Huxleys Schöne Neue Welt

Noch während der Abfassung seines Meisterwerks schien Huxley selbst im Zweifel gewesen zu sein, wie man es zu verstehen habe. Soll man darin eine Satire sehen, eine Prophezeiung oder gar eine Anleitung für politisches Handeln? Tatsache ist, dass es bis heute keinem zweiten Autor gelungen ist, in einem Buch von teilweise phantastisch anmutender Fiktionalität die handelnden und leidenden Personen so glaubwürdig darzustellen, dass sie selbst und die sie umgebende Welt uns völlig real erscheinen. In Brave New World hat Huxley in großartigen Bildern entwickelt, was man eine ‚novel of ideas’ nennen darf, einen Roman, der in nuce die ganze Philosophie einer neuen Zeit – unserer Zeit – in sich umschließt.

Zwischen Horror und Faszination

Vermutlich hätte Huxley seiner Vision niemals einen so überzeugenden Ausdruck zu geben vermocht, hätte er sich nicht selbst die Frage gestellt, ob er uns – so wie der Mensch nun einmal beschaffen ist – eher ein Schauspiel der Hölle oder im Gegenteil die beste aller möglichen Welten vor Augen stellt. Das macht Brave New World so viel interessanter als ‚1984’, wo die Reaktion des Lesers von Anfang bis Ende so eindeutig bleibt: Man kann bei der Lektüre des Werks von George Orwell nichts anderes als Horror empfinden. Huxley aber übertrug sein eigenes Schwanken in die vom ihm geschilderte Welt. Zum Beispiel blickte er vor 1932, dem Jahr der Veröffentlichung seines Romans, mit der gleichen Verachtung auf die Demokratie wie H. G. Wells, weil er wie dieser der Meinung war, dass die moderne Massengesellschaft nur unter der Regie einer Expertenelite auf Dauer zu überleben vermag.

Demokratie versus Diktatur

Wer fühlt sich angesichts eines solchen Urteils nicht gleich in unsere Zeit versetzt, wenn er zum Beispiel auf die beiden Giganten Indien und China blickt? Während ein diktatorisches Regime mehr als einer Milliarde Chinesen in kürzester Zeit nicht nur zu wachsendem Wohlstand verhalf, sondern es ihm mit großer Wahrscheinlichkeit in spätestens zwei Jahrzehnten auch noch gelingen wird, den Weltprimus, die Vereinigten Staaten, vom Sockel ihrer globalen Vorherrschaft als mächtigster Staat der Erde zu drängen, bleibt die Verwandlung des ehemals agrarischen Märchenlands Indien in einen der technischen Rationalität und ökonomischen Effizienz verpflichteten Massenstaat bis heute ein überaus schmerzhafter und langwieriger Prozess, der gegen tausenderlei Widerstand erkämpft werden muss. Wenn die Aufgabe eines modernen Staatswesens darin besteht, einem Maximum an Menschen in kürzester Zeit die Segnungen der modernen Zivilisation zu verschaffen, so gelingt dem diktatorischen Expertenstaat China diese Aufgabe um ein Vielfaches besser.

Spaß statt Gewalt

Allerdings haben die Chinesen noch nicht begriffen, was bei Mustapha Mond und in Teilen der westlichen Gesellschaft längst zu den gesicherten Erkenntnissen gehört. Will man Menschen dauerhaft und sicher beherrschen, dann ist brutale Gewalt nicht das Mittel der Wahl (das pseudokommunistische Regime Chinas geht bis heute gnadenlos gegen alle Regimekritiker vor). Viel  leichter wird dieses Zielt erreicht, wenn man menschliche Bedürfnisse so umfassend befriedigt, dass ein Widerstand gegen das von oben verordnete Leben gar nicht erst aufkommen kann. Unter furchtbaren menschlichen Opfern (vor allem der weiblichen Bevölkerungshälfte) haben die Chinesen ihre Einkind-Politik praktiziert. In Huxleys Brave New World ist solcher Zwang gar nicht nötig, denn der Geschlechtstrieb wurde strikt von der Kinderzeugung getrennt. Das sexuelle Vergnügen steht jedem so zu wie die tägliche Nahrung – die von Houellebecq gegeißelte kapitalistische Mentalität, wonach sich der Sieger alles nimmt (the winner takes all), während die Versager in ewiger Frustration leben müssen, ist dort radikal beseitigt – Kommunenmentalität prägt die Gesellschaft. Eine anständige Frau, ein anständiger Mensch haben schon, als sie Kinder waren und sich in jugendlichen Sexspielen übten, gründlich verinnerlicht, dass Jeder und Jede allen anderen gehören soll. Freilich nicht so, wie der Österreicher Otto Mühl das in seiner Kommune praktizierte, wo er peinlich genau Buch führen ließ, ob jede der jungen Sektenfrauen auch wirklich mit jedem Sektenjüngling gleich lange schlief. In der Braven Neuen Welt geht alles ganz zwangslos zu. Man braucht nicht mehr pedantisch zu rechnen, wenn die allgemeine Promiskuität ohnehin zu den Grundregeln menschlichen Zusammenlebens gehört. Auch sonst kann man auf Zwang und Gewalt verzichten. Sollten der eigene Organismus, ein schiefer Blick oder schlechtes Wetter wirklich einmal den Spaß verderben, dann gibt es immer noch Soma, die Droge, in der man pure Happiness findet. Das haben die jungen Generationen im Westen bereits von Huxley gelernt.

Vermehrt ihren Spaß und ihren Konsum, dann sind sie friedlich und der Staat ist stabil!

Die Trennung des Geschlechtstriebs von der Prokreation war Anfang der dreißiger Jahre noch alles andere als selbstverständlich, dazu bedurfte es erst noch der Erfindung der Pille, die aber hatte Huxley mit seinem empfängnisverhütenden Gürtel, den jede Frau mit sich führt, als technische Möglichkeit schon damals vorausgeahnt. Die Entfesselung der Sexualität und überhaupt des Vergnügens in jeder nur denkbaren Form erweist sich in der Neuen Welt – und wir dürfen ruhig hinzusetzen: in unserer eigenen Welt, wo eine allmächtige Reklame uns beständig dazu animieren will – als das wirksamste Mittel, um allen Aufruhr gegen herrschende Mächte im Keim zu ersticken. Die Spaßgesellschaft, wie Huxley sie in seinem Roman beschreibt, ist ja längst allgegenwärtige Realität. Und auch darin hat Huxley recht behalten, dass der Spaß erst dann zur richtigen Leidenschaft wird, wenn er sich an den neuesten Produkten der Hochtechnologie entzündet. Wer fühlt sich da nicht an die orgiastischen Lustbekundungen erinnert, welche die Auftritte von Steve Jobs weltweit bei seinen Anhängern erzeugten, wenn er die jeweils neuesten Versionen von Apples technisch hochgezüchteten Spielzeugen präsentierte?

Mustapha Mond spricht allen Konzernherren aus dem Herzen

Dagegen stößt der Wilde aus Neumexiko, den Huxley als Gegenbild zu seiner Neuen Welt benötigt, im zivilisierten Menschen auf ein Gefühl, das zu gleichen Teilen aus Mitleid und Abscheu besteht. Abscheu, weil dieser Mensch kulturell falsch konditioniert worden ist und deshalb mit längst überwunden geglaubten, archaisch-abstoßenden Ansichten vor den Kopf stößt; Mitleid, weil er im Reservat der Wilden dazu verurteilt blieb, auf die berauschenden Segnungen der Technik zu verzichten. Was fängt der arme Teufel denn mit sich selbst und seinem Leben an, wenn er – so würden wir aus heutiger Perspektive sagen – weder auf den Tasten eines Handys noch auf denen eines Computers herumspielen darf? Dass Produkte der Natur wie zum Beispiel ein Jaguar – nicht zuletzt auch Homo sapiens selbst – unendlich viel komplexer sind als jedes menschengemachte Produkt einschließlich Computern und Handys, das leuchtet den Technikfreaks der Neuen Welt – die längst auch unsere ist – natürlich nicht ein.

Ein weiteres Argument aber spricht noch viel gebieterischer für den manischen Hightech-Konsum. Die Erzeugnisse und auch der Spaß, den die Natur allen Wilden und Zurückgebliebenen schenkt, kosten nichts, sie sind gratis zu haben. Doch in der Schönen Neuen Welt hat jeder begriffen: Was gratis ist, schadet der Wirtschaft. Sie würde zusammenbrechen, wenn der Mensch nicht in einem fort zum Konsum ermuntert, überredet, verführt wird. In der Neuen Welt brummt die Wirtschaft. Huxley spricht allen Managern und Konzernherren aus dem Herzen, wenn er Mustapha Mond, den obersten Controller, seine Philosophie verkünden lässt. Gewiss, früher einmal erholte sich der Primitive auf Spaziergängen oder bei kostenlosen Übungen in der freien Natur. Damit ist es glücklicherweise vorbei. Der moderne Mensch will und darf von der Natur nichts mehr wissen. Er wurde zum Hamster im Hightech-Laufrad der modernen Zivilisation. Das wohldosierte sportliche Pensum erledigt er mit Hilfe von hochgezüchteten Apparaten in einem Fitnesscenter – so hält er eine beständig brummende Wirtschaft in Schwung.

Ford, der Erfinder des Fließbands und der Massenproduktion,

steht an der Wiege der neuen Ära, die eine der allgegenwärtigen und siegreichen Technik ist. Nur der unkonditionierte Wilde aus Neumexiko rebelliert dagegen. Die Delta-Untermenschen der Brave New World erscheinen ihm durch Technik unterjocht, von ihr zurechtgestutzt und in willenlose Automaten transformiert. Er möchte diese Termiten-Menschen aus ihrem Sklavendasein befreien.

Welch eine Dummheit!, belehrt ihn Mustapha Mond und erklärt dem Wilden, warum die neue in der Tat die bester aller möglichen Welten sei. Er solle doch, bitte, einen Blick in die menschliche Vergangenheit werfen. Ja, früher, vor Beginn der neuen Ära, da setzte sich die Bevölkerung ausschließlich aus freien Menschen von etwa gleich hoher Intelligenz zusammen. Und was war die unausbleibliche Folge? Jeder wollte an der Spitze stehen, keiner die anfallenden niederen Dienste verrichten. In fortwährenden Revolutionen, andauernden blutigen Kriegen rangen die einen um das Privileg, an der Spitze zu bleiben, während die anderen nur darauf sannen, wie sie die Oberen stürzen, um sich an ihre Stelle zu setzen.

Das Spektakel kommt uns bekannt vor, weil es so alt ist wie die menschliche Geschichte. In Westeuropa zum Beispiel haben wir vorläufig noch die Chance, Menschen aus den angrenzenden Staaten Osteuropas für niedere Dienstleistungen bei uns anzustellen, aber völlig richtig hat Huxley vorausgesehen, dass bei einem Versiegen solcher Quellen, ein dauernder Kampf zwischen Menschen ausbrechen muss, die sich als gleich und gleichberechtigt betrachten. Auf diese Weise, so Mustapha Mond – und hier spricht Huxley wohl durch seinen Mund – sei eine stabile Gesellschaft nicht herzustellen.

‚Regeln für den Menschenpark’

In den zwanziger Jahren war viel von Eugenik die Rede. Nicht nur Huxley auch große Philosophen wie Bertrand Russell oder Biologen vom Rang eines Konrad Lorenz haben sich damals darüber Gedanken gemacht, weil es so schien, als würde der Prozess der Zivilisation und Selbstdomestikation beim Menschen eine Verschlechterung des genetischen Pools bedeuten (die Intelligenz nahezu kinderlos, aber die unteren Schichten vermehren sich wie die Kanickel). Vor Hitler schien es erlaubt, solche Gedanken theoretisch durchzuspielen (dass man so etwas nach Hitler nicht länger darf, ist Peter Sloterdijk seltsamerweise entgangen, als er von den ‚Regeln für den Menschenpark’ sprach).

Es sind die Folgerungen aus solchen Überlegungen, welche die Brave New World für spätere Leser zu einem Horrorgemälde macht: Mit dem Segen des Staates werden Menschen in unterschiedlichen Kastenformaten gezüchtet. Die bezwingende Logik einer ‚Folie raisonnante’ (eines aus Logik geborenen Wahnsinns) macht Huxleys Vision zur gleichen Zeit ebenso einleuchtend wie unerträglich. Wenn es wahr ist, dass man Genies wie Leonardo, Mozart oder Shakespeare nicht zu Müllentsorgern macht, ohne dass sie aus Wut gegen ein solches Schicksal einen Krieg gegen die Gesellschaft entfesseln (so wie es wahr ist, dass ein intellektuelles Proletariat, wie es in vielen Entwicklungsgesellschaften besteht, eine Quelle andauernder politischer Unruhen ist), dann – so die Folgerung, die Mustapha Mond und Huxley für die Neue Welt ableiten – sei es doch nur ein Gebot der strengen Vernunft, Menschen unterschiedlicher Art zu züchten: neben den Mozarts, Leonardos und Shakespeares eben auch die Müllentsorger, aber – und das ist eine mit gleichem Nachdruck erhobene Forderung – die niedrigen Kasten müsse der Staat dann auch so konditionieren, dass ihnen die eigene Arbeit als höchster Sinn ihres Lebens erscheint, so dass Neidgefühle gegenüber höheren Schichten ihnen sozusagen wesensfremd sind und gar nicht erst aufkommen können.

Die Schöne Neue Welt Huxleys ist in der Natur bereits vorgebildet

Ameisen- und Termitenstaaten kennen die genetische Differenzierung und leben mit ihr überaus erfolgreich. Menschliche Gesellschaften versuchten sie in der Vergangenheit auf kulturellem Weg einzuführen. Im alten Ägypten gab es ebenso eine Kastengesellschaft wie in Indien bis in die heutige Zeit. Man wird wohl annehmen dürfen, dass bei einer strikten genetischen Trennung der einzelnen Kasten (also eines strikten Eheverbots zwischen ihnen, wie es die religiösen Klassiker Indiens ja tatsächlich verlangten) eine genetische Differenzierung in eine Art von Ameisenstaat mit Alpha-, Beta- und Epsilon-Menschen nach Jahrtausenden wohl wirklich eintreten würde. Jedenfalls hätte Huxley auch darin recht behalten, dass eine Gesellschaft wie das indische Kastensystem an Stabilität allen übrigen Gesellschaftsmodellen überlegen sei – immerhin hat die indische Kastenordnung mehr als zweitausend Jahre bis zum heutigen Tag überdauert und würde es wohl auch weiterhin tun, hätte der Einfluss westlichen Denkens nicht beharrlich von außen an ihren Grundfesten genagt.

Aber genau dieses beharrlich nagende Denken ist in unserer Zeit nicht mehr abzuschalten: Besser weniger Stabilität, besser mehr innere Unzufriedenheit bis hin zum Aufruhr als eine Gesellschaft, wo es neben vollwertigen Ausgaben der menschlichen Spezies eine Art von dienstbaren Affen gibt – in Gestalt gezüchteter Untermenschen! Besser die Geschichte des Menschen, so wie sie seit Urzeiten war, weiterhin akzeptieren, also eine ewige Abfolge von Kämpfen und Revolutionen in Staaten, die niemals Stabilität erlangen, als die Aussicht auf jene Art Stabilität, die wir nur um den Preis erlangen, uns in Termiten zu verwandeln! Insofern wird die Vision Aldous Huxleys wohl nie in Erfüllung gehen.

Die Gegenwart löscht alle Geschichte aus

Was sich aber schon in unserer Zeit erfüllt, ist die kulturelle Durchmischung, der Übergang zu einer weltweiten Einheitskultur, die nur noch hier und da eine Handvoll von Reservaten duldet. Das große Artensterben der Kulturen einschließlich der Sprachen ist längst Realität. Alles bloß Überkommene, das sich der technischen Rationalität und ökonomischen Effizienz widersetzt, steht auf der roten Liste. Wo aber nur noch das Neue in Gestalt der aktuellsten technischen Erfindungen Leidenschaften entfesselt, wird das Alte entweder ausgelöscht oder in die Museen abgedrängt. Mustapha Monds Welt besteht aus glitzernden Wolkenkratzern, welche die schönen alten Stadtkerne aus früherer Zeit wie einen kläglichen Rest unter ihrer schieren Masse begraben. Wozu soll man sich noch mit Geschichte beschäftigen, wenn die Gegenwart alle Bedürfnisse restlos erfüllt?

Die Auslöschung des Alten wird in der Neuen Welt, die alles andere als schön ist, ja auch ganz wörtlich verstanden und praktiziert. Unter Sphärenklängen werden die Alten eingeschläfert, damit der Anblick gebrechlicher und hässlicher Existenzen die Spaßkultur nicht mit Missstimmungen verstört. Zu Einschläferungen ist es bei uns noch nicht gekommen, wir entsorgen die alten Menschen nur in speziellen Orte der Aufbewahrung, aber der Tod wird mit größter Selbstverständlichkeit aus dem Bewusstsein verdrängt und spielt sich deshalb in vollendeter Lautlosigkeit ab. Es scheint ihn bei uns ebenso wenig zu geben wie in Huxleys Schöner Welt.

Auch die Wissenschaft darf in der Brave New World nur noch als Hilfskraft dienen,

nämlich als technisches Mittel, den Konsum fortwährend zu steigern und sämtliche Bedürfnisse sofort zu befriedigen – da nimmt sie eine unverzichtbare Rolle wahr. Aber sie ist strikt verpönt, ja verboten, sofern sie kritisches Denken fördert, das Individuum also mit der Gesellschaft entzweien könnte. Menschen wie Helmholtz Watson und Bernard Marx, die es nicht lassen können, sich eigene Gedanken zu machen, gelten als fehl konditioniert. Im Stadium ihrer Herstellung in der Retorte muss etwas schief gelaufen sein. Solche Menschen gefährden die soziale Harmonie und Stabilität der Gesellschaft. Um keinen größeren Schaden anzurichten, werden sie auf ferne Inseln verbannt.

Links und rechts ad absurdum geführt

Da es in Huxleys Welt kein kritisches Denken gibt, sucht man ebenso vergeblich nach Helden. Undenkbar, dass in einem Termitenstaat vollkommener Harmonie ein Agamemnon, Alexander oder Napoleon auftreten könnte, es gibt auch keine Mozarts, keinen Michelangelo, überhaupt keine überragenden Künstler, weil es den großen Menschen an sich nicht länger geben darf. Perfekte Harmonie kann es nicht geben, wenn sich jemand erlaubt, die eigenen Mitmenschen zu überragen. Die Größe des einen ist eine Beleidigung für alle, die kleiner sind. So hat man es im linken Lager schon immer gesehen, schon damals, als der große Gelehrte Lavoisier vom Französischen Revolutionskomitee aufs Schafott geschickt wurde, weil er so unbrüderlich war, mehr von Chemie zu verstehen als alle übrigen Mitbürger.

Das Unheimliche an Huxleys Vision einer kommenden Gesellschaft liegt darin, dass sie so viele rechte wie linke Ideale erfüllt und sie zur gleichen Zeit ad absurdum führt. Die Rede von der Ungleichheit der Menschen wird vor allem im rechten Lager gepflegt – der hierarchische Termitenstaat der Brave New World denkt die Forderungen der Rechten also folgerichtig zu Ende. Umgekehrt ist die Rede von der Gleichheit der Menschen, der man zur Not mit der Guillotine nachhelfen muss, wenn einige Bürger sich zu sehr vom Normalmaß entfernen, im linken Lager verbreitet und hat in der Neuen Welt dazu geführt, dass man die Menschen ein und derselben Klassen am liebsten von vornherein klont (in Bokanovsky-Gruppen) – so ist garantiert, dass jeder mit jedem identisch ist.

Huxley zeigt, wie sich soziale Utopien in Horrorvisionen verwandeln, wenn sie die ‚Folie raisonannte’ gnadenlos bis an ihr logisches Ende verfolgt. Von Platos ‚Staat’ über Campanellas ‚Città del Sole’ bis zu Francis Bacons ‚Atlantis’ ist dies allen radikalen Blaupausen der Weltverbesserer gemein, aber Huxley ist weiter gegangen und zur gleichen Zeit überzeugender als alle anderen, weil er so viele zu seiner Zeit nur unterschwellig vorhandene Ausgeburten des logikgeborenen Wahnsinns mit der Feinfühligkeit des Genies erspürte.

Nicht, dass er die Vergangenheit dabei idealisierte!

Der Wilde aus Neumexiko entstammt einer Kultur, die nicht weniger gnadenlos und brutal gegenüber Außenseitern verfährt als die Schöne Neue Welt. Neumexiko – der Rückfall in archaische Zustände – wird also keineswegs als Heilmittel gegen eine Termitenwelt angepriesen, aber in einer Hinsicht steht der unglückliche Wilde, der sich am Ende in keiner der beiden Welten zu Hause fühlt, dem Autor Aldous Huxley doch näher als Mustapha Mond. Der Wilde fragt nach Gott – im Gegensatz zu den Spaßmenschen der Neuen Welt, für die Gott schlechterdings überflüssig ist, da es keine Bedürfnisse gibt, die er noch befriedigen könnte. Wir wissen, dass das Gottesproblem Huxley zeitlebens in seinem Bann hielt: Jahre später verfasste er ein Buch über die Mystik. Was den Wilden aber in größte Nähe zum Autor bringt, ist dessen Liebe zu Shakespeare, den er teilweise auswendig kennt. Der Wilde erlebt die brennenden Wonnen der Kunst, während Mustapha Mond, der Controller, nur den eisigen Wonnen der abstrakten Intelligenz zugänglich ist. Huxley wuchs in einer wissenschaftlich hochgebildeten Familie auf, er verstand es, beide Arten der Wonne auszukosten, und hat es in dieser ‚novel of ideas’ ja auch wirklich getan. Das verleiht diesem an Ideen so überreichen Roman den Doppelcharakter als ein eminent künstlerisch-dramatisches Werk, das zugleich eine beklemmende Philosophie vergangener wie künftiger Zeiten ist.