Der Preis der Freiheit

Es ist noch nicht lange her, da wollten uns die Politik und selbst ein Teil der Wissenschaft davon überzeugen, dass sich Demokratie schon bald über die ganze Welt ausbreiten würde, so als folge die Geschichte damit einer Art von teleologischem Gesetz. Die historische Evidenz hat zwar immer gegen eine solche Auffassung gesprochen, aber die Vernunft und unsere Gefühle für Recht und Unrecht schienen klar dafür zu stimmen. Muss es nicht jedem vernunftbegabten und nach Gerechtigkeit strebendem Menschen wünschenswerter erscheinen, sich aktiv und mitbestimmend in das politische Geschehen einzubringen, als dem Diktat einer Regierung zu folgen, die über seinen Kopf hinweg entscheidet? Macht eine solche Haltung Demokratie nicht zu einem Imperativ?

Inzwischen erscheint uns dieser Optimismus als reichlich naiv, wenn nicht überhaupt verfehlt. Es scheint im Gegenteil vieles dafür zu sprechen, dass die Geschichte – ähnlich wie die Teilchen in der Quantenphysik – eine andere Interpretation von uns verlangt: Könnte es sein, dass wir ihren Verlauf richtiger als wellenförmig verstehen?

Jedenfalls haben die Griechen sie so gesehen. Für sie bewegte sich das politische Pendel abwechselnd in Richtung Aristokratie und dann wieder in Richtung zur Demokratie, wobei beide auch zeitweise in der Ochlokratie, der Herrschaft der Schlechtesten, enden konnten. Die Hindus rechneten überhaupt mit einem dauernden Auf und Ab des Weltgeschehens, die Weltzeitalter folgten einander in einer Art kreisförmiger Bewegung. Der so außerordentlich hellsichtige Beobachter seiner Zeit, der französische Dichter und Denker Paul Valéry, fand auch die Gründe für diese zwischen den Extremen pendelnde Bewegung und brachte sie folgendermaßen auf den Punkt:

Das Individuum erstrebt eine in jeder Weise angenehme Epoche, in der es die größte Freiheit und die größte Hilfe von anderen genießt. Es findet sie bei Beginn des Untergangs eines sozialen Systems. Dann herrscht ein köstlicher, zwischen Ordnung und Unordnung schwebender Zustand. Alles nur mögliche Gute, das die Ordnung der Gewalten und der Pflichten mit sich bringt, ist erreicht, und man kann jetzt die erste Lockerung dieses Systems genießen. Die Einrichtungen behaupten sich noch. Sie sind groß und Achtung einflößend. Aber ohne dass sich etwas Sichtbares an ihnen geändert hat, bieten sie eben nur noch diesen schönen Anblick; … ihre Zukunft ist insgeheim bereits vertan… Die Ordnung engt das Individuum stets ein. Die Unordnung bringt es dazu, die Polizei und den Tod herbeizuwünschen… 

Valéry war sich bewusst, dass ein Übermaß an Freiheit ein autoritäres System erzeugt – nicht selten sogar die Diktatur. Aber er macht dafür nicht die Regierung verantwortlich, so als würden die deutsche AfD und andere rechtsextreme Bewegungen nur als Protest gegen das Versagen demokratischer Politik entstanden sein. Seine Analyse zielt tiefer. Ein Übermaß an Freiheit, welches die Demokratie privaten Kräften und Bestrebungen verschafft, löse am Ende die Ordnung auf, ohne die eine Gesellschaft nicht leben kann, so seine Diagnose. Oder anders gesagt, bringe die Demokratie – wenn sie nicht im Sinne des Gemeinwohls gebändigt wird, selbst die Kräfte hervor, die sie am Ende zerstören. Wir wissen, dass sie aus diesem Grunde immer vor Parteien auf der Hut bleiben muss, die auf ihre Abschaffung drängen – Abschaffung sogar auf legale Weise. Wir wissen zudem, dass sie beständig in Gefahr ist, von privaten Kräften dominiert zu werden, welche die Gleichheit der Chancen aushöhlen und eine neue Plutokratie etablieren. Valéry spricht damit aus, dass weder Demokratie noch Diktatur einen Zustand sozialen Gleichgewichts erzeugen.

Denn auch die Sicherheit, welche die Diktatur den Leuten zunächst verschafft, wird in der Regel schon bald als unerträglicher Zwang empfunden (die Ordnung engt das Individuum stets ein). Wer von unseren selbstdeklarierten Freigeistern, die am liebsten die herrschende Ordnung zur Gänze zerschlagen möchten, würde es auch nur einen Tag in Putins Russland aushalten, wo man sie sofort dazu verdammt, den Mund zu halten oder ins Gefängnis zu wandern? Ja, die Diktatur bringt bald die ersten Rufe nach Freiheit hervor; nur ist eine Demokratie um vieles leichter zu zerstören als eine Diktatur zu beseitigen. Dabei erweist sich eines als bleibende historische Regel  – das eine Extrem nährt das andere: ein Übermaß an Freiheit ist ebensowenig stabil wie das Zwangssystem einer zu weit getriebenen Ordnung.

Freiheit ist ein köstliches Gut, aber sie verlangt einen hohen Preis. Wenn man sie absolut setzt, artet sie regelmäßig in Unordnung und Willkür aus, die jedes gedeihliche Miteinander sprengen. Unbegrenzte Freiheit, die eigene Begabung zur Entfaltung zu bringen, kann in der modernen Technogesellschaft ebenso gut dazu führen, dass fähige Leute in einer Garage den modernen Computer oder das Internet erfinden oder dass sie die Schadsoftware entwickeln, um Computer und Internet weltweit lahmzulegen. Im Extremfall kann der einzel­ne seine unscheinbare Wohnung in einer anonymen Vorstadtsiedlung dazu benutzen, um dort – von niemandem entdeckt – die Bomben herzustellen, mit denen er ein Regierungsgebäude oder Asylheime in die Luft jagt. Die Rezepte für jede Art von Anschlag auf die öffentliche Ordnung werden ihm noch dazu im Internet (Darknet) zur Verfügung gestellt.

Die Freiheit, welche die demokratische Gesellschaft dem einzelnen gewährt, zwingt sie zugleich dazu, die Bürger immer stärker zu überwachen. Nicht nur in China sondern ebenso in den USA oder Großbritannien sind Kameras auf öffentlichen Plätzen mittlerweile allgegenwärtig. Freiheit hat dem einzelnen Bürger die Macht beschert, mit Terror aller Art – aber auch mit scheinbar harmlosen Mitteln – das Gemeinwesen aus den Angeln zu heben. Gewiss können die Überwachungskameras dem Herrschaftswahn einer autokratischen Regierung entspringen, welche die eigenen Bürger auf Schritt und Tritt kontrollieren will. Das ist in China der Fall. Doch ihre Allgegenwart auch in demokratischen Staaten beweist, dass die Spähaugen ein notwendiges Instrument selbst überall dort geworden sind, wo der einzelne durch sein Tun für das Ganze zur Gefahr werden kann. So wie die Erfindung des GPS eine notwendige Antwort auf die Herausforderung war, sich als Fremder mit dem Auto in labyrinthischen Großstädten zurechtzufinden, so ist die sich krakenartig ausbreitende Überwachung eine Antwort auf ein für das Gemeinwohl bedrohliches Ausmaß an individueller Freiheit.

Freiheit als Gefahr für das Gemeinwesen und das Gemeinwohl geht in diesem Fall nicht von der Regierung aus sondern von privaten Kräften, die sie unkontrolliert und manchmal auch unkontrollierbar für sich nutzen. Ich möchte das an zwei Beispielen illustrieren. „Man vermutet“, sagt der Chemiker Friedrich Schmidt-Bleek, „dass wenigstens 300 000 Substanzen /einschließlich CO2/ und ganze Cocktails verschiedener, fortwährend veränderter Zusammensetzungen in die Außenluft, in den Boden und ins Wasser gelangen. Einige der am besten bekannten Problemstoffe sind inzwischen gesetzlichen Auflagen unterworfen. Aber der große Rest? Aus diesen Zahlen wird deutlich, in welch krassem Missverhältnis die technik-induzierten Schäden zu den Möglichkeiten stehen, sie zu kontrollieren und einzudämmen.“

Unter den herrschenden Bedingungen kann es eine solche Kontrolle nicht geben, weil die staatliche Prüfungsbürokratie dann nahezu gleich viele Köpfe und Abteilungen zählen müsste wie die gesamte private Firmenlandschaft. Außerdem müsste sie finanziell ebenso gut ausgestattet sein wie die Gesamtheit der Unternehmen, um jedes neue Produkt auf seine Umweltverträglichkeit zu prüfen. Nicht zuletzt aber müsste sie Zugang zu den meist geheimen Daten der Produkte bekommen, was aber aufgrund der Regeln des Wettbewerbs kaum möglich erscheint.

Damit ist aber in aller Deutlichkeit ausgesprochen, dass die Allgemeinheit die Kontrolle über ihre privaten Akteure verloren hat – sie kann diese nur noch in Ausnahmefällen ausüben. Diese den privaten Akteuren gewährte Freiheit ist offenbar nicht nachhaltig sondern auf lange Sicht zerstörerisch.

Die Einschränkung staatlicher Autorität, die doch im Sinne des Gemeinwohls unerlässlich wäre, trifft inzwischen nicht nur auf die abnehmende Kontrolle privaten Verhaltens gegenüber der Umwelt zu sondern auch auf das Verhältnis der Menschen zueinander, das durch die sogenannten sozialen Medien immer mehr ins Asoziale und damit in Chaos abzugleiten droht. Wie Valéry es beschrieb, wird es als „köstlicher Zustand“ empfunden, wenn die vorhandene Ordnung gerade noch hält, , aber jeder seine Freiheit nach Belieben ausleben darf, z.B. im Internet. Dort genießt er die Freiheit, Fakten zu entstellen, Lügen zu verbreiten, Personen anzuschwärzen oder ungestraft zu bedrohen und zu Shitstorms gegen sie aufzurufen. All das kann er weitgehend tun, ohne für sich selbst Konsequenzen zu befürchten. Er pocht ja auf seine Freiheit, auch wenn diese schließlich den Staat ins Wanken bringt.

Denn genau das lässt sich jetzt schon beobachten. Ein steigender Prozentsatz der Bürger glaubt dem Staat und den sogenannten Qualitätsmedien nicht mehr. Nicht dass deren Qualität immer gewahrt geblieben wäre, aber im Vergleich zu dem Pseudowissen, den Verschwörungsfantasien und der zudem noch von einigen ausländischen Mächten gesteuerten unterschwelligen Propaganda, welche das Internet inzwischen zu einem Sumpf des Halb- und Pseudowissens machen, stehen die führenden herkömmlichen Medien auf der Skala der journalistischen Sorgfalt und Glaubwürdigkeit immer noch an der Spitze. Daher gibt es schon sehr zu denken, wenn ein in Österreich zu Recht sehr geschätzter und aufrechter Journalist, Florian Klenk, in einem seiner jüngsten Artikel einen sehr pessimistischen Ton anschlägt. Es gibt, so stellt er lapidarisch fest, immer mehr Leute, welche sich auch durch noch so gut recherchierte Wahrheiten nicht mehr erreichen lassen sondern sich bereitwillig den Demagogen in die Arme werfen.

Wie konnte es dazu kommen? Hören wir noch einmal auf Paul Valéry. Weil „ein köstlicher, zwischen Ordnung und Unordnung schwebender Zustand herrscht“, indem man die eigene Freiheit dazu missbrauchen kann, um den Boden für einen Zustand der Unfreiheit zu bereiten.

Die moderne Technogesellschaft ist den Herausforderungen privater Freiheit offenbar nicht länger gewachsen. Sie hat es nicht fertiggebracht, die Mitte zwischen den Extremen zu finden – weder die ökologische Mitte, denn sie ist gerade dabei, die Natur weltweit auszuschlachten und zu verseuchen, noch die weltanschauliche Mitte, denn die asozialen Medien bilden eine akute Gefahr für das Gleichgewicht jeder Gesellschaft (von der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich war hier noch nicht einmal die Rede). Man muss deswegen kein hartgesottener Pessimist sein, um von dem Angesagten Kollaps der Technozivilisation zu sprechen.

Die kommende Postfossile Gesellschaft wird das Gleichgewicht zur Natur und unter den Menschen auf ganz neue Art herstellen müssen. Je mehr positive Freiheit der Staat als Vertreter aller Bürger jedem einzelnen von ihnen gewährt, desto mehr Regeln muss er zwangsläufig schaffen, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern. Oder umgekehrt: damit der Bürger nicht unter Regeln erstickt, wird er auf einige Freiheiten verzichten müssen.*1* Dieses Paradox lässt sich nicht auflösen. Denn andernfalls droht der Preis der Freiheit sehr hoch zu werden. Immer mehr Gesellschaften werden freiwillig die Unfreiheit wählen. Doch, wie schon gesagt: eine Demokratie lässt sich leicht zerstören, Diktaturen nur unter großen, meist blutigen Opfern.

1 Zum Beispiel auf die privaten Bürgern und Unternehmen heute gewährte Freiheit, immer mehr künstlich erzeugte chemische Substanzen – heute sind es, wie gesagt, schon mehr als 300 000 (CO2inbegriffen) – in Boden, Luft und Wasser zu verbreiten, Substanzen, deren Auswirkungen auf die Umwelt und damit auf das Leben künftiger Generationen nicht abgeschätzt werden können. Oder auf die Freiheit, anonym Schwachsinn, Hetze und Lüge nach Belieben im Netz verbreiten zu dürfen. Auf der internationalen Ebene wird ein Übermaß an Freiheit bereits zu einem existenziellen Problem für das Überleben der Menschheit, seit selbst Zwergstaaten wie Nordkorea zu Atommächten werden. Die Staaten gebärden sich wie private Akteure, die unbegrenzte Freiheit für sich verlangen..