Müssen Sie etwas vom Gini-koeffizienten wissen?

Bestimmt nicht, jedenfalls dann nicht, wenn Sie Augen und Ohren haben, um die soziale und wirtschaftliche Realität vorurteilsfrei zu durchschauen. Wenn Sie sich jedoch bei Ihrem Urteil vor allem auf die Weisheiten der Wirtschaftsprofessoren verlassen, dann bleibt es Ihnen durchaus nicht erspart, Ihren Horizont um den Gini-koeffizienten zu erweitern, denn er ist ein beliebtes Instrument, um Ihnen Sand in die Augen zu streuen. Ja, er ist das bevorzugte Instrument schlechthin. Es ist eine betrübliche Erfahrung, dass die reale Welt im Vergleich zu jener, der wir in den vorherrschenden Modellen der Wirtschaftswissenschaften begegnen, ein so andersartiges Bild vermittelt, dass man sich fragen muss, ob manche Ökonomen ihren Scharfsinn nicht darauf verwenden, die Zustände auf einem anderen Stern zu beschreiben. Sie sollten den kuriosen Koeffizienten deshalb kennen, weil der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und ihrer offiziellen Deutung nirgendwo mit so großer Schärfe sichtbar wird wie bei seiner Verwendung. Der Gini-koeffizient erfüllt bekanntlich den Zweck, die Ungleichheit von Einkommen (oder Vermögen) zwischen verschiedenen Gesellschaften zu bestimmen oder deren Veränderung in der Zeit.

Gehen wir von diesem Maßstab aus, so müssen Menschen in Österreich oder Deutschland den Eindruck gewinnen, in einer wunderbar heilen Welt zu leben. Im Vergleich zu anderen westlichen oder gar Staaten der Dritten Welt weist uns nämlich der Gini-koeffizient einen beneidenswert guten Platz zu, und von einer wesentlichen Verschlechterung im Laufe der letzten Jahrzehnte kann auch nicht die Rede sein. Politiker beziehen sich deswegen gern auf Wirtschaftsprofessoren, wenn diese – den Gini-koeffizienten zur Hand – uns die beruhigende Auskunft erteilen, dass von besonderer Ungleichheit in unseren Staaten „objektiv“ nichts zu bemerken sei. Nur ewige Kassandras, unwissenschaftliche Krakeeler oder sonstige Angstmacher von dubioser intellektueller Statur, versuchten Zweifel daran zu schüren, dass unsere Welt grundsätzlich heil und in Ordnung sei. Sie sei heil, weil – nun, weil wir uns eben auf den Gini-koeffizienten verlassen können.
Dieser Koeffizient ist ein diffiziles mathematisches Instrument wie so viele andere Hilfsmittel der ökonomischen Wissenschaft. Exemplarisch lässt sich an ihm beweisen, dass man gleichzeitig sehr komplex argumentieren und doch die Wirklichkeit dabei schlicht übersehen kann. Das seltsame Paradox, das ich hier aufzeigen möchte, ist nicht etwa in den Unzulänglichkeiten begründet, die nun einmal zu den beklagenswerten Mängeln aller statistischen Erhebungen gehören. Es liegt ja nahe, dass das Sammeln von Einkommensdaten bei den wirklich Begüterten keine einfache Sache ist. Wer aus Gründen der Steuerflucht sein Kapital in die einschlägigen Oasen rettet, von dem dürfte kaum zu erwarten sein, dass er Fragebögen wahrheitsgemäß ausfüllen wird, die ihm von Mitarbeitern statistischer Ämter vorgelegt werden. Über die Lohneinkommen der Bevölkerungsmehrheit wissen der Staat und seine Organe zwar genauestens Bescheid – sie sind ihnen auf Heller und Pfennig bekannt – aber er stößt auf die größten Schwierigkeiten, wenn er die wahren Verhältnisse in den oberen und höchsten Einkommensbereichen aufdecken will. Allerdings muss man betonen, dass solche Schwierigkeiten für sämtliche Staaten gelten, und zwar in weit höherem Grade für die politisch und sozial instabilen. Alle möglichen Taktiken der Verschleierung werden dort noch viel ausgiebiger angewendet und sind deshalb auch weit stärker verbreitet als in Europa. Die Folge: Ungleichheit wird dort eher noch stärker verdeckt als bei uns. Das verringert dann aber unseren eigenen Abstand zu diesen Staaten und hat für uns eher eine tendenzielle Verschlechterung der relativen Stellung zur Folge. Mit anderen Worten, dadurch wird der Gebrauch des Gini-koeffizienten zur Beschreibung unserer eigenen Situation nicht diskreditiert. Die Schwierigkeiten der statistischen Erhebung mögen noch so erheblich sein, als Argument gegen seine Relevanz sollte man ihnen allzu kein großes Gewicht beimessen.
Also sind sie dann doch im Recht, die uns beschwichtigenden Wirtschaftsprofessoren, wenn sie sich auf die Angaben dieses so beliebten und heute allgemein gebräuchlichen Maßstabs zur Bestimmung von Ungleichheit stützen und diese immer gleich aus der Tasche zaubern, als Totschlagargument sozusagen, sobald man das gegenwärtige Auseinanderdriften von Arm und Reich auch in Deutschland und Österreich als beängstigende Realität beschwört?
Keinesfalls. Gini ist ein Modell ohne Aussagekraft. Es liefert exakte Zahlen, aber keine Beschreibung der tatsächlichen sozialen Situation.
Denn der eigentliche Einwand gegen dieses Messverfahren hat nichts mit statistischen Unzulänglichkeiten zu tun. Er ist von grundsätzlich anderer Art. Ich kann mich nur wundern, dass ich diesen Einwand hier überhaupt vorbringen und begründen muss – möglicherweise zum ersten Mal, denn ich bin ihm sonst noch nirgendwo begegnet. Der Gini-koeffizient ist ein völlig untaugliches Instrument zur Beschreibung von ökonomischer Gleich- oder Ungleichheit. Er stellt diese nicht nur unrichtig dar, sondern – was weitaus schlimmer ist – er dient zu ihrer Verfälschung. Er ist ein Instrument der Irreführung.
Stellen wir uns zwei Gesellschaften mit exakt gleicher Einkommensverteilung vor, zwei Gesellschaften, die deshalb auf der Giniskala ein und denselben Wert erhalten. In der ersten von ihnen beziehen die oberen zehn Prozent ein Durchschnittseinkommen von netto zehntausend Euro aus Arbeit. In der zweiten beziehen die oberen zehn Prozent gleichfalls ein Durchschnittsnettoeinkommen von zehntausend Euro, aber diesmal nicht aus Arbeit sondern aus ihrem veranlagten Kapital (Zinsen, Dividenden etc.). Verlagern wir die Betrachtung von der Geldebene in die Realwirtschaft, dann tauschen die oberen zehn Prozent im ersten Fall ihre eigene Arbeitsleistung (z. B. Dienstleistungen aller Art wie sie Ärzte, Richter, Lehrer usw. erbringen) gegen die Arbeitsleistung der restlichen Bevölkerung. Im zweiten Fall findet dagegen keinerlei realwirtschaftlicher Austausch statt. Die oberen zehn Prozent leben als Drohnen von der Arbeit der unteren 90 Prozent, zu der sie (wenn sie nicht nebenbei auch noch Arbeitseinkommen beziehen) überhaupt keinen Beitrag leisten.
Der Gini-koeffizient ignoriert diesen Gegensatz. Zwei in ihrem Wesen, d. h. in ihrer sozialen und politischen Stabilität, ihrer Zukunftsfähigkeit völlig unterschiedliche, ja gegensätzliche Gesellschaftsmodelle werden durch ihn so dargestellt, als wären sie schlicht identisch. Jenen Wirtschaftsprofessoren, die den Gini-koeffizienten so gerne im Munde führen, scheint dieses elementare Faktum ganz entgangen zu sein.
Dabei hätten sie nur einen Blick in die Geschichte zu werfen brauchen, um die enorme soziale, ökonomische und politische Sprengkraft dieses Gegensatzes zu ermessen. Nehmen wir einen Agrarstaat, in dem die Bevölkerung aus selbständigen Kleinbauern besteht, die alle, sagen wir, fünf Euro pro Tag verdienen, und vergleichen ihn mit einer anderen Gesellschaft, die aus einer Handvoll Großgrundbesitzern und sonst nur aus Tagelöhnern und Saisonarbeitern besteht, die aber – so nehmen wir einmal an – in einem bestimmten Jahr auch alle fünf Euro pro Tag bekommen. Der Gini-koeffizient vermag hier keine Unterschiede zu registrieren, für dieses Messinstrument sind beide Gesellschaftstypen identisch. Der eine beschreibt jedoch die soziale Situation vor der französischen Revolution (wenn wir einmal davon absehen, dass eine aufstrebende Schicht von bürgerlichen Fabrikanten und Honoratioren sich gleichfalls zurückgesetzt fühlte). Eine Schicht von Drohnen – persönlich oft sehr liebenswürdige und besonders gebildete Menschen, der Fehler lag im System – ließ sich damals vom Rest der Bevölkerung erhalten.
Der andere Typus ähnelt der neuen Gesellschaft, die nach der französischen Revolution entstand. Eine Gesellschaft des persönlichen Verdienstes, der Leistung, in der wir angeblich leben.
Aber entstand diese Gesellschaft wirklich nach der französischen Revolution? Nein, so einfach ist die Sache nun doch leider nicht. Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich die Verhältnisse ganz allmählich und sozusagen hinterrücks wieder in Richtung einer Drohnengesellschaft verändert. Die kleinen Leute haben das deutlich bemerkt, ihre Löhne schrumpfen, ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. Aber die Mehrheit der Professoren hat davon so gut wie gar nichts bemerkt, sondern die Verhältnisse im Dienste der Politik im Gegenteil schön geredet. Der Gini-koeffizient erwies sich dabei als ihr bester Verbündeter. Er merkt nichts davon, wenn sich eine Gesellschaft der Arbeit allmählich in eine Gesellschaft der Drohnen verwandelt – eine Gesellschaft des Pyramidenspiels. Von der Realität sorgfältig abgeschirmt saßen die Theoretiker in ihrem Elfenbeinturm und konnten „beweisen“, dass es bei uns um die Einkommensgleichheit nicht schlecht stehen könne. Wenn die kleinen Leute das anders sahen – nun gut, auch dafür hatten sie eine Erklärung: Die kleinen Leute waren wieder einmal zu Opfern von subjektiven Halluzinationen geworden. Der Wirtschaftstheoretiker verlässt sich auf sein „objektives“ Instrumentarium.
Aber dieses Instrumentarium ist blind für den Transfer durch Geldvermögen, und dieser Transfer beträgt heute, rund gesagt, ein Drittel der durchschnittlichen Aufwendungen im verfügbaren Haushaltseinkommen (2007: Bankzinserträge 419 Mrd. €, Haushaltsausgaben 1.374 Mrd. €). Auch wenn der Interbankenzins, der maximal ein Drittel der gesamten Zinserträge ausmachen kann, hier nicht berücksichtigt wurde, wird diese Behauptung nicht entkräftet. Denn diese Differenz wird mehr als ausgeglichen durch die Renditen, Dividenden und Zinsen, die in den Bankstatistiken unberücksichtigt bleiben. Dazu kommen schließlich noch die Erträge des unverschuldeten Sachkapitals, so dass sich insgesamt jedenfalls eine höhere Summe als diese dreißig Prozent ergeben.
Wer profitiert von diesem gewaltigen Abgabenvolumen, dieser »privaten Besteuerung« wie ich sie nenne? Teilt man die Deutschen nach Einkommen und Vermögen in eine untere Gruppe von 90 und eine obere von 10 Prozent, so ergibt sich für 2007, dass die erste Gruppe – die Bevölkerungsmehrheit – von den gesamten Zinserträgen in Höhe von 419 Milliarden 233 Milliarden zu zahlen hatte, und zwar 92 Mrd. an die Banken (Bankmarge von 20%) und 141 an die oberen 10%. Was diese abstrakten Zahlen bedeuten, wird in dem Augenblick klar, wo man zum Vergleich die Höhe der staatlichen Lohnsteuer desselben Jahres ins Auge fasst. Sie betrug 132 Mrd. Demnach haben die unteren 90% über das private Abgabensystem von Zinsen, Dividenden etc. einen Betrag abliefern müssen, der sich mit 233 Milliarden bereits dem Doppelten der staatlichen Lohnsteuer nähert. Der Betrag, der sich davon direkt in die Kassen der oberen zehn Prozent ergießt, hat aber mit 141 Milliarden das Ausmaß der Lohnsteuer bereits übertroffen. Anders gesagt, der Staat belastet uns mit der größten Massensteuer weit weniger stark als es die obersten zehn Prozent unserer reichsten Mitbürger tun (hierzu meine Berechnungen).
Man sollte endlich den Mut zur Wahrheit aufbringen. Bei der Erkenntnis realer Ungleichheit besitzt der Gini-koeffizient keinerlei Wert. Ein Staat kann aufgrund dieses Messinstrumentes im Vergleich schlechter dastehen und doch sozial gerechter sein als ein anderer, dann nämlich, wenn in ihm die Einkommen aus Geldkapital keine oder nur eine geringe Rolle spielen, und der umgekehrte Fall ist genauso möglich. Dieses Werkzeug ist nicht nur falsch, es ist gefährlich, weil man es braucht, um Sand in die Augen zu streuen. Es dient dazu, die tiefer liegende ökonomisch-soziale Wirklichkeit zu verfälschen und zu verschleiern.

In seinem Buch „The Anatomy of Inequality“ macht Per Molander ausgiebig Gebrauch vom Gini-Koeffizienten. Meine schon vor 2008 in dem obigen Artikel geäußerten Bedenken beantwortete er am 9. Mai 2021 freundlicherweise mit der folgenden eMail:

Lieber Herr Jenner,

Wir sind völlig überein, dass der Gini-koeffizient ein stumpfer Maßstab für die Ungleichheit ist. Man braucht nicht verschiedene Arten von Einkommen, um das zu zeigen. Wir können uns zwei Gesellschaften denken. In der einen bekommen 40 Prozent der Bevölkerung 1 Prozent des Einkommens und 60 Prozent der Bevölkerung die übrigen 99 Prozent. Denken Sie z.B. an eine ausgebeutete Urbevölkerung in einem alten Kolonialstaat. In dem anderen Land bekommt 60 Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Einkommens, und eine Elite von 1 Prozent bekommt die übrigen 40 Prozent. Diese beiden Gesellschaften haben denselben Gini-koeffizient, aber die sozialen Strukturen, die ökonomischen Reize usw. sind natürlich ganz verschieden. (Siehe Bilde unten.) Wenn man aber Länder die ziemlich gleich sind vergleicht, z.B. die OECD-Länder, dann ist das Risiko solcher Fehler minder. Leider ist es aber so, dass die meisten Untersuchungen diesen Koeffizient verwenden, und deshalb sind wir oft auf diese Form von Vergleichungen hingewiesen.

Ich bin der Vorsitzende einer öffentlichen Kommission über Ungleichheitsfragen zwischen 2018 und 2020 hier in Schweden gewesen, und ich habe eben diesen Nachteil des GKs in unserem Bericht behandelt (das Bild ist aus diesem Bericht geholt).

Herzliche Grüße,

Per Molander