Der aufhaltsame Vormarsch der Demokratie

Auszug aus meinem noch in diesem Monat erscheinenden Buch »Eine Welt – kein Turmbau zu Babel“

Whereas democracies assume that everyone is fallible, in totalitarian regimes the fundamental assumption is that the ruling party or the supreme leader is always right. Harari

What defines a system as ‘democratic’ is only that its centre doesn’t have unlimited authority and that the system possesses robust mechanisms to correct the centre’s mistakes. Harari

Die Wissenschaften von der Natur sind prinzipiell allen Menschen zugänglich. Wissen wird nicht vererbt, es muss durch eigene Anstrengung erworben werden. Insofern war Wissenschaft und war die Aufklärung von Anfang an demokratisch. Dennoch geht die Demokratie als politische Regierungsform keinesfalls zwangsläufig aus den Forderungen der Aufklärung hervor. Sollen Wissen und Können an die Stelle von Privilegien treten, dann kann man sehr wohl der Meinung sein, dass die Staatsführung grundsätzlich in keine anderen Hände als die von ausgebildeten Experten gehört. Aufgrund dieser Voraussetzung ist es nicht verwunderlich, dass führende Köpfe der europäischen Aufklärung wie Montesquieu, Locke, Voltaire, Hume, Rousseau oder Kant sehr verschiedene Meinungen zu diesem Thema hatten. Zum Beispiel Rousseau: seine „Volonté générale“ war nie mehr als ein intellektuelles Konstrukt, in der Wirklichkeit nur anzutreffen, wenn Volksmassen durch Demagogen verhetzt worden sind. Und nicht zu vergessen: Mehr als zweitausend Jahre zuvor hatte kein Geringerer als Plato die Meinung vertreten, dass die Lenkung eines Staates nur in den Händen der Wissenden – der Philosophen – liegen dürfe. Dabei orientierte er sich bekanntlich an Sparta, einer Militärdiktatur.

Die Forderung nach Demokratie schien eben durchaus nicht mit logischer Evidenz aus philosophischen Prämissen oder den Prinzipien der Aufklärung hervorzugehen. Die Lenkung eines Staates setzt Wissen und Erfahrung voraus – viel mehr als die Lenkung eines einzelnen Betriebes wie etwa eines Hüttenwerkes, einer Bäckerei oder einer Schusterwerkstatt. Schon bei Letzteren käme niemand auf den Gedanken, deren Führung beliebigen Menschen anzuvertrauen, also auch solchen, die nicht die geringste Ahnung von den auf sie zukommenden Aufgaben haben. Warum also sollen alle Menschen in einem Staat eine gleichwertige Stimme besitzen, wenn es um nicht weniger als dessen Zukunft geht? Und warum sollen alle Menschen als mögliche Kandidaten für die höchsten Posten des Staates – Präsident, Premier und Minister – gleichermaßen gewählt werden können, obwohl sie möglicherweise keine Ahnung von den auf sie zukommenden Aufgaben besitzen? Verträgt sich eine so verstandene Demokratie mit den Zielen der Aufklärung?

Die Frage ist von umso größerer Bedeutung, als die seit zweihundert Jahren wichtigste Institution demokratischer Staaten bis heute von Demokratie nichts wissen will. Bekanntlich wurde der moderne Industriebetrieb in den wirtschaftlich erfolgreichsten Staaten nur ausnahmsweise demokratisch organisiert – zeitweise war das nur im früheren Jugoslawien und während der ersten Nachkriegsjahrzehnte in Japan der Fall. Und diese Abwehrhaltung hat einen gewichtigen Grund: das Unternehmen als Kerninstitution der westlichen und inzwischen der ganzen übrigen Welt verdankt seinen außerordentlichen Erfolg gerade der Tatsache, dass es eben nicht demokratisch verfasst ist. Die Stimmen der in einem Unternehmen tätigen Menschen haben keinesfalls das gleiche Gewicht, wenn es um die Festlegung der Betriebsziele und deren konkrete Umsetzung geht. Was bei effizienzgeleiteten Institutionen zählt, ist das Fachwissen und die Fähigkeit, dieses zur Erreichung eines geplanten Ziels mit rationaler Konsequenz durchzusetzen. Der industrielle Betrieb als ökonomische Energiezelle aller modernen Staaten ist eine bewusst antidemokratische, hierarchisch bestimmte Organisation, die allein durch ihre Omnipräsenz ein Gegenmodell zur politischen Demokratie darstellt.

Dagegen protestiert so gut wie niemand, weil die antidemokratische Verfasstheit dieser Kerninstitution offenbar sinnvoll, ja, geradezu unabdingbar ist. Die Stimme eines fachfremden Laien darf in einem rational geführten Betrieb nicht dasselbe Gewicht besitzen wie die eines geschulten Experten! Allerdings gilt diese Wahrheit nicht für die Wirtschaft schlechthin, sondern speziell für die produzierenden Betriebe. Der Handel mit seinem Ableger der Reklame setzt wenig Fachwissen voraus, umso mehr dagegen die Fähigkeit der Überredung, der Manipulation, der psychischen Einflussnahme. Als ehemaliger Immobilienmakler kommt der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten bekanntlich nicht aus der produzierenden Wirtschaft, sondern aus dem Handel.

Aus der zentralen Bedeutung des Fachwissens für die produzierende Wirtschaft ergibt sich dann aber die weitere Einsicht, dass der klassische Familienbetrieb im besten Fall eine umsichtig zum Wohle der Mitarbeiter geführte Autokratie sein kann, im schlechtesten Fall ist er eine menschenverschleißende Diktatur. Die moderne Aktiengesellschaft bildet da keine Ausnahme. Sie steht zwar unter der Kontrolle der Geldgeber, doch macht das die Sache keineswegs besser, da sie in aller Regel auch über–wiegend dem Wohl der Geldgeber dient. Und die Auswirkungen der undemokratischen Betriebsverfassung reichen bekanntlich noch sehr viel weiter. Wer sich den Vorgaben der Betriebsleitung widersetzt, wird zwar nicht nach Sibirien verbannt, in ein Gefängnis gesperrt oder schlicht umgebracht, wie das in politischen Diktaturen die Regel ist. Der Betrieb hat es einfacher: Dissidenten oder Unfähige werden gefeuert. Das Prinzip bleibt gleichwohl dasselbe. Ganz so wie in einer politischen Diktatur wird der Dissident aus der Reihe der anerkannten Mitglieder verbannt. Amazon, Google, Microsoft, Volkswagen usw. sind undemokratisch verfasst. Darin liegt kein Vorwurf, sondern eine Notwendigkeit Es ist eine übergeordnete Instanz, der Staat, der darüber zu wachen hat, dass ihre Tätigkeit nicht allein dem privaten, sondern immer auch dem Gemeinwohl dient – diesem zumindest nicht widerstreitet.

Also warum eigentlich Demokratie?

Their /the Chinese/ system of governance is more like what is typical in big companies…, so they wonder why it is hard for Americans and other Westerners to understand the rationale for the Chinese system … Ray Dalio

Warum bestehen wir überhaupt auf politischer Demokratie, wenn die Kernzelle selbst demokratischer Staaten antidemokratisch ist und wenn sie genau dieser Tatsache ihre außerordentliche Effizienz verdanken, weil – genau wie die Aufklärung es verlangt – in einem Wirtschaftsbetrieb vor allem Wissen und Können zählen?

Diese Frage hatte sich schon Max Weber gestellt. Er glaubte, dass moderne Staaten in zunehmendem Maße autoritären Bürokratien gleichen würden. Hätte er den Aufstieg Chinas erleben können, würde er darin wohl die getreue Verwirklichung seiner prophetischen Vision gesehen haben.

Es ist ein Faktum, dass auch in westlichen Demokratien zwei zentrale Institutionen – die politische Ordnung und die Unternehmen der Wirtschaft – in schroffer Opposition zueinanderstehen. Da sie Zentren der Macht repräsentieren, der politischen und der ökonomischen Macht, ist jede von ihnen bestrebt, ihr jeweiliges Ordnungsprinzip auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen. Den Gewerkschaften gelang es in einigen Staaten, eine demokratische Mitsprache in einem engen Bereich zu erreichen, nämlich bei den Arbeitsbedingungen und der Lohngestaltung,[i] dennoch liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das demokratische Prinzip auf die Wirtschaft übergreift, gerade in unserer Zeit, wo Fachwissen mit jedem Tag stärker gefragt ist, nahezu bei null, während der umgekehrte Prozess, also das Übergreifen der hierarchisch-undemokratischen Unternehmensstruktur auf die politische Ordnung, immer eine reale Möglichkeit und Gefahr darstellt. Das ist mehr als nur eine theoretische Schlussfolgerung – diese Tendenz wird durch die Geschichte immer erneut bewiesen, zuletzt durch einen gewissen Donald Trump.[ii] Wenn die Mehrheit einer Bevölkerung aus schlecht gebildeten, überwiegend vielleicht sogar unwissenden Menschen besteht, welche die komplexen Probleme einer modernen Technogesellschaft nicht durchschauen, dann wählen Unwissende einen Unwissenden zu ihrem Präsidenten oder zu ihrem Repräsentanten im Parlament. Im Vergleich dazu kann eine politische Diktatur – unter bestimmten Bedingungen! – weit erfolgreicher sein, so erfolgreich eben wie ein moderner Industriebetrieb.

Jedenfalls scheint es kaum möglich, dem chinesischen Einparteiensystem und seiner Führung den geradezu sensationellen historischen Erfolg abzusprechen. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde China von einem bitterarmen Agrarland in den Rang einer Supermacht katapultiert, die den bisherigen Alphastaat, die Vereinigten Staaten, von seinem Sockel zu stürzen droht.[iii] Das Geheimnis dieses Erfolgs ist so klar zu erkennen wie bei jedem gut geführten Unternehmen. Zunächst wird ein Ziel festgelegt; bei einem Unternehmen ist das der maximale Profit. Im Fall eines Staates wie China geht es darum, das Ziel so zu bestimmen, dass die Staatsführung auf ein maximales Einverständnis bei der Bevölkerungsmehrheit zählen kann. Dieses Ziel besteht in der Beseitigung von Armut bis zur Erreichung des westlichen Wohlstandsniveaus und darüber hinaus.[iv]

Zweitens wird das Vorgehen zu dessen Verwirklichung in der kürzestmöglichen Zeit unter den geringsten Kosten nach rationalen Kriterien bestimmt. Bei einem Unternehmen besteht ein solches Verfahren meist in der Einführung eines neuen Produktes oder besserer Produktionsprozesse. In China gilt es als selbstverständlich, wissenschaftliche Experten zur Überwindung der Armut heranzuziehen. Entwicklung – 发展 (Fa Zhan) – und Wissenschaft – 科学 (Ke Xue) -, also Wissen und Können, sind die vorherrschenden Mantras – ganz im Sinne der Aufklärung. Bis heute lautet das Versprechen der Führung: „Wir machen euch alle mit jedem Tag etwas wohlhabender, aber wir können diese ehrgeizige Aufgabe nur bewältigen, wenn ihr unseren Anweisungen bis auf den Buchstaben folgt. Tut ihr das nicht, dann seid ihr Feinde unseres Aufstiegs, die wir vernichten.“

Die chinesische Führung hat bisher beide Teile ihres Versprechens wahr gemacht: einen kometengleichen Aufstieg – so gut und so detailliert durchgeplant wie bei jedem erfolgreichen Konzern – und andererseits die gnadenlose Verfolgung aller Abweichler und Dissidenten, die diesem Plan im Wege stehen.[v] Solange sie den ersten Teil ihres Versprechens weiterhin konsequent verwirklicht, steht eine Mehrheit auf ihrer Seite, und das Regime kann sich hinlänglich sicher fühlen.

Hat China die Vorgaben der Aufklärung nicht auf beispielhafte Weise erfüllt, weil Wissen und Können dort nicht allein die Lenkung von Unter-nehmen bestimmen, sondern auch die des Staates? Warum eigentlich Demokratie, müssen wir ein zweites Mal fragen, wenn die Übertragung des undemokratischen Unternehmensmodells auf die politische Ebene in China so gut funktioniert – und inzwischen von immer mehr Entwicklungsländern auf der ganzen Welt nachgeahmt wird? Warum nicht eine Elite der Wissenden, wenn in Demokratien die Gefahr besteht, dass Unwissende und Demagogen an die Spitze des Staats gelangen?

Es ist davon auszugehen, dass sich genau diese Frage viele Menschen auch im Westen stellen – vor allem führende Wirtschaftsbosse. Von jenen, die in Russland oder China ihre Geschäfte tätigen, wird man das wohl von vornherein annehmen dürfen. Wenig Zweifel dürften auch daran bestehen, dass die Freiheit, die eigene Meinung zu jedem beliebigen Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, ein Luxus von Intellektuellen ist, der einem Großteil der Menschen, nämlich all jenen, die in Armut leben, wenig bis gar nichts bedeutet. Auf diese Freiheit verzichten sie gern, wenn ihnen das Regime im Tausch für die Unfreiheit zu materiellem Aufstieg verhilft.[vi]

Ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte steht uns dazu immer noch drastisch vor Augen. Zwischen 1924 und 1928 war der Anteil der Wählerstimmen für die Nazis von 6,6 auf 2,6 Prozent geschrumpft – den Deutschen ging es allmählich wieder besser. Sie konnten sich Demokratie und Meinungsfreiheit leisten. Dann brach die große, aus Amerika nach Europa übergeschwappte Depression von 1929 über Deutschland herein und machte mit einem Schlag die bescheidene wirtschaftliche Erholung der vier vorangegangenen Jahre wieder zunichte. Zwischen Mai 1928 und September 1930 schnellte die Zahl der Arbeitslosen von 270 000 auf ca. 1 Million in die Höhe. Bis 1933 verfünffachte sie sich noch von 1 auf 5,5 Millionen. Da ließ die Not die Menschen blindlings nach einem Retter schreien.[vii] Der Anteil der Nazis an den Wählerstimmen schnellte in diesen drei Jahren von 18,3 auf 43,9 Prozent. Die Freiheit, die ihnen die Demokratie versprach – und bis dahin auch weitgehend gewährte – spielte für Familienväter, die in dieser Zeit großer Not vor Suppenküchen Schlange standen, nun gar keine Rolle mehr. Sie waren bereit, jedem Populisten zu folgen, der ihnen das Heil versprach. Die Demokratie hatte verloren.

Das könnte heute auch in den Vereinigten Staaten geschehen. Dort hat die Auslagerung der vergangenen dreißig Jahre einen großen Teil der einst in Würde lebenden Arbeiterschaft ins Prekariat abdriften lassen.[viii] Für diese Leute ist Donald Trump ein Messias, der ihnen wie Hitler, Mussolini und andere große Verführer das Heil verspricht. Der Gegensatz zwischen einer superreichen Machtelite und den breiten Massen drückt sich nicht nur bei Einkommen und Vermögen aus, sondern ebenso in Bezug auf die Bildung und die sich daraus ergebenden Chancen. Eine Handvoll amerikanischer Universitäten zählt nach wie vor zu den weltbesten, aber die breite Masse der Amerikaner liest pro Jahr weniger als ein einziges Buch. Donald Trump ist ein Repräsentant dieser Schicht. Darin liegt eine wirkliche Gefahr, da ein Minimum an Bildung die Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratien ist.

Der Staat – ein moralischer Zweck mit technischen Mitteln

It is particularly crucial to remember that elections are not a method for discovering truth. Rather, they are a method for maintaining order by adjudicating between people’s conflicting desires. Harari

Democracy is based on the understanding that the people is never a unitary entity and therefore cannot possess a single will. Harari

Fassen wir zusammen: Die Haltung der Aufklärer zur Demokratie fiel zwiespältig aus, je nachdem ob von Privilegien die Rede war oder von Wissen und Können. Den Aufklärern standen die Dynastien aus Herrscherfamilien vor Augen, die nicht selten Jahrhunderte lang an der Spitze des Staates standen. Es war das Privileg der Erblichkeit von Macht, dass die großen Denker des 18. Jahrhunderts unnachsichtig bekämpften. In einer Demokratie kann ein schlechter Staatsmann abgewählt werden, in einer Diktatur ist diese Ablöse nur nach katastrophal verlorenen Schlachten oder verheerenden Bürgerkriegen möglich ….


[i] Ulrike Herrmann (2022) beschreibt die Rolle der Gewerkschaften treffend und nur scheinbar paradox, wenn sie feststellt: „Die Gewerkschaften sind die Retter des Kapitalismus.“

[ii] Aber Wirtschaft ist kein monolithisches Gebilde. Während die Erzeugung von Produkten in der Regel ein hohes Maß an Wissen und Können verlangt, setzt der Handel die Kunst der Überredung und der psychischen Beeinflussung voraus, also eher Fähigkeiten schauspielerischer Art. Auf Wissen und Können, d.h. auf sachliche Kompetenz, kann im Extremfall auch völlig verzichtet werden. Produktion und Handel sind demnach zwei grundverschiedene Teile der Wirtschaft. Jedermann weiß, in welchem Bereich Donald Trump sozialisiert worden ist.

[iii] Ray Dalio: Deng died on February 19, 1997, having transformed China almost beyond recognition. When he came to power, 90 percent of the population lived in extreme poverty; at the time of his death that number had fallen by more than half, and as of the most recent data is below 1 percent. From the start of his reforms in 1978 until his death in 1997, the Chinese economy grew at an average rate of 10 percent a year, sextupling in size while experiencing an average inflation rate of just 8 percent… reserves grew from $4 billion to nearly $150 billion (inflation-adjusted to today’s dollars, its reserves grew by over $250 billion)… Output per person has increased 25 times, the percentage of people living below the poverty line has fallen from 96 percent to less than 1 percent, life expectancy has increased by an average of about 10 years, and the average number of years of education has increased by 80 percent… the number of science, technology, engineering, and math (STEM) graduates that are coming out of college and pursuing tech careers in China is about eight times that in the US.

[iv] Die größte Armut wurde zwar in erstaunlichem Tempo beseitigt, aber es „ist doch nicht auszuschließen, dass die in China weltweit höchste Einkommensungleichheit und das in miserablen Verhältnissen lebende Subproletariat der ländlichen Arbeitsmigranten eine politische Sprengkraft entwickeln, die das nach außen hin so unerschütterlich erscheinende Regime Xi Jinpings zum Wanken bringt“ (Münkler 2023).

[v] Ray Dalio äußert sich dazu in folgender Weise: When they are in a superior position, the Chinese tend to want a) the relative positions to be clear (i.e., the party in a subordinate position knows that it is in a subordinate position), b) the subordinate party to obey, and c) the subordinate party to know that, if it doesn’t do so, it will be punished. That is the cultural inclination/style of Chinese leadership.

[vi] Francis Fukuyama sagt es treffend und rundheraus: “A modernizing dictatorship can in principle be far more effective than a democracy in creating the social conditions that would permit both capitalist economic growth and, over time, the emergence of a stable democracy.”

[vii] Und da ist es dann auch ganz gleich, ob dieser eine rechte oder linke Couleur aufweist. Hierzu Francis Fukuyama 2020: „Die linken Parteien verlieren seit mehr als hundert Jahren an die Nationalisten, und zwar gerade in den armen und arbeitenden Bevölkerungsschichten, die eigentlich ihre stärkste Basis sein sollten.“

[viii] Fukuyama 2020: “Zwischen 2000 und 2016 verzeichnete die Hälfte der Amerikaner keinen Anstieg ihrer Realeinkommen; der Anteil der nationalen Wirtschaftsleistung, der an das oberste 1 Prozent geht, stieg von 9 Prozent des BIP im Jahr 1974 auf 24 Prozent im Jahr 2008.”

Trumps Mission MASA

Außer ein paar Gedenktafeln und einer Reiterstatue von Dschingis Khan erinnert in der eher trostlosen Stadt Ulaanbaatar nichts daran, dass dieser abgelegene Flecken einst der Mittelpunkt der Erde war, damals als die Weltherrschaft der Mongolen nahezu den ganzen eurasischen Kontinent umspannte – von China über Persien und den Irak bis nach Russland. Und wer heute dem kleinen Österreich inmitten der Berge seinen Besuch abstattet, vermag sich schwerlich vorzustellen, dass Wien jahrhundertelang über einen Vielvölkerstaat herrschte. Was soll man da noch über England sagen, dass bis vor etwas mehr als hundert Jahren die vorherrschende Industriemacht war, auf seinem Höhepunkt mehrere Kontinente zugleich regierend? Heute hat es nahezu alle seine großen Industrien verloren. Es wäre ein Armenhaus, wäre ihm nicht der Finanzsektor und das Öl vor seinen Küsten verblieben. Sic transit gloria mundi!

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Nexus oder Harari, der Visionär

Welch eine Biografie! Die Spannweite dieses großen Denkers erstreckt sich von „Sapiens – a brief History of Mankind“ bis zu „Nexus – A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI“. Damit umfasst dieser Überblick nicht weniger als drei Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte. War das große Anfangswerk „Sapiens“ noch durchdrungen von jener Wissenschaftseuphorie, zumindest von jenem Erstaunen vor ihren demiurgischen Leistungen, wie wir sie schon von Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert kennen, so überrascht uns Nexus mit seiner radikalen Wissenschaftsskepsis.

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Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege

Die Genfer Konvention von 1949 hat Kriegsverbrechen definiert, indem sie spezifische Regeln aufstellte, wie Kriege keinesfalls geführt werden dürfen. Die Schonung der Zivilisten steht da an erster Stelle. Diese Übereinkunft war ein großartiger Versuch, der Humanität zum Sieg zu verhelfen. Das Bemühen war allerdings von vornherein zum Scheitern verdammt. Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege weiterlesen

Dichtung und Wahrheit – die Wissenschaftsreligion

Die gerade angebrochene Epoche seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde von dem niederländischen Chemiker Paul Crutzen als „Anthropozän“ bezeichnet – eine Geschichtszäsur, die für ihn durch eine ausufernde Umgestaltung der Umwelt durch den Menschen gekennzeichnet sei. Doch abgesehen davon, dass diese Bezeichnung in der Wissenschaft nicht allgemein anerkannt wird, stellt sie nur auf ein äußeres Merkmal ab. Es wäre viel richtiger, das geistige Fundament dieser Revolution zu benennen. In diesem Fall müsste man von unserer Zeit als dem Zeitalter der Wissenschaften sprechen – Scientiazän, wenn man unbedingt einen knappen Begriff dafür sucht.

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Sind wir noch zu retten?

Mit einer solchen Frage konfrontiert, werden dem kritischen Leser mehrere Gegenfragen einfallen. Wer sei denn hier mit „wir“ gemeint? Und wovor seien die Gemeinten zu retten? Wer versteige sich überhaupt zu einer solchen Frage? Sind wir noch zu retten? weiterlesen

Der Preis der Freiheit

Es ist noch nicht lange her, da wollten uns die Politik und selbst ein Teil der Wissenschaft davon überzeugen, dass sich Demokratie schon bald über die ganze Welt ausbreiten würde, so als folge die Geschichte damit einer Art von teleologischem Gesetz. Die historische Evidenz hat zwar immer gegen eine solche Auffassung gesprochen, aber die Vernunft und unsere Gefühle für Recht und Unrecht schienen klar dafür zu stimmen. Der Preis der Freiheit weiterlesen

Natural versus Artificial Intelligence

Recently, the world has been shaken by a hitherto unknown fever, its name: Artificial Intelligence or AI. Given the clever answers that a program like ChatGPT gives to arbitrary questions within seconds, the collective excitement is understandable. Some people even believe they are talking to more than merely an intelligent machine; they imagine they are communicating with a compassionate human being. Yuval Noah Harari sees an apocalyptic time dawning where we will all be puppets of artificial intelligence.

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Natürliche versus Künstliche Intelligenz

Seit neuestem wird die Welt von einem bisher unbekannten Fieber geschüttelt, sein Name: Künstliche Intelligenz, KI (oder Artificial Intelligence AI). Angesichts der klugen Antworten, die ein Programm wie ChatGPT innerhalb von Sekunden auf beliebige Fragen erteilt, ist die kollektive Aufregung verständlich. Mancher Auskunftsuchende wähnt, dass da mehr als nur eine überaus intelligente Maschine mit ihm kommuniziert, er bildet sich ein, mit einem mitfühlenden Wesen zu reden. Yuval Noah Harari glaubt sogar, eine apokalyptische Zeit heraufdämmern zu sehen, wo wir alle nur noch Marionetten der künstlichen Intelligenz sein werden.

Lassen wir den trügerischen Eindruck, dass uns KI Gefühle entgegenbringt, zunächst einmal beiseite. Was die Intelligenz betrifft, so ist unser Erstaunen über ihr beinahe grenzenloses Wissen durchaus gerechtfertigt. ChatGPT wie auch jedes andere Programm dieser Art vermag im Prinzip auf das Wissen der ganzen Menschheit zuzugreifen, wie es in schriftlicher Form (aber auch in Bild oder Ton) gespeichert wurde. Es leuchtet ein, dass kein einzelnes Gehirn mehr als nur einen vergleichsweise infinitesimal kleinen Ausschnitt dieses kollektiven Schatzes abrufen kann. Insofern ist künstliche Intelligenz eine Errungenschaft, welche der natürlichen Intelligenz theoretisch gleich auf zweifache Weise nahezu unendlich überlegen und für Letztere auch unerreichbar ist. Erstens dadurch, dass sie sich das Wissen aller lebenden Menschen anzueignen vermag (sofern dieses gespeichert wurde), zweitens dadurch, dass sich dieses Wissen um den Faktor Zeit nahezu beliebig vermehren lässt, nämlich um das Wissen früherer Generationen (sofern es in irgendeiner Form aufbewahrt worden ist).

Damit ist nicht weniger als ein Quantensprung gegenüber der natürlichen Intelligenz vollzogen. Wenn ich ChatGPT eine elementare Frage stelle wie „Warum erfreuen sich Menschen an Blumen?“, dann wertet das Programm einerseits sämtliche zuvor gespeicherten Quellen im Hinblick darauf aus, wo Blumen im Zusammenhang mit Freude genannt worden sind, während es andererseits auch noch auf einen breiten Fächer der Mustererkennung zurückgreift – ganz wie das menschliche Gehirn. Es muss zwischen Frage und Antwort unterscheiden, zwischen relevanten und weniger relevanten Antworten, die es zudem noch nach verschiedenen Aspekten unterteilt: ästhetisch (Blumen als schöne Gegenstände), symbolisch (Blumen als Ausdrucksmittel der Verehrung usw.), kulturell (Blumen als Geschenk), Naturverbundenheit, positive Wirkung auf den Menschen etc. Würde ChatGPT ausschließlich auf Texte anderer als europäischer Kulturen oder gar auf die Überlieferungen früher Stammeskulturen zugreifen, dann ergäben sich wiederum andere Antworten und andere Kategorisierungen. Würden die Systemadministratoren dieses hingegen in erster Linie mit den Äußerungen von Geisteskranken und Verschwörern füttern, erhielte man wiederum ein völlig anderes Bild. Bei Fragen nach der politischen Relevanz von Blumen und Schönheit würden wir neuerlich andere Antworten erhalten, je nachdem ob die künstliche Intelligenz in Russland, China oder Nordkorea oder aber in Deutschland, Südkorea oder den USA programmiert worden ist. Auch die Antworten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder aus der Zeit Luthers würden eine andere Gewichtung verraten. Die künstliche Intelligenz ist daher genauso wenig „objektiv“ wie die natürliche, da sie von Menschen einer bestimmten Zeit mit Inhalten aus einer bestimmten Zeit programmiert wird. Bei ChatGPT fehlt zudem auf, dass bei vielen Antworten vor rassistischen Auslegungen gewarnt wird. Wer würde nicht sofort erkennen, dass diese Systeme in den USA entwickelt wurden? Die Gewichtung der Antworten verrät uns, wie sehr diese durch den Zeitgeist und die jeweilige kulturelle Orientierung geprägt sind.

Eine Ausnahme bilden nur die Auskünfte über beliebig wiederholbare Ereignisse, wie sie in erster Linie Gegenstand der Naturwissenschaften sind. Hier besteht Objektivität darin, dass wir auf die gleichen – im Experiment gestellten – Fragen die gleichen Antworten erhalten. Darauf ist noch zurückzukommen.

Die künstliche Intelligenz verhält sich keineswegs nur passiv. Anders gesagt, imitiert sie nicht nur, sondern ist ihrerseits produktiv. Zum Beispiel ist sie imstande, neue Verse im Stil von Goethe oder Heine zu produzieren, in denen – sagen wir – Thymian- oder Fantasieblüten vorkommen sollen. Je nach Entwicklungsgrad der künstlichen Intelligenz sind diese Versuche eher plump oder bereits so gelungen, dass selbst Kenner die neuen Verse nicht von den originalen zu unterscheiden vermögen. Das Programm verfährt dabei prinzipiell auf die gleiche Weise wie ein geschulter lebender Nachdichter. Aufgrund seines umfassenden Wissens der gespeicherten Originaltexte weiß ein Nachdichter ziemlich genau, welche Wendungen und Worte vorzugsweise infrage kommen. Jede gelungene Fälschung setzt solches Wissen voraus. Wenn künstliche Intelligenz die Schriften, die Worte, die Bilder oder auch Kompositionen eines lebenden oder toten Individuums nachahmt, wird sie zum perfekten Fälschungsprogramm. Perfekt bedeutet, dass der in Schrift, Wort, Bild oder Komposition Nachgeahmte das betreffende Thema genau so produziert haben könnte. Hier handelt es sich nicht mehr um bloße Imitation, denn der jeweilige Stil wird auf neue Elemente (z.B. Thymianblüten oder neue Themen bezogen). Aus diesesr Fähigkeit des Programms, produktiv zu fälschen, ergeben sich Gefahren, die bei den derzeitigen Diskussionen um künstliche Intelligenz im Brennpunkt stehen.

Wenn künstliche Intelligenz der natürlichen so nahekommt, wenn sie also nicht nur zur Nachahmung sondern zu eigener Produktion fähig ist, läuft diese Feststellung dann nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass die natürliche menschliche Intelligenz durch die künstliche auch völlig ersetzt werden kann? Der erste Eindruck im Umgang mit ChatGPT scheint diesen Schluss nahezulegen, zumal viele ihrer Erfinder und Propagandisten eine solche Folgerung ausdrücklich bestätigen.

Und doch wäre sie völlig falsch. Zwar ist es unbestreitbar, dass die künstliche der natürlichen Intelligenz weit überlegen ist, weil der Einzelne niemals so viel Wissen zu speichern vermag wie ein Kollektiv. Das Gegenteil trifft aber genauso zu: die künstliche Intelligenz ist der natürlichen qualitativ hoffnungslos unterlegen – und dieser Unterschied ist genauso unaufhebbar.

Nehmen wir an, dass ChatGPT bald so weit vervollkommnet wird, dass das Programm nicht nur – wie schon jetzt der Fall – zu jedem beliebigen Thema recht plumpe Verse im Stil Goethes oder Schillers zu produzieren vermag, sondern dass diese Verse von den historisch gesicherten schon in naher Zukunft nicht mehr unterscheidbar sein werden. Ist der auf diese Weise erschaffene „Pseudo-Goethe“ dann nicht schlicht und einfach ein zweiter Goethe, der ganz an die Stelle des ersten treten und diesen sozusagen durch unendliche Produktivität nicht nur ersetzen sondern weit überflügeln könnte? Und würde das nicht ebenso für einen Pseudo-Mozart und einen Pseudo-Picasso gelten, wenn künstliche Systeme deren Produkte perfekt nachahmen und vervielfältigen?

An diese Frage schließt sich unmittelbar eine andere und viel weitreichendere an. Können diese künstlichen Produzenten nicht schließlich ganz an die Stelle des Menschen treten und seine natürliche Intelligenz durch eine maschinelle ablösen? Ich habe zuvor darauf hingewiesen, dass unter den Enthusiasten der künstlichen Intelligenz viele genau auf dieser Folgerung bestehen.

Aber auf solche Mutmaßungen gibt es eine eindeutige Entgegnung, und sie ist negativ. Zwar trifft es zu, dass die perfekte künstliche Intelligenz einen Pseudo-Goethe erschaffen könnte, dessen Verse von denen des Meisters nicht zu unterscheiden sind, weil jedes vorhandene Zeichengebilde (sei es Wort, Ton, Bild etc.) sich exakt nachbilden und durch Umordnung der Elemente im selben Stil neu produzieren lässt. Die einzige Unterscheidungsmöglichkeit liegt dann in dem historischen Nachweis, dass Goethe diese Verse zu seinen Lebzeiten nie geschrieben hat. Wenn Videos von Politikern veröffentlicht werden, die von der künstlichen Intelligenz fabriziert worden sind, dann kann der Gegenbeweis gleichfalls nur durch einen historischen Nachweis erfolgen: die betreffenden Politiker haben diese Worte tatsächlich niemals gesprochen. Bei Ereignissen, die aus den Äußerungen und Handlungen von lebenden Individuen bestehen ist ein solcher Nachweis allerdings schwierig und oft unmöglich, weil sich entweder gar keine oder nur eine begrenzte Zahl von Augenzeugen ermitteln lassen.

Auf der symbolischen Ebene von künstlich produzierten Bildern, Tönen und Texten ist eine perfekte Fälschung nur noch durch die Konfrontation mit etwas ganz anderem zu entkräften: durch Konfrontation mit der Wirklichkeit. Gab es zur Zeit x am Ort y wirklich das in Ton, Bild oder Text dargestellte reale Ereignis oder ist es eine Erfindung der künstlichen Intelligenz? Solche Fragen werden in Zukunft sehr schwer zu beantworten sein, denn die Wirklichkeit außerhalb unseres jeweils eigenen Lebens- und Arbeitsraums befindet sich zu weit über neunuendneuzig Prozent jenseits unserer realen Erfahrung. Wir sind daher auf die Re-Präsentation der Wirklichkeit, also auf andere Fotos, Videos etc. angewiesen, auf denen dann etwa gezeigt wird, dass ein bestimmter Politiker zu der genannten Zeit und an dem genannten Ort diese oder jene Worte eben nicht gesprochen oder sich dort überhaupt nicht befand. Es stehen sich also immer nur verschiedene einander möglicherweise widerstreitende Re-Präsentationen des Wirklichen gegenüber, denn das wirkliche Ereignis kennen wir nicht und werden es – da es der Vergangenheit angehört – auch niemals kennen lernen. Diese Tatsache macht es unendlich schwer und oft unmöglich, eine perfekte Fälschung von einer wahren Re-Präsentation des Ereignisses zu unterscheiden. Die künstliche Intelligenz wird damit zu einem Instrument der Produktion von Fakes, d.h. von Abbildern einer Wirklichkeit, die so niemals existierte aber so hätte existieren können.

Fälschungen sind nicht neu, die natürliche Intelligenz war dazu immer schon in der Lage. Die künstliche Intelligenz ahmt daher nur eine Fähigkeit nach, die schon seit Jahrtausenden existiert, nämlich so lange Künstler fiktive Wirklichkeiten erdachten – in Romanen, auf Gemälden etc. Doch in diesen Fällen wussten wir immer, dass es sich um Fiktionen handelt. Genau das ist bei den Fakes der KI nicht länger der Fall. Da wir nicht in der Lage sind, durch direkte Erfahrung einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen und eine falsche Repräsentation der Wirklichkeit als solches zu erkennen, ist eine Entscheidung zwischen wahr und falsch unmöglich. Insofern konfrontiert uns die künstliche Intelligenz mit einer historisch einmaligen Entwicklung.

Damit ist das zerstörerische Potenzial der künstlichen Intelligenz benannt. Es bleibt, wie schon oben gesagt, nur in jenen Bereichen unwirksam, wo wir es mit beliebig wiederholbaren Ereignissen zu tun haben. Wenn eine Hausfrau aus Kenia behauptet, Wasser bei 10 Grad Celsius zum Kochen gebracht zu haben oder ein Schamane darauf besteht, dass die Einnahme von Knoblauch ihm zur Levitation verhelfe, dann lassen sich diese und ähnliche Behauptungen sehr schnell durch das Experiment widerlegen. Jedes einmalige Ereignis lässt sich fälschen, weil wir die Fälschung nicht durch Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit zu entlarven vermögen. Wiederholbare Ereignis lassen solche Fälschung nicht zu. Im Bereich der Wissenschaften wird die künstliche Intelligenz daher ihre größten Erfolge feiern und den geringsten Gefahren ausgesetzt sein.

So lässt sich schon jetzt absehen, dass die künstliche Intelligenz das Potenzial aufweist, den Wissenschaften einen gewaltigen Aufschub zu bescheren, während sie zur gleichen Zeit den moralischen Kosmos zerstört, weil sich wahr und falsch im ersten Fall leicht voneinander unterscheiden lassen, während das im zweiten Fall sehr oft unmöglich ist. Schaden und Nutzen der künstlichen Intelligenz gleichen einander allerdings keineswegs aus. Die richtige Lebensführung, also der moralische Kosmos, ist für den Einzelnen wie für ganze Nationen weitaus wichtiger als die richtige Erkenntnis, die letztlich immer im Dienste der ersteren steht. 

Noch einmal gefragt: Kann die künstliche Intelligenz die natürliche ersetzen? Diese Frage wurde bereits verneint, aber wir können unsere Antwort jetzt umfassender begründen. Der künstlichen Intelligenz fehlt der Sockel der Wirklichkeit, durch welche die natürliche Intelligenz überhaupt erst zustandekommt. Dieser Unterschied ist von grundlegender Art.

Wie entsteht natürliche Intelligenz? Sie ist genetisch durch Jahrtausende lange Erfahrung der menschlichen Gattung im Umgang mit der Wirklichkeit entstanden. Aber die genetische Disposition ist nur das Gefäß, dass für die ganz neue Erfahrung eines gerade geborenen Erdenbürgers diesem bereitgestellt wird. Wenn ein Kind in den sprachlichen Kosmos einer bestimmten Zeit und Kultur hineingeboren wird, dann liefern ihm seine Sinnesorgane visuelle, akustische und andere Reize, auf die es seinerseits emotional, d.h. mit Zuwendung oder Abneigung, reagiert. Diesen sinnlichem Geschehen ordnet es die in der jeweiligen Kultur vorhandenen Zeichensprachen zu (Wörter und Sätze, später auch Schrift, Musik etc. zu). Anders gesagt, hüllt die natürliche Intelligenz das von den Sinnesorganen gelieferte Material in das jeweils vorhandene kulturelle Gewand, weitet dieses in der Reaktion auf neue Wirklichkeiten jedoch beständig aus, zerreißt es auch manchmal, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinzustimmen scheint. Die Dialektik zwischen individueller Wahrnehmung der Wirklichkeit und deren kollektiver Re-Präsentation ist ein ständiger, nie endender Prozess – das herausragende Merkmal der natürlichen Intelligenz.

Dieser Prozess fehlt der künstlichen Intelligenz, weil sie über keine Organe zum Erkennen der Wirklichkeit verfügt. Wenn wir diese Intelligenz danach fragen, warum Blumen den Menschen Freude bereiten, dann mögen uns ihre Antworten noch so intelligent, wissend oder sogar weise erscheinen. Aber diese Intelligenz, dieses Wissen und diese Weisheit beruhen nicht auf eigener Erfahrung. Die KI hat niemals eine Blume wahrgenommen und niemals Freude dabei empfunden. Denn sie hat keine Augen, keine Ohren, kein Tastorgan, keine emotionale Erfahrung. All das bezieht sie immer nur aus zweiter Hand.

Anders gesagt, fehlt der künstlichen die für die natürliche Intelligenz konstituierende Dimension: der unmittelbare Input durch die Wirklichkeit. Das Material, über das sie verfügt, ist immer nur ein Abklatsch des Wirklichen, ihre Re-Präsentation wie sie in Millionen von Texten, Bildern etc. gespeichert ist. Wenn uns ChatGPT überraschend kluge Auskünfte darüber ereilt, warum Blumen dem Menschen so viel bedeuten oder warum es moralisch verwerflich sei, andere Menschen zu verletzen – und wenn sie das überdies noch in Worten tut, die wir selbst nicht überzeugender formulieren könnten – dann sind wir intuitiv verleitet, der Maschine dieselbe, vielleicht sogar eine höher entwickelte Fähigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zuzuschreiben als uns selbst. Doch genau hier irren wir. Die Maschine hat nur alle jene Äußerungen Zehntausender anderer Menschen über die Blume gespeichert, die wir persönlich nicht übertreffen können. Denn genau das ist es, was die Maschine uns sagt. Während du selbst beim Anblick eines überwältigend schönen Blumenstraußes vielleicht nur ein ergriffenes Ah! über die Lippen bringst, überrascht sie dich mit dem Vers eines klassischen Dichters, der deine Empfindung weit besser zum Audruck bringst als du selbst es vermagst. Und weil dich diese Überlegenheit begreiflicherweise erschüttert, traust du der Maschine zu, was ihr absolut fehlt: unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis und eigenes Wiirklichkeitserleben.

In Wahrheit fühlt, denkt, sieht, hört die Maschine absolut nichts, während ihre Algorithmen unendliche binäre Sequenzen von 000en und 11111en ausspucken, die es jeweils in die Worte und Sätze einer historischen Sprache überträgt. ChatGPT hat sein nahezu unendliches Wissen nicht wie das Kind und jeder lebende Mensch durch den Umgang mit der Wirklichkeit erworben, auf der für den Menschen alle symbolische Repräsentation beruht. Für die künstliche Intelligenz ist der einzige Bezugspunkt diese Re-Präsentation selbst. Anders gesagt, wertet sie gespeicherte binäre Sequenzen von 0en und 1ern aus, um auf entsprechende Fragen (binäre Sequenzen) die durch das Programm vorgesehenen Antworten zu erteilen.

Damit ist die ganz zu Anfang angeschnittene Frage der „Einfühlung“ beantwortet. Die Maschine fühlt absolut nichts, weil ihr der emotionale Sockel der Wirklichkeitserfahrung fehlt. Daraus ergibt sich ein zweites Manko. Unter Auswertung der vorhandenen Quellen kann sie zwar einen Pseudo-Goethe, Pseudo-Schiller, Pseudo-Picasso erschaffen, aber keine zukünftigen großen Dichter, Maler oder Komponisten, die aufgrund einer neuen Wirklichkeitssicht neue Symbolsprachen erschaffen. Die künstliche Intelligenz kann nur Vorhandenes imititeren und neu kombinieren, aber es ist ihr prinzipiell verwehrt, im Ringen mit der Wirklichkeit neue symbolische Welten zu erschaffen, wie dies der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen Existenz in einem fort tat und in Zukunft weiterhin tun wird. Diese Limitation der künstlichen Intelligenz scheint in dieser Hinsicht unüberwindbar.*1*

Manche KI-Enthusiasten werden gegen diese Feststellung protestieren. Tatsächlich gibt es in der Robotik zahlreiche Beispiele für die Verwertung von Signalen aus der Wirklichkeit. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel. Ein eingebauter Temperatursensor sorgt dafür, dass ein „künstlicher Kellner“, der die Aufträge von Gästen entgegennimmt und die Speisen anschließend zu ihnen verteilt, nicht nur optische Reize auswertet, um die richtigen Tische zu bedienen sondern auch noch temperaturempfindlich ist, so dass er einem Ofen ausweichen kann oder Speisen zurückbringt, wenn sie nicht länger warm sind. Im Prinzip könnte man der Maschine auch noch ein Sprachprogramm einbauen, damit der Maschinenkellner Fragen der Gäste vernünftig beantwortet. Seine optischen Sensoren könnten ihm überdies auch Alter und Geschlecht der Gäste richtig abschätzen und seine Antworten danach bis zur scheinbaren „Einfühlung“ in die Sprache der Kinder modifizieren lassen. Diese und viele andere Sensoren zur Wirklichkeitsabbildung sind denkbar und werden heute auch schon verwendet. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie auch nur annähernd die Komplexität der Sinneserfahrung lebender Wesen oder gar von Menschen erreichen. Diese Maschinen mögen technisch noch so vielschichtig sein. Sie sind trotzdem tote Geräte, denn im Unterschied zu wirklichen Lebewesen spüren sie nichts dabei, wenn wir sie dann irgendwann verschrotten. Die Tatsache, dass sprechende Puppen in Altersheimen immer öfter zum Ersatz für lebendige Menschen werden und dass ihnen Fantasie oder Demenz ein eigenes Leben zuschreiben wird, vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern.

Die alte Frankensteinfrage ist damit allerdings nicht beantwortet. Wird eine Maschine an irgendeinem Punkt lebendig, wenn man die Wirklichkeitssensoren und Signale stetig vermehrt, um sich sozusagen asymptotisch dem Sockel aus optischen, akustischen, olfaktischen, haptischen und emotionalen Signalen anzunähern, die jeder normale lebende Mensch von Geburt aus sein eigen nennt? Die Komponenten dafür sind jedenfalls schon vorhanden; es spricht nichts dagegen, dass wir sie mit der Zeit beliebig vervollkommen könnten. Wird es auf diese Weise möglich sein, den Menschen sozusagen immer vollkommender nachzubauen, sodass irgendwann auf diesem Wege der Umschlag von einer toten Maschine in ein lebendes Wesen erfolgt? Wird eine solche Maschine dann plötzlich ein Bewusstsein entwickeln?

Angesicht unserer vorausgehenden Definition der natürlichen Intelligenz als die Fähigkeit, über dem Sockel der Wirklichkeitserfahrung deren symbolische Repräsentation zu erbauen, wäre diese Möglichkeit nicht grundsätzlich auszuschließen – dann nämlich, wenn es gelänge, die maschinelle Sensorik der beim Menschen vorhandenen mehr und mehr anzugleichen. Aber diese Überlegung lässt uns sofort erkennen, dass unsere Definition der natürlichen Intelligenz immer noch unzureichend ist. Es gibt lebende Wesen – das gesamte Pflanzenreich gehört dazu – die kein Bewusstsein in der Art des Menschen aufweisen, weil ein solches Bewusstsein keinen biologischen Sinn ergäbe. Ein Baum kann sich den eigenen Standort nicht aussuchen, er braucht daher keine Sensorik, um optimale Standorte zu ermitteln. Die eigenständige Reaktion auf Umweltsignale ist bei Pflanzen auf elementare Vorgänge reduziert, z.B. die Ausrichtung zum Licht. Bewusstsein ergibt einen biologischen Sinn nur für aktiv in ihre Umwelt eingreifende Lebewesen, deren Handlungen sich deshalb auch positiv oder negativ für sie auswirken. Doch selbst unter dieser Voraussetzung sind immer noch unbewusste triebhafte Reaktionen möglich, wenn sie auf Ja-Nein-Alternativen reduziert werden können – wie etwa bei Annäherung an eine Feuerquelle, denn vor zu großer Annäherung an eine solche schrecken wir intuitiv zurück. Da genügt ein einfacher Sensor statt eines Bewusstseins. Erst wenn die Umwelt ein Lebewesen mit Reizen von großer Komplexität konfrontiert, entsteht Bewusstsein als die Fähigkeit, Entscheidungen zwischen immer mehr Möglichkeiten zu treffen. Die Stimuli von Belohnung für richtiges und Bestrafung für falsches Verhalten (Freude und Schmerz) spielen da eine zentrale Rolle. Ohne sie würde es kein Bewusstsein geben, weil es biologisch ein überflüssiger Luxus wäre.

Bewusstsein ist zudem nicht identisch mit Wissen. Selbst den primitivsten Organismen muss ein evolutionär erworbenes Wissen einprogrammiert sein, damit sie ihrer jeweiligen Umwelt optimal angepasst sind. Bewusstsein ist dagegen sehr viel mehr als bloßes Wissen. In ihrer heutigen Form verfügt die künstliche Intelligenz über ein nahezu unbegrenztes Wissen und ist doch nicht mehr als eine tote Maschine. Um über Bewusstsein zu verfügen, müsste die Maschine Schmerz und Freude wie natürliche Wesen empfinden und sie nicht nur – wie jetzt der Fall – auf der symbolischen Ebene nur imitieren. Einen biologischen Sinn würde das aber nur ergeben, wenn die Maschine dem Schmerz aufgrund eigener Entscheidungen ausweichen und die Freude ebenso suchen kann.

Fazit: Die KI-Maschinen erstaunen uns damit, dass sie mit Engels- und Teufelszungen reden, und doch sind sie emotional tot und ohne eigene Wirklichkeiterfahrung – dabei wird es mit größter Wahrscheinlichkeit bleiben.*2* Apokalyptische Voraussagen wie die von Harari, wonach die künstliche Intelligenz den Menschen schon bald beherrschen und unterjochen werde, darf man getrost als Sensationshascherei übergehen. Ihre nachweisbaren Wirkungen sind auch so schon weitreichend genug. Einerseits ist künstliche Intelligenz im moralischen Kosmos das Gegenstück zur Atombombe im physischen: Sie hat das Potenzial, den moralischen Kosmos nachhaltig zu sprengen und zu zerstören – mit allen vorhersehbaren Auswirkungen für Politik und Gesellschaft. Andererseits wird sie der Wissenschaft und der Industrie zweifellos einen gewaltigen Auftrieb geben.

1 Die Sprachwissenschaft leidet besonders unter dieser Einschränkung. Sie stellt mittlerweile zwar – nahezu – perfekte Übersetzungsprogramme her, aber alle Übertragungen von einer Sprache in eine andere ergeben sich als reine Trans-Formationen: die sprachliche Form einer Sprache A wird unter Anwendung entsprechender Algorithmen in die sprachliche Form einer Sprache B übertragen. Dass die natürliche Intelligenz auf völlig andere Weise verfährt (wie oben am Beispiel kindlichen Lernens illustriert), wird bei diesem Verfahren ausgeklammert. Die natürliche Intelligenz übersetzt den Wirklichkeitsinput zunächst in Begriffe (aus dem Kontinuum elektromagnetischer Lichtwellen macht sie beispielsweise einzelne Farben wie rot, gelb usw. – ich spreche von Bedeutung). Das immaterielle Substrat der Bedeutung wird dann in Form (also in Lauten, Gesten oder anderen Zeichen) materialisiert (ich spreche von der „Realisierung der Bedeutung durch die Form“).

Die Idee, das Vorgehen der natürlichen Intelligenz in der Sprachwissenschaft nachzubilden, also den Sockel der Wirklichkeit einzubeziehen, ist an sich nicht neu. Der große dänische Linguist Otto Jespersen sprach bereits von einer „notional grammar“. Steven Pinker stellt ausdrücklich fest, dass allen Sprache eine prelinguistische Bedeutung zugrunde liege, er nennt sie Mentalese und definiert diese als „The hypothetical ‘language of thought’, or representation of concepts and propositions in the brain in which ideas, including the meanings of words and sentences, are couched.“

Das Programm, Sprachen – alle Sprachen – als unterschiedliche formale Realisierungen einer – im Kern generellen – Bedeutungsstruktur aufzufassen und dementsprechend zu analysieren, wurde allerdings bisher nur als Idee entworfen. Ich habe versucht, diese Idee systematisch auszuführen. Siehe The Principles of Language – Towards trans-Chomskyan Linguistics.

Dieses Verfahren bietet keine praktischen Vorteile – die bestehenden Übersetzungsmaschinen sind, wie gesagt, sehr weit fortgeschritten. Es bietet aber die einzige Möglichkeit, um zu verstehen, warum und wie die Vielfalt bestehender und möglicher Sprachen zustandekommt und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegt. Das Interesse der von mir begründeten linguistischen Sprachwissenschaft ist theoretischer Natur.

2 Ich sehe keine Möglichkeit, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zu einem lebenden Wesen grundsätzlich auszuschließen – schon jetzt kann die Biogenetik die Bausteine der Evolution zu eigenen Zwecken manipulieren, um künstliche Wesen herzustellen. Würde es uns allerdings gelingen, diese Eingriffe so zu vervollkommnen, dass wir dabei künstliche Wesen erschaffen, die nicht nur über ein nahezu unendliches Wissen verfügen sondern auch noch Erfahrung auswerten und ein Bewusstsein entwickeln, dann wäre es unausbleiblich, dass sie sich als von uns verschieden (und noch dazu weit überlegen) empfinden. Wir hätten Grund, uns vor solchen Wesen noch mehr als vor Unseresgleichen zu fürchten – und wir sind für einander schon gefährlich genug. Durch ihre Fähigkeit zur beliebigen Fälschung aller einmaligen Ereignisse, ist die künstliche Intelligenz jetzt schon eine akute Gefahr. Der Mensch könnte nichts Dümmeres tun, als sich selbst eine Konkurrenz zu verschaffen, die diese Gefahr ins Unermessliche steigert – so wie Mary Shelley und viele Horrorfilme sie ohnehin schon seit langem beschwören.

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