretischen Physikers. http://www.dierck-e-liebscher.de/lectures/wahres-schönes-gutes.pdf

 Ich habe ihm auch Ihre 3 Assays zum Wunderbaren weitergeleitet und will mit ihm darüber diskutieren.

Mit besten Grüßen

Karl Ernst Ehwald