Sind wir noch zu retten?

Mit einer solchen Frage konfrontiert, werden dem kritischen Leser mehrere Gegenfragen einfallen. Wer sei denn hier mit „wir“ gemeint? Und wovor seien die Gemeinten zu retten? Wer versteige sich überhaupt zu einer solchen Frage?

Fangen wir mit dem Ende an. Der Verfasser dieser Herausforderung ist jedenfalls nicht mehr zu retten. Legen wir die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Deutschen zugrunde, so liegt er statistisch gesehen bereits seit vier Jahren im Grab. Daran vermag auch die erfreuliche Tatsache nichts zu ändern, dass er sich gerade jetzt geistig wie körperlich in einer frühlingshaften Stimmung befindet. Denn der kritische Leser wird sich da von neuem mit einem Einwand melden. Ja, ja, mit falscher Greisenmunterkeit versuchen alte Leute sich und die anderen über ihren wahren Zustand zu täuschen. Ehrlich werden sie erst, wenn sie eine Frage wie die gerade genannte stellen. Dann projizieren sie den bald zu erwartenden eigenen Untergang auf die ganze übrige Welt. In anderen Worten: Pessimismus ist eine typische Alterserscheinung. Wehwehchen hier, Wehwehchen dort – daraus macht ein alter Mensch mühelos eine allseitige Krisenstimmung. Das schlimme Rheuma, das den eigenen Leib so quält, erkennt der Geplagte dann in der Luftverschmutzung der großen Metropolen wieder; einem Asthmagepeinigten leuchten die giftigen Pestizidrückstände in unserer Nahrung unmittelbar ein; seine unerträglichen Rückenschmerzen setzt er mit der unüberwindbaren Klimakrise gleich. So wird der eigene Zerfall allmählich zum Menetekel des bevorstehenden Weltuntergangs.

Dagegen schaue man sich den jungen Menschen an, der weder unter Gelenkschmerzen noch unter Atemnot oder einem Bandscheibenvorfall leidet. Statt überall nur Krisen zu sehen, freut er sich seines Lebens. Genau deswegen umgeben wir uns so gerne mit jungen Leuten und meiden die alten Jammerlappen.

Diese selbstkritischen Überlegungen müssen der Frage, ob wir denn noch zu retten seien, unbedingt vorausgeschickt werden. Es besteht der Verdacht, dass unser heutiges Krisengejammer vielleicht nur eine Alterserscheinung sei, eine Krankheit speziell des Westens, weil dort die Frauen keinen Nachwuchs mehr in die Welt setzen wollen. Die Jungen sterben aus, die Alten haben das Sagen.

Gerontokratien
Der Verdacht leuchtet ein, hält allerdings einer genaueren Prüfung nicht stand. Mit kulturübergreifender Evidenz beweist uns die Geschichte, dass alte, ja, sehr alte Menschen vorzugsweise die höchsten Posten besetzen (man denke an Biden, Trump, Putin etc.). Während der vergangenen zehntausend Jahre war die vorherrschende Regierungsform nicht Demokratie, Aristokratie oder Tyrannei son-dern Gerontokratie – die Herrschaft der Greise. Nicht junge Menschen, die in der Regel zwischen fünfzehn und dreißig Jahren ihre größten intellektuellen Leistungen vollbringen, wurden und werden von den Bürgern an die Macht gerufen, sie ziehen Menschen vor, die sich auch als Kandidaten fürs Altersheim eignen.

Warum das so ist, hat uns vor Jahren eine deutsche Partei verraten, als sie den Spruch „Keine Experimente“ zu ihrem Wahlslogan erhob. Gewagte Experimente, die immer auch schiefgehen können, sind die Sache der Jugend; Greise halten sich an das Gewohnte, das Verlässliche, das Hergebrachte. Deshalb waren und sind Gerontokratien – Greisenherrschaften – weltweit das bevorzugte Modell.

Gesunder Optimismus
Doch ist damit erst die halbe Wahrheit ausgesprochen, denn eines haben die Alten den Jungen zweifellos voraus: eine weit größere Lebenserfahrung. Sie sehen nicht nur die lichte Vorderseite einer Medaille sondern haben auch die dunkle Rückansicht kennengelernt. Die pflegen junge Menschen zu übersehen, sie wollen und sollen sie gar nicht sehen. Wir wissen: jede normale Mutter schirmt ihr Kind bewusst gegen die Erfahrung von Schrecken, Hass und Grausamkeit ab. Die Einsicht, dass auf den neuen Erdenbürger nicht nur Freuden warten sondern vielleicht auch furchtbares Leiden, wird so lange wie möglich abgewehrt. Wir lieben die Naivität junger Menschen, die solches Alterswissen noch nicht besitzen. Wir bewundern sie sogar, wenn sie mit stürmischem Optimismus daran glauben, dass es nur der richtigen Einstellung, des rechten Glaubens oder eines vernunftgeleiteten Handelns bedarf, um sämtliche Probleme dieser Welt zu bemeistern.

Wer sich diesen jugendlichen Optimismus bewahrt, wird die im Titel ausgesprochene Frage deshalb auch als unzumutbar von sich weisen. Die Antwort des Optimisten erfolgt wie aus der Pistole geschossen. Ja, wenn wir den Kapitalismus abschaffen; wenn wir den Faschismus ausrotten; wenn wir den diktatorischen Kommunismus beseitigen; wenn wir die Ungleichheit zwischen Mann und Frau und zwischen Arm und Reich überwinden; wenn Korruption der Vergangenheit angehört; wenn endlich Schluss gemacht wird mit der Ausbeutung der Länder des globalen Südens und der Unterdrückung der Minderheiten; wenn wir all diese Übel aus der Welt geschafft haben, dann ist die Welt natürlich zu retten, dann werden wir sie in ein Paradies verwandeln!

Nachdenken über den Kapitalismus
Solange es junge Menschen gibt und den Optimismus, der sie am Leben und Wirken erhält, werden sie das eine oder andere von den genannten oder ähnli-chen Heilsrezepten verkünden und mit unerschütterlicher Gewissheit an die davon erhoffte Rettung glauben. Der zugrundeliegende psychische Mechanismus ist stets derselbe. Wir benennen und erklären zunächst einmal das Übel, dann verschreiben wir die Medizin, die dagegen angeblich hilft. Schließlich wenden wir sie an. Menschliche Geschichte besteht weitgehend aus diesen drei aufeinanderfolgenden Schritten: Ein Übel wird erkannt, eine Medizin verschrieben und ihre Anwendung in die Tat umgesetzt.

Leider gehört es zu den wenig erfreulichen Alterseinsichten in die Conditio Humana, dass keiner dieser drei Schritte wirklich verlässlich ist, geschweige denn Heilung verspricht. Betrachten wir zum Beispiel den Kapitalismus, der vielen als Erfindung des Teufels gilt. Den wir daher auch vollständig beseitigen müssen, wenn die Erde jemals zum Paradies werden soll. Kapitalismus bezeichnet eine Ökonomie, die dem Einzelnen – in der Theorie jedem Einzelnen – erlaubt, eigenen Profit (Kapital) zu erwirtschaften und dieses dann neuerlich zu investieren, um noch größeren Profit zu erzielen. Wenn alle Einzelnen diesem Schema folgen, dann sagt die Theorie unbegrenztes ökonomisches Wachstum voraus – eine Voraussage, welche die Praxis bisher weitgehend bestätigt hat.

Aus historischer Sicht sind es vor allem zwei Merkmale des Kapitalismus, die zu einem Bruch mit der gesamten bisherigen Geschichte führen. Erstens ist es der Einzelne – im Prinzip jeder Einzelne – der zumindest auf ökonomischer (später auch auf politischer) Ebene über das eigene Schicksal entscheiden darf, zweitens darf er das eigene Wissen und Können dafür gebrauchen, um den eigenen und den materiellen Reichtum der Gesellschaft insgesamt zu vermehren. Die historische Sicht besagt, dass dies aus weltgeschichtlicher Sicht nicht weniger als eine revolutionäre Neuerung ist. Bis zur industriellen Revolution waren zwischen achtzig und neunzig Prozent der Bevölkerung überall auf der Welt dazu verdammt, Nahrung für die oberen zehn bis zwanzig Prozent zu erwirtschaften. Jeder Mehrgewinn (Profit) wurde von der herrschenden Schicht abgeschöpft. Vor allem aber gab es für die Landbevölkerung nur ausnahmsweise (zum Beispiel über die Kirche) die Möglichkeit, aus dieser lebenslänglichen Fron auszubrechen. Wer es dennoch tat, vermehrte das Heer der Bettler, die es in ganz Europa massenhaft gab.

Protest gegen den Kapitalismus
Früh entzündete sich Protest an den Gebrechen des Frühkapitalismus, der diese Versprechen zunächst nur für die neuen Fabriksherren erfüllte, während die Arbeiterschaft zunächst noch größeres Elend erdulden musste als die fronende Bauernschaft früherer Jahrhunderte. Der Protest ebbte aber auch dann nicht ab, als die Arbeiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den führenden Industriestaaten bereits einen Lebensstandard erreichten, von dem die elenden neunzig Prozent früherer Zeiten nur träumen konnten. In den reichen Staaten des Westens ist er bis heute nicht abgeebbt – eine Tatsache, die wesentlich mit der Freiheit zusammenhängt, die eben durch den Kapitalismus geschaffen wurde. Jeder Einzelne darf heute protestieren und fühlt sich auch dazu aufgerufen, weil der Mensch seine eigene Situation niemals und nirgendwo als vollkommen empfunden hat.

Ein Ergebnis des Protestes gegen den Kapitalismus bestand darin, den Einzelnen wiederum in die Unmündigkeit zu entlassen, ihm von oben das Glück vorzuschreiben. Der stalinistische Kommunismus hatte diesen Weg eingeschlagen. Der Einzelne hatte zu denken und zu handeln, wie vom Politbüro dekretiert. Der vorgeschriebene Verzicht auf eigenes Denken brachte eine Minderheit von Unbelehrbaren ins Gulag, eine Mehrheit hat sich dabei möglicherweise wohlgefühlt, weil unterhalb der privilegierten Nomenklatura wirkliche Gleichheit bestand. Alle waren gleich arm und alle galten gleich viel (oder wenig) – unabhängig von ihren persönlichen Fähigkeiten. Denn was bei zentraler Lenkung wirklich zählt, ist Loyalität gegenüber dem Regime. Die richtige Einstellung ist entscheidend, das Können kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Die beiden wirkmächtigsten Faktoren des Kapitalismus – die Rolle des Einzelnen und persönlicher Profit – kommen nicht länger zum Zug. Die Einzelnen sollen im Kollektiv aufgehen – manche wollen das auch. Wirtschaftlich äußert sich das in Stagnation und Zwangsmaßnahmen, denen in Russland und China Millionen von Menschen zum Opfer fielen.

Ideologisch fixierte Planwirtschaften heben die Freiheit des Einzelnen auf und bewerten Loyalität zum jeweiligen Regime höher als das persönliche Können. Wie gesagt, die verordnete Gleichheit in Leben und Gesinnung muss nicht unbedingt auf Widerstand stoßen. In den neuen deutschen Bundesländern denken nicht wenige immer noch mit Nostalgie an DDR-Zeiten zurück. Unbestreitbar ist nur der ökonomische Misserfolg im Vergleich zu kapitalistischen Ländern, wo im Gegenteil Wissen und Können des Einzelnen über dessen Lebensweg entscheiden. Die Überlegenheit des westlichen Wirtschaftssystems konnte den führenden Kräften in Russland und China nicht lange verborgen bleiben. In China wurde die Planwirtschaft durch Deng Xiao Ping infrage gestellt, in Russland durch Gorbatschow und seine Nachfolger. Zumindest im ökonomischen Bereich wurde die Freiheit des Einzelnen auch in den früheren kommunistischen Planwirtschaften wesentlich erweitert.

Licht und Schatten des Kapitalismus
Ich spreche deshalb über den Kapitalismus, weil gerade er sich so gut dazu eignet, die im Titel gestellte Frage zu beantworten: „Sind wir noch zu retten?“
Die Befreiung des Einzelnen war für viele eine Erlösung, obwohl sie in den Wirren des Frühkapitalismus erst wenige betraf, während sie für die Arbeiterschaft zunächst noch größeres Elend bedeutete. Aber auch später sollte sich diese Befreiung als eine Medaille mit einer lichten Vorder- und einer dunklen Rückseite erweisen. Die neue Welt war auf Wettbewerb begründet, der Tüchtige bekam mehr – manchmal auch alles (the winner takes all) ; der weniger Tüchtige hatte demgegenüber kaum Chancen. Jene Gleichheit der Massen, die vor der industriellen Revolution überall in der Welt die Regel war und sich bis in den DDR-Kommunismus fortgesetzt hatte, gab es im neuen Wirtschaftsregime nicht mehr. Nun war der Einzelne nicht nur seines Glückes eigener Schmied sondern auch seines persönlichen Unglücks. Seitdem gibt es eine Schicht, die wir seit neuem als „Prekariat“ bezeichnen. Die Welt sieht kälter und härter aus.

Die größere Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems bei der Erzeugung kollektiven Reichtums ist ein historisches Faktum. Ob man die Bevorzugung der Tüchtigen sozial akzeptiert, ist eine andere Frage. Schon heute scheint sicher, dass die beiden Extreme totaler ökonomischer Freiheit im Neoliberalismus und deren radikale Einschränkung in der zentralistischen Planwirtschaft niemals zu dauerhaft stabilen Gesellschaften führen. Die totale Freiheit untergräbt alle Gemeinsamkeit, denn sie setzt den Einzelnen absolut. Dagegen macht die radikale Bevormundung der Einzelnen in der zentralistischen Planwirtschaft die Gesellschaft sehr schnell auch politisch zu einem Gefängnis. Der Stalinismus ist damals diesen Weg gegangen, Putin beschreitet ihn heute. Das heutige China unter Xi Jin Ping ist im Begriff, darauf zuzusteuern. Irgendwo zwischen den beiden Extremen liegt zwar nicht das Paradies, aber ein erträgliches Leben.

Proteste wird man dennoch und immer hören – auch in der erträglichen Mitte zwischen den Extremen. Während der drei Nachkriegsjahre gab es sowohl in Italien wie in Deutschland ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit als heute. Dennoch bildeten sich am Ende der „drei goldenen Dekaden“ die Rote-Armee-Fraktion und die Roten Brigaden. Allerdings hat der gegen den Kapitalismus gerichtete Terror damals „nur“ soziale Unruhe erzeugt, zu keinem Zeitpunkt stellte sich zu jener Zeit die Frage, ob die Gesellschaft noch zu retten sei.

Ein Fieber, das die ganze Welt ergreift
Diese Frage stellt sich erst in unserer Zeit. Sie stellt sich gerade deshalb, weil der Kapitalismus sich als so außerordentlich erfolgreich erwiesen hat. Sein Rezept, den Einzelnen – im Prinzip allen Einzelnen – die wirtschaftliche Initiative bei der Vermehrung von materiellem Wohlstand zu überlassen, hat zu einer weltweiten Entfesselung von Wissen und Können geführt. Firmen, Universitäten, private Labors, NGOs, Vereine – diese Zusammenschlüsse von Einzelnen – haben alle verfügbaren Talente in Bewegung gesetzt, um mit den Mitteln der Wissenschaft die Natur zu bezwingen und sie dem Menschen zu unterwerfen. Diese Machtergreifung des Menschen über die Natur hat innerhalb von nur drei Jahrhunderten das weltweite Sozialprodukt um mehr als das Hundertfache explodieren lassen und zugleich die Möglichkeit geschaffen, dass die Bevölkerung von einer auf acht Milliarden Menschen emporgeschnellt ist. Das welthistorische Fieber begann zwar in Europa und Nordamerika. Noch bis vor einem halben Jahrhundert war die exponentielle Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu Zwecken des Konsums weitgehend auf den Westen beschränkt. Doch inzwischen hat die kapitalistische Akkumulation bereits China erfasst, wo der Kommunismus nur noch als Feigenblatt dient. Der Kapitalismus feiert fröhliche Urständ in Indien, wo Milliardäre wie Pilze aus dem Boden schießen und eine bis dahin nie gekannte Ungleichheit herrscht. Die Länder Afrikas schließen – unter chinesischer Anleitung – ebenfalls auf. Der Run auf die Res-sourcen, die Zerstörung der Umwelt, die Vernichtung der Arten setzen erst jetzt richtig ein, da nun alle, also nicht nur der Westen mit unter zehn Prozent Anteil an der gesamten Weltbevölkerung, den größtmöglichen materiellen Wohlstand für sich erstreben.

Im weltweiten Erfolg des Kapitalismus liegt dessen eigentliche Gefahr
Damit aber tritt eine Seite des Kapitalismus hervor, die bis dahin fast niemals Gegenstand der Kritik gewesen ist. In seinem Protest gegen den Kapitalismus fasste Karl Marx nur die Ungleichheit ins Auge. Seine Lehre zielt einzig darauf ab, den Arbeitern den gleichen Anteil am Kuchen zu verschaffen. Der Kuchen selbst aber war für ihn keineswegs  Fluch sondern größte Verheißung. Als solche wird er unmissverständlich im Kommunistischen Manifest benannt: Der Kapitalismus (im Original: die Bourgeoisie) hat in seiner kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen… – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?

Nicht die Entfesselung der persönlichen Initiative, nicht einmal die damit in der Regel einhergehende Ungleichheit stellt aber die eigentliche Bedrohung dar sondern diese „massenhafte und kolossale“ Entfesselung der Produktionskräfte, also das zweite Merkmal des kapitalistischen Wirtschaftens: die theoretisch unbegrenzte Vermehrung des materiellen Wohlstands durch die Ausbeutung der Natur, die für Marx noch eine großartige Errungenschaft war. Es ist die weltweite Naturzerstörung durch unser heutiges Wirtschaftssystem, welches die Frage nach der Zukunft des Menschen beschwört: Sind wir noch zu retten?

Kennen menschliche Bedürfnisse eine Grenze?
Alles kommt hier auf die richtige Antwort an, denn diese Antwort entscheidet darüber, ob und wie eine Rettung aus den uns heute bedrängenden Krisen noch möglich ist – zumindest möglich sein könnte.

An dieser Stelle möchte ich nicht von der Entwicklung der Waffen sprechen, auch nicht davon, dass außer den großen Atommächten ehrgeizige Regionalmächte wie der Iran und Nordkorea die Endzeitbombe erstreben bzw. kurz davorstehen, sie zu besitzen. Denn hier steht immerhin zu vermuten, dass der Selbsterhaltungsinstinkt stärker sein wird als der Hass auf die jeweiligen Gegner. Dagegen steht die Vermehrung des materiellen Wohlstands nicht im Widerspruch zur Vernunft. Im Gegenteil, darin hat der fortgeschrittenste Teil der Menschheit noch bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das wirksamste Instrument zur Herstellung eines weltweiten Friedens gesehen. So etwa, als wäre das Ende der Geschichte in dem Moment erreicht, wo alle Menschen endlich eine Waschmaschine, ein eigenes Auto und die Aussicht auf einen Flug ins Urlaubsparadies besitzen.

Tatsache ist, dass Bedürfnisse keine natürliche Grenze kennen. Ob Kinder, Erwachsene, Staatsbürger oder Nationen – jeder blickt auf den Nachbarn. Hat dieser mehr für sich errungen, so setzt er damit den anderen ein Ziel, das sie gleichfalls erstreben wollen. Diesem Bedürfnis folgend lockt jede Firma beständig mit neuen Produkten – die größten von ihnen verzeichnen mit dieser Strategie weltweit Erfolg. Die Aussicht auf ein Mehr und Immer-Mehr wird aber nicht nur von professionellen Verführern vorgegaukelt sondern von den jeweils Benachteiligten der Welt mit Nachdruck oder gar mit Gewalt eingefordert. Das gilt für alle „massenhaften und kolossalen“ Errungenschaften, welche menschliche Erfindungskraft während der vergangenen dreihundert Jahre geschaffen hat. Es gilt für die „besten“ (d.h. die tödlichsten“) Waffen ebenso wie für die beste Nahrung, die neuesten Handymodelle und die schönsten Reisen in die noch vorhandenen Urlaubsparadiese.

Wer in diesem weltweiten Rennen an der Spitze steht oder sich dort auch nur behaupten will, der darf keine Hemmungen im Umgang mit der Natur besitzen. China ist in dieser Hinsicht ein Musterschüler des Westens. Überall auf der Welt – in Afrika und Südamerika vor allem – sichert sich der ostasiatische Gigant den Zugriff auf die Ressourcen – und tut dies durchaus mit gutem Gewissen. Obwohl kein anderer Staat die Atmosphäre so stark mit CO2 belastet, liegt der Pro-Kopf-Ausstoß an Treibhausgasen ja immer noch weit unter westlichem Niveau – ein Freibrief, um den beschleunigten Ressourcenverschleiß, den Konsum und damit die Steigerung des BSP, zum Hauptziel der Politik zu machen.

Freiwilliger Verzicht auf das Immer-Mehr?
Westliche Länder haben – so könnte man meinen – das Entwicklungsziel mit seinen Verheißungen bereits erreicht. Können und werden sie ihre Bedürfnisse drosseln? Wäre es möglich, dass sie der Naturausbeutung ein Ende setzen? Wird die zukünftige Losung dann lauten „Bis hierher und nicht weiter!“ Und wäre es denkbar, dass auch die aufholenden Staaten gewisse Grenzen beherzigen und der Globus nach dreihundert Jahre währendem Wettrennen der Nationen endlich zur Ruhe kommt?

Hält man sich an die guten Vorsätze, die im Hinblick auf grüne Politik etwa von der Europäischen Kommission vertreten werden, dann könnte man glauben, dass dieses Ziel durchaus realistisch sei. In Wahrheit ist es – unter den herrschenden Bedingungen! – eine schöne, aber völlig unrealistische Illusion!

Das Wettrennen der Nationen macht den Verzicht unmöglich
Die Vereinigten Staaten werden keineswegs ihre Waffen- und Güterproduktion einschränken, wenn sie befürchten müssen, dadurch in Rückstand gegenüber China zu geraten. Umgekehrt schreit China jetzt schon Zeter und Mordio, weil die Regierung der USA dem Land den Zugang zur Hochtechnologie seiner führenden Unternehmen verwehrt. Um trotzdem mit dem westlichen Lebensstandard gleichzuziehen, muss China weiterhin die Rolle als Werkbank der Welt einnehmen. Das aber kann nur gelingen, wenn das Land auf billige Energie zugreifen kann. Die Nutzung der fossilen und der nuklearen Ressourcen nimmt daher weiterhin zu, obwohl das Land zur gleichen Zeit den Sektor der Erneuerbaren erweitert. Anders gesagt, treibt das Wettrennen der Nationen den Verbrauch an Energie und allen anderen Ressourcen weltweit stetig in die Höhe. Die Wende zur Nachhaltigkeit wird durch den geopolitischen Wettbewerb nicht nur in Frage gestellt sondern de facto vereitelt.

Bis vor wenigen Jahren schien Europa eine Ausnahme von dieser traurigen Regel zu bilden. Es verkündete der Welt eine liebenswert pazifistische und grüne Ideologie. Vorbild für den Rest des Globus – das war die hehre Botschaft der EU und der meisten ihrer Mitgliedsstaaten. Unter diese schöne Vision hat Wladimir Putin einen Schlussstrich gezogen. Den Heiligenschein von Pazifismus und grüner Gesinnung konnte sich Europa nur leisten, weil und solange es sich unangreifbar wähnte – unter dem Nuklearschirm der Vereinigten Staaten, versteht sich. Die europäischen Pazifisten haben geglaubt, es würde genügen, dass man innig Frieden erstrebt, dann würden ihn auch die anderen gewähren. So ist der Kontinent militärisch immer weiter hinter die beiden Supermächte zurückgefallen. Heute ist Europa so schwach, dass ihm nur die Entscheidung bleibt, entweder ein Vasall der Amerikaner oder der Russen zu sein. Die erste der beiden Alternativen hat seinen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg den Aufstieg und einen erstaunlichen Wohlstand gebracht – trotz einem verbreiteten Antiamerikanismus. Aber unter Trump sind die USA nicht länger bereit, für die europäischen Trittbrettfahrer weiterhin diesen Schutz und die daraus für sie erwachsenden Kosten zu übernehmen.

Und was kommt dadurch auf Europa zu? Rüstet der alte Kontinent auf, dann trägt er seinerseits dazu bei, die gegenseitige Bedrohung hinaufzuschrauben – der Wahnsinn einer Welt, die schon jetzt rittlings auf einem Pulverfass sitzt, wird dadurch noch vermehrt. Vernachlässigt er dagegen weiterhin die eigene Verteidigung, dann gibt er Wladimir Putin die eigene Bereitschaft zu erkennen, dass man ihm keinen Widerstand leisten wird, wenn er das vermeintlich größte Unglück der Neuzeit – die Auflösung der Sowjetunion – wieder rückgängig machen will. Anders gesagt, wird das Wettrennen um die größere militärische und ökomische Macht erst jetzt richtig beginnen. Von Nachhaltigkeit kann da keine Rede sein. Auch nicht von Frieden, denn in einer Welt, wo schon das vorhandene Arsenal an Massenvernichtungswaffen uns tödlich bedroht, wird jede zusätzliche Aufrüstung zum Menetekel des Wahnsinns. Wir haben einen Punkt erreicht, wo alles was wir tun als Wahnsinn erscheinen muss: Aufrüstung, um weniger verwundbar zu sein ebenso wie pazifistische Ergeben gegenüber Wladimir Putin (die war ebenso grundfalsch gegenüber Hitler). Es gibt Situationen, in denen alle Alternativen als falsch gelten müssen. In einer solchen Situation befinden sich Europa und die gesamte heutige Welt.

Sind wir noch zu retten?
Ja, würde darauf Thomas Hobbes zur Antwort geben. Dieser große Denker hatte die heutige Situation in kleinerem Maßstab schon im 17. Jahrhundert vor Augen. Damals zerfleischten die Nationen Europas sich in verheerenden Bürgerkriegen. Wenn der Einzelne keine bindende Autorität über sich anerkennt, dann befinde sich eine Gesellschaft im Naturzustand, so sagte Hobbes, und das sei das Chaos. Frieden könne es nur geben, wenn sich alle Einzelnen darauf einigen, einen Teil ihrer Souveränität an eine übergeordnete Instanz abzugeben. Hobbes gab dieser Instanz den Namen „Leviathan“, eines Ungeheuers, gegen den jeder Widerstand zwecklos ist. Die Benennung der höchsten Macht als Ungeheuer hat die Lehre des großen Staatstheoretikers in Misskredit gebracht, aber der kalte Bürgerkrieg der Menschheit gegen sich selbst vermag jederzeit in einen heißen umzuschlagen. Das Chaos muss daher gebändigt werden – zur Not auch durch Leviathan. Heute können wir uns unter der bindenden Autorität, die dem Chaos ein Ende setzt, aber auch eine demokratische Instanz vorstellen. Immerhin wird der Friede als Gegensatz zu einem drohenden nuklearen Holocaust von allen Erdenbürgern erstrebt.

Wie realistisch ist eine Weltregierung?
Im Wettrennen um die größere ökonomische und militärische Macht und den Zugang zu den noch verfügbaren Ressourcen sind die Nationen einander so eng auf den Leib gerückt, dass jederzeit der dritte und furchtbarste Krieg zwischen ihnen ausbrechen kann. Sie befinden sich im Hobbesschen Naturzustand, aus dem sie nur Leviathan – im schlimmsten Fall ein Kartell der Schurken, im besten Fall eine demokratische Weltregierung – zu erlösen vermag. So hat es auch Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift über den ewigen Frieden gesehen. Eine solche zentrale Autorität ist in der Lage, das Militär abschaffen und es durch eine weltweit agierende Polizei zu ersetzen. In unserer Zeit kann es auch den Verschleiß der Ressourcen eindämmen und Nachhaltigkeit verordnen. Unter dieser Bedingung sind wir gewiss zu retten.

Leider ist eine Weltregierung vorerst noch überaus unwahrscheinlich. Die UNO wird als schlichtende Instanz gerade um Ansehen und Autorität gebracht. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die Annahme eines der größten britischen Historiker bewahrheiten könnte. Arnold Toynbee ging davon aus, dass eine längst zur globalen Einheit gezwungene Menschheit erst nach einer – hoffentlich nicht allzu großen – Katastrophe bereit sein wird, den entscheidenden Schritt zu ihrer eigenen und zur Rettung ihrer Lebensgrundlagen zu vollziehen.