Die Wissenschaften (der Natur) sind nur wahr, wenn ihre Voraussetzungen falsch sind

Wissenschaft erfüllt einen existenziellen Zweck. Sie dient dazu, uns in der Welt zurechtzufinden, indem sie die Berechenbarkeit – das Regelmaß – in den uns umgebenden Geschehnissen erkennt. Das Bedürfnis nach solchem Regelmaß und solcher Berechenbarkeit beherrscht uns so sehr, dass wir es sogar frei erfinden, wenn wir es aus den Dingen selbst nicht ablesen können. Menschen früherer Zeiten glaubten, dass Geister und Götter Vulkane ausbrechen ließen, Dürren oder Krankheiten verursachten oder dass man sie durch Opfer und Gebete dazu bewegen konnte, solche Übel auch wieder abzuwenden. Das war erfundene Kausalität. Früher wusste man vergleichsweise wenig von den objektiv bestehenden Ordnungen der der Natur. Diese wurden gerade so weit durchschaut, wie das für das Überleben der Art unerlässlich war. Wie man Tiere erbeutet oder Pflanzen züchtet, bedurfte der sorgfältigen Erkenntnis bestehender Naturgesetze. Über dieses elementare Stadium ist die Menschheit erst seit der Industriellen Revolution, dann aber in stetig beschleunigtem Tempo hinausgelangt. Inzwischen ist Wissenschaft in der Lage, neue Lebewesen im Labor künstlich herzustellen und bestehende mit Hilfe genetischer Manipulation grundlegend zu verändern. Ausflüge des Menschen zu fernen Planeten, die vordem allenfalls in Märchen und Mythen beschworen wurden, gehören heute zu den realen Optionen.

Der moderne Moses empfängt das Buch der Gesetze nicht länger aus den Händen Gottes. Er selbst hat die Regelmäßigkeiten der Natur eine nach der anderen entschlüsselt. Eine Grenze auf diesem Weg der Entdeckung immer neuer Gesetzmäßigkeiten scheint es prinzipiell nicht zu geben, weil die Natur selbst in steter Entwicklung ist. Wissenschaft wird damit zur einzigen Weltanschauung, die eine unendliche Extension erlaubt. Am Höhepunkt des Wissenschaftsoptimismus – im 18. bis 19. Jahrhundert – ging man daher auch von dem Grundsatz aus, dass der Mensch die Wirklichkeit nur lange und tief genug erforschen müsse, um sämtliches Geschehen in der Natur als gesetzmäßig zu durchschauen. Der „Satz vom Grunde“ verlieh dieser Auffassung den philosophischen Namen und der französische Mathematiker Simon de la Place fand dafür die abschließende Formel. „Eine Intelligenz, die in einem bestimmten Moment alle Kräfte erfasste, welche die Natur beherrschen, und darüber hinaus die respektive Lage der Elemente, aus denen sie besteht, würde – vorausgesetzt, dass sie groß genug wäre, um alle diese Daten der Analyse zu unterwerfen – in einer einzigen Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und die der kleinsten Atome gleichermaßen erfassen: nichts wäre ungewiss für sie. Zukunft und Vergangenheit würden ihr deutlich vor Augen stehen“ (Laplace 1886, Bd. VII, S. VI). Gemäß dieser Formel der klassischen Physik kann es unter den Erscheinungen dieser Welt keine Wirkungen geben, die nicht auf ganz bestimmte Ursachen folgen. Die Definition des wissenschaftlichen Fortschritts lief demnach darauf hinaus, dass menschliche Erkenntnis mit der Zeit immer mehr Gesetze erschließen würde, sodass am Ende dieses Prozesses für den Menschen nichts mehr „ungewiss“ sei, weil nichts sich seiner Berechnung und Beherrschung entzieht.

Die optimistische Gewissheit von einer prinzipiell vollständigen Berechenbarkeit der Natur wurde zum ersten Mal durch die Erkenntnisse der Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschüttert. Damalsglaubte die Wissenschaft selbst – die Königsdisziplin der Physik – den Zufall entdeckt zu haben. Kein Geringerer als der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger hat dies denn auch als die größte Erfindung des vergangnen Jahrhunderts gepriesen. Im subatomaren Bereich wurde die Forschung mit Erscheinungen konfrontiert, bei denen einer bestimmten Wirkung wie der Ausstrahlung eines Alphateilchens beim Zerfall eines Radiumatoms keine bestimmte Ursache entspricht. Im Quantenbereich ist eine Wirkung nicht länger durch eine vorausgehende oder durch begleitende Ursachen „determiniert“. Eben deshalb wird sie „zufällig“ genannt.

Dies stellte einen so ungeheuren Bruch mit dem bis dahin bestehenden „deterministischen“ Weltbild dar, dass einige der größten Physiker – Albert Einstein zum Beispiel – ihn nicht vollziehen wollten. Einstein beharrte darauf, dass „Gott nicht würfelt“. Woher wusste er das so genau? Einstein konnte darauf pochen, dass die Neuerer aus dem Lager der Quantenmechanik weit mehr behaupten, als sie beweisen können. Bestehende Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung lassen sich nachweisen, aber wie will man beweisen, dass etwas nicht vorhanden ist? Die Physik der Quanten musste gar nicht in Widerspruch zur klassischen Physik geraten. Das hatte schon Heisenberg klar erkannt: „Logisch ist es durchaus möglich, nach einem solchen … /vorangehenden/ Vorgang/ für die Emission eines Alphateilchens/ zu suchen, also nach einer Ursache wie in der klassischen Physik. Wir tun dies nur deswegen nicht, weil wir dazu den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt /kennen müssten/… und das ist sicher unmöglich“ (Heisenberg 1959, 69). Um zu begründen, warum ein Radiumatom gerade in diesem Moment ein Alphateilchen aussendet, müssten wir den Zustand der ganzen Welt erkennen, das aber ist der menschlichen Intelligenz unmöglich. Eine unendliche Intelligenz, die einen umfassenden Einblick besitzt, könnte aber sehr wohl bei einem deterministischen Weltbild verharren. Wo liegt da der Unterschied zu Laplace?

Gehen wir zurück zu unserer anfänglichen Feststellung. Menschliche Intelligenz wird von Bedürfnissen gesteuert – das Bedürfnis nach einer für den Menschen berechen- und beherrschbaren Wirklichkeit ist gewiss eines der mächtigsten überhaupt, denn in einer Welt des Chaos, wo alle Berechen- und Beherrschbarkeit endet, könnten wir nicht existieren. Die Vorstellung von einer durchgehend geordneten Welt ist daher so alt wie der Mythos, und sie bleibt so jung wie der Triumph der modernen Wissenschaften. Nur so ist zu erklären, dass die Wissenschaft ihren mächtigsten Impuls, die Suche nach einer objektiven, unabhängig von uns selbst bestehenden Wahrheit, bis in unsere Zeit nur auf die äußeren Dinge bezieht, nicht aber auf sich selbst. Im gleichen Moment, wo sie diesen zweiten Schritt vollzöge, wäre sie allerdings zu einem radikalen Umdenken gezwungen. Dann müsste sie nämlich erkennen, dass der Zufall nicht erst entdeckt werden muss, um damit zur bedeutendsten Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts aufzurücken, wie Anton Zeilinger behauptet. Vielmehr wird seine Existenz von der Wissenschaft immer schon notwendig vorausgesetzt – er muss vorausgesetzt werden. Denn Wissenschaft ist nur wahr, wenn die Leugnung des Zufalls falsch ist.

Wozu hat der Mensch nach Gesetzen gesucht, z.B. nach jenen, welche die Gesamtheit der gesetzmäßigen Vorgänge auslösen, die eine Rakete sicher zünden und anschließend zum Mars hinlenken, oder die Vorgänge, welche die Explosion einer Bombe bewirken oder auch schlicht einen Wagen in Bewegung setzen, sobald ein Gashebel gedrückt wird? In all diesen und unzählig vielen anderen Fällen geht es uns darum, eine strikt und gewöhnlich perfekt berechenbare Sequenz von Ereignissen mit einem Entschluss in Gang zu bringen, der selbst strikt unberechenbar istDenn das Wissen um die deterministische Sequenz hat für uns nur dann einen Sinn, wenn wir sie zu jeder beliebigen Zeit an beliebigem Ort, also auf strikt indeterministische Art in Bewegung zu setzen vermögen. Wenn ich selbst oder irgendeiner von Milliarden Menschen auf den Gashebel drückt, wenn ein Politiker den roten Knopf drücken lässt, der eine ballistische Rakete in Bewegung, dann entzieht sich diese auslösende Tat aller Berechnung – das Ereignis steht außerhalb der Naturgesetze. Es gibt keine naturgesetzhafte Beziehung zwischen der auslösenden Tat (dem Druck auf den roten Knopf oder den Gashebel) und dem darauffolgenden gesetzhaften Ablauf. Das eine ist determiniert, das andere nicht. Daher kann es sich auch nicht darum handeln, einen „harten“ von einem (mehr oder weniger) „weichen“ Determinismus zu unterscheiden. Die Logik der Wissenschaft lässt uns nur die einzige Wahl, den Zufall als zweite Dimension in der uns umgebenden Wirklichkeit gleichrangig neben die Gesetze zu stellen. Letztere ergeben für den Menschen nur dann Sinn und Zweck, wenn die Voraussetzung einer restlos determinierten Welt notwendig und daher grundsätzlich falsch ist.

In der uns umgebenden Welt können wir den Zufall allerdings nicht so erkennen wie die Gesetze. Denn wie sollen wir den Zufall beweisen – die Abwesenheit jeder Beziehung zwischen den Dingen? Immer bleibt die von Heisenberg beschriebene Möglichkeit, dass der Zustand der ganzen Welt uns sehr wohl zu erklären vermöchte, warum ein Alphateilchen gerade in diesem Moment von einem Radiumatom ausgestrahlt wird. Diese theoretische Möglichkeit kann eine empirische Wissenschaft weder beweisen noch widerlegen. Die Existenz des Zufalls erkennen wir auf beweisbare Art nur im Vollzug unseres eigenen Umgangs mit den Dingen. Ich erwähnte den Druck auf einen roten Knopf, der eine Rakete in Bewegung setzt, oder den auf einen Gashebel, der ein Fahrzeug in Gang bringt. Natürlich steht jeder Mensch, der einen solchen Akt vollzieht, seinerseits unter dem Einfluss bestimmter Motive. Die heben sich aber gegenseitig angesichts der Tatsache auf, dass die betreffenden Ereignisse willkürlich zu jeder beliebigen Zeit an jedem beliebigen Ort in Bewegung gesetzt werden können. Für jeden Handelnden sind derartige Auslösungen determinierter Sequenzen zwar niemals zufällig – wir denken uns etwas dabei und wollen etwas bezwecken. Aber dieses Denken und Wollen kann unendlich viele Formen und Inhalte annehmen. Generalisiert man das Tun aller Einzelnen, dann gibt es keinen gesetzhaften Bezug. An diesem Punkt – bei unserem Eingreifen in die Wirklichkeit – wird der Zufall zu der am besten bewiesenen empirischen Tatsache überhaupt.

Das aber stellt uns vor ein schwieriges Problem. Wenn es stimmt, dass wir determinierte Vorgänge nur deshalb erkunden, um sie auf indeterminierte Weise zu beliebiger Zeit an beliebigen Orten ausführen zu können *1*, dann wird die Frage unabweisbar, warum selbst die größten Naturwissenschaftler diese Einsicht verdrängten oder verwarfen, obwohl sie doch aus der Logik der Wissenschaft zwingend hervorgeht?

Ich erkläre dies mit zwei durchaus verschiedenen Gründen, einem oberflächlichen, wenn auch sehr wirksamen, und einem zweiten, der in größere Tiefen reicht. Oberflächlich bestand immer schon eine starke Tendenz unter Experten, zumal wenn ihr Wissen wie etwa in der Quantenphysik jahrelange Studien erfordert, auf Einwände nicht einmal zu hören, die von außerhalb ihres Gebietes kommen und sich noch dazu jedem Laien erschließen. Experten neigen dazu, ein Monopol für alle Aussagen zu beanspruchen, die ihr Wissensgebiet betreffen, auch wenn die logische Basis solcher Aussagen – anders als die spezifischen Erkenntnisse über bestimmte Erscheinungen der Natur – allen Menschen gleichermaßen zugänglich ist, da sie dem Denken selbst zugrunde liegt. 

Das ist der eine, der eher oberflächliche Grund. Ein tieferer liegt zweifellos in der schon mehrfach angesprochenen Tatsache, dass auch unsere Intelligenz immer von Gefühlen und Bedürfnissen gesteuert bleibt. Die Wissenschaft will das Netz menschlicher Herrschaft über Natur und Mensch weiter und weiter spannen. Wenn sie aber neben den Gesetzen den Zufall als zweite Dimension des Wirklichen akzeptiert, dann sieht sie sich zu dem Eingeständnis genötigt, dass diese Herrschhaft immer begrenzt und letztlich prekär bleiben wird. Auch wenn Wissenschaft und Technik uns mehr und mehr Apparate liefern, um auf strikt berechenbare Art punktuell auf die Wirklichkeit einzuwirken, so werden wir doch niemals imstande sein, diese Berechnung auf die Wirklichkeit insgesamt zu übertragen. Wie die Gesamtheit solcher punktueller Veränderungen die Wirklichkeit von morgen oder gar nach hundert Jahren aussehen lässt, das werden wir niemals wissen.

Und wir sind sogar zu weiteren Zugeständnissen genötigt. Nein, nicht zu solchen des Mythos oder gar der Esoterik, die beide zu Unrecht darauf pochen, im Besitz eines positiven Wissens zu sein, über das sie in Wahrheit durchaus nicht verfügen. Es ist die Wissenschaft selbst, die sich trotz ihres immensen Erfolgs zur Bescheidenheit genötigt sieht, denn sie kann uns nie mehr liefern als die Aufdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen konkreten Einzelerscheinungen. Es sind immer nur isolierte Stränge von Gesetzhaftigkeit, welche die Wissenschaft in einem unendlichen Feld von Erscheinungen ermittelt, von denen sie aufgrund empirischer Beobachtung niemals zu sagen vermag, ob sie nicht rein zufällig koexistieren. Nie hat ein Wissenschaftler die Gesamtheit aller Erscheinungen im Blick haben können oder gar ihre gesetzmäßige Verbindung zu beweisen vermocht. Da wir es weder beweisen noch widerlegen können, ist es sehr wohl möglich, dass die meisten koexistenten oder aufeinander folgenden Ereignisse so unverbunden nebeneinander stehen wie im menschlichen Bereich meine Gedanken und die meines Nachbarn.

Damit erweist sich die erste Grundannahme der modernen Wissenschaften als falsch. Die Grundannahme einer unendlichen Intelligenz, für die es den Zufall nicht geben würde, verträgt sich nicht mit einer Logik der Wissenschaften, die Sinn und Zweck für den Menschen hat. Die klassische Physik hat zusammen mit Albert Einstein den Zufall überhaupt geleugnet oder ihn mit Heisenberg aufgrund des Arguments relativiert, dass wir eine durchgehende Gesetzmäßigkeit sehr wohl erkennen könnten, wäre unsere Intelligenz nur in der Lage, den Zustand der Welt insgesamt zu erfassen. Die Aussagen von Laplace und Heisenberg im Hinblick auf eine unendliche Intelligenz sind aber rein spekulativ, anders gesagt, setzen sie sich souverän über alles empirisch Beweisbare hinweg. Alternativ können wir auch formulieren, dass Wissenschaft nur dann einen Sinn ergibt, wenn Freiheit neben der Notwendigkeit als zweite ontologische Dimension existiert.

Eine zweite Grundannahme müssen wir gleichfalls als falsch ablehnen. Das mögliche Wissen über die Welt ist zwar von unendlicher Extension, aber es ist falsch, dass wir damit unser grundsätzliches Unwissen aufheben. Der Zufall und damit unser prinzipielles Unwissen ist ebenso grenzenlos – und dieses Unwissen ist wie der Zufall selbst unaufhebbar. Im Gegensatz zu allem Wissen, das immer einen positiven Inhalt besitzt, hat der Zufall (den wir beim Menschen als Freiheit bezeichnen) keinerlei naturgesetzlichen Inhalt. So gesehen ist er reine Negation oder Abwesenheit allen Wissen. Die Annahme, dass alles menschliche Unwissen grundsätzlich durch Wissen ersetzt werden kann, ist mehr als eine Illusion – sie ist nachweisbar falsch. Auch Karl Popper, der große österreichische Philosoph, zweifelte an einer Episteme, einem abschließenden Wissen über die Wirklichkeit (1980, 317). Aber den Grund dafür hat er nicht benannt. Es ist der Zufall als eine ontologische Dimension von der gleichen unendlichen Extension wie das Gesetz, dann eine solche Episteme grundsätzlich verbietet.

Damit eröffnet sich eine verwandelte Weltanschauung, die nicht etwa antiwissenschaftlich ist. Es existiert ja kaum eine besser bewiesene Tatsache als die, dass jede weitere Entdeckung von Naturgesetzen unser empirisches Wissen und unsere partielle Herrschaft über die Natur erweitert. Doch müssen wir nun akzeptieren, dass auch das Wünschen und Wollen lebender Wesen zu den Triebkräften gehören, welche seit Beginn der Geschichte Zukunft gestaltet haben und weiter gestalten werden, und zwar auf unberechenbare Art und Weise. Damit entlarven wir eine dritte Grundannahme der modernen Wissenschaften als falsch. Der Gang der Welt (die Evolution) lässt sich nicht ausschließlich durch das Wirken unpersönlicher Kräfte (Naturgesetze) erklären, sondern es liegen ihm ebenso rein subjektive Faktoren zugrunde – eben das Wollen und Wünschen lebender Wesen, welche berechenbare Ereignissequenzen auslösen können oder auch nicht. Der dritte Grundirrtum der Wissenschaften besteht demnach in der Annahme, dass wir die Wirklichkeit allein mit Hilfe objektiver, unpersönlicher Gesetze zu erklären vermögen. *2*

Anders gesagt, müssen wir uns – der Logik der Wissenschaften und ihres Wahrheitsanspruchs folgend – zu einem überwissenschaftlichen Weltbild bekennen, worin Zufall und Freiheit, Wollen und Wünschen als Gegenstand der empirischen Erkenntnis eine gleichrangige Bedeutung aufweisen. Das Weltbild der Wissenschaften ist nur dann korrekt, wenn wir die drei genannten Grundannahmen als falsch deklarieren.

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass ein überwissenschaftliches Weltbild Ausblicke eröffnet, die unter „seriösen“ Wissenschaftlern seit drei Jahrhunderten auf entschiedene Ablehnung stoßen. Der Spott der Aufklärer hat bekanntlich den Wundern gegolten, die nach religiöser Vorstellung den Gang des Geschehens jederzeit zu durchbrechen vermögen. Nun hat zwar niemand beweisen können, dass ein gesetzmäßiger Vorgang wie z.B. das Verdampfen von Wasser bei hundert Grad plötzlich nicht mehr in Geltung ist, wenn ein Mensch, ein Geist oder ein göttliches Wesen das so beschließt. Der Spott der Wissenschaften an solchen Behauptungen erscheint heute so berechtigt wie damals. Aber wenn wir das Wunder so definieren, dass es mit der Logik der Wissenschaften in Einklang bleibt, nämlich als die Möglichkeit von Erscheinungen, die einem Zufall geschuldet sind, den wir nicht voraussehen, geschweige denn vorausberechnen können, dann war die Welt schon immer voller Wunder und wird es auch bleiben. Und zusammen mit dem großen amerikanischen Denker William James, der davon in seinem richtungsweisenden Werk The Varieties of Religious Experience ausgiebig handelt, sind wir zu der Einsicht genötigt, dass Religion – wie jede andere Weltanschauung – zu den die Wirklichkeit verändernden Kräften gehört, sofern sie menschliches Wünschen und Wollen prägt. Das ist eine empirische Tatsache, die ganz unabhängig vom Glauben an überweltliche Mächte besteht.

*1* Die Gesetze, welche die Babylonier an den Bewegungen der Planeten beobachteten, bilden da nur eine scheinbare Ausnahme. Nach damaliger Auffassung bestimmten diese Bewegungen das Handeln und den Charakter der Menschen. Man musste sie daher kennen, um die eigenen Handlungen richtig zu planen. In diesem Zusammenhang verdient die Aussage eines herausragenden Physikers besondere Beachtung. Vor mehr als einem Jahrhundert hat Ludwig Boltzmann die Wahrheit der wissenschaftlichen Weltsicht mit ihrem praktischen Erfolg begründet. „Nicht die Logik, nicht die Philosophie, nicht die Metaphysik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern die Tat. Darum halte ich die Errungenschaften der Technik nicht für nebensächliche Abfälle der Naturwissenschaft, ich halte sie für logische Beweise. Hätten wir diese praktischen Errungenschaften nicht erzielt, so wüssten wir nicht, wie man schließen muss. Nur solche Schlüsse, welche praktischen Erfolg haben, sind richtig“ (1990). Der praktische Erfolg erklärt, warum die Vorstellungen der Babylonier inzwischen nichts mehr gelten und die moderne Naturwissenschaft den ganzen Globus eroberte.

*2* Popper hat sehr wohl gesehen, dass die Evolution mit unpersönlicher Kausalität allein nicht zu erklären ist. „Aufgrund seiner Handlungen und Neigungen, trägt das Lebewesen teilweise dazu bei, die Bedingungen für den Selektionsdruck herzustellen, der auf ihn und seine Nachkommen einwirkt. Auf diese Weise vermag er aktiv auf die Richtung Einfluss zu nehmen, welche die Evolution einschlagen wird S. 180) … Wir müssen nicht davon ausgehen, dass diese Neigungen bewußter Art sind. Aber sie können sehr wohl bewusst werden; zunächst einmal, wie ich vermute, nach Art von Zuständen des Wohlseins oder des Leidens“ (Popper, 1980; S. 179).

Trumps Mission MASA

Außer ein paar Gedenktafeln und einer Reiterstatue von Dschingis Khan erinnert in der eher trostlosen Stadt Ulaanbaatar nichts daran, dass dieser abgelegene Flecken einst der Mittelpunkt der Erde war, damals als die Weltherrschaft der Mongolen nahezu den ganzen eurasischen Kontinent umspannte – von China über Persien und den Irak bis nach Russland. Und wer heute dem kleinen Österreich inmitten der Berge seinen Besuch abstattet, vermag sich schwerlich vorzustellen, dass Wien jahrhundertelang über einen Vielvölkerstaat herrschte. Was soll man da noch über England sagen, dass bis vor etwas mehr als hundert Jahren die vorherrschende Industriemacht war, auf seinem Höhepunkt mehrere Kontinente zugleich regierend? Heute hat es nahezu alle seine großen Industrien verloren. Es wäre ein Armenhaus, wäre ihm nicht der Finanzsektor und das Öl vor seinen Küsten verblieben. Sic transit gloria mundi!

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TrumpoLitics, MuskaRade – eine Ära der Gesetzlosigkeit beginnt

Nach mehr als einem halben Jahrhundert Frieden zumindest bei uns in der westlichen Welt schrillt in den USA gerade das Startsignal für den Beginn einer neuen Ära der Gesetzlosigkeit im Umgang der Nationen. Den Panama-Kanal, bisher der Besitz eines souveränen Staates, will Donald Trump unter US-amerikanische Verwaltung stellen, d.h. okkupieren. Natürlich nicht ohne Grund. Für ihren Handel zwischen der West- und Ostküste ihres Landes sind die USA existenziell auf den Seeweg angewiesen, da die völlig veraltete und marode Infrastruktur der Schienenwege den Güterhandel nicht zu bewältigen vermag und der Transport auf den Straßen zu teuer ist. 1989 sahen die Vereinigten Staaten ihre Interessen schon einmal gefährdet. Damals sind sie gegen Diktator Noriega entsprechend vorgegangen. Trump ist eiskalter Realist. Er weiß genau, was nach einem solchen Übergriff geschehen wird – außer einem kurzfristigen Aufschrei vor allem aus Südamerika:

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Nexus oder Harari, der Visionär

Welch eine Biografie! Die Spannweite dieses großen Denkers erstreckt sich von „Sapiens – a brief History of Mankind“ bis zu „Nexus – A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI“. Damit umfasst dieser Überblick nicht weniger als drei Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte. War das große Anfangswerk „Sapiens“ noch durchdrungen von jener Wissenschaftseuphorie, zumindest von jenem Erstaunen vor ihren demiurgischen Leistungen, wie wir sie schon von Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert kennen, so überrascht uns Nexus mit seiner radikalen Wissenschaftsskepsis.

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Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!

Dieser höchst umstrittene, auf Paulus zurückgehende Spruch ist einer der bedeutsamsten überhaupt, weil sich sämtliche existierenden oder auch utopischen Sozialsysteme aus ihm herleiten lassen. Alle gehen entweder aus der Übereinstimmung mit ihm hervor oder aus dem Protest gegen ihn.

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Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege

Die Genfer Konvention von 1949 hat Kriegsverbrechen definiert, indem sie spezifische Regeln aufstellte, wie Kriege keinesfalls geführt werden dürfen. Die Schonung der Zivilisten steht da an erster Stelle. Diese Übereinkunft war ein großartiger Versuch, der Humanität zum Sieg zu verhelfen. Das Bemühen war allerdings von vornherein zum Scheitern verdammt. Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege weiterlesen

Wohin will Klaus von Dohnanyi Deutschland führen?

(Ich habe den Aufsatz an einige jener Autoren versandt, die von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen“ zitiert)

Die folgenden Gedanken sind das Ergebnis der Lektüre zweier Bücher eines sehr klugen, hervorragend informierten und erfahrenen deutschen Politikers, des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters und späteren Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Klaus von Dohnanyi, der trotz immenser Belesenheit, trotz eines fast immer bemerkenswert ausgewogenen Urteils gleichwohl beim Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) eine späte politische Heimat fand – einer Partei, die mehr als nur US-kritisch ist, während sie Putin und sein Regime mit Samthandschuhen behandelt. Wie kann sich ein kluger Mann derart verirren?

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Genozid an den Palästinensern?

Immer schon waren Kriege eine Absage an alle Humanität. Sie unter Einhaltung von Regeln zu führen, ist ein Widerspruch in sich – geradeso, als würde man den Gegner um Erlaubnis fragen, bevor man ihn erschießt. Bei Kriegen geht es um gnadenloses Morden, oft um die Ausrottung anderer Menschen. Nur Staaten mit weit überlegener militärischer Macht konnten sich leisten – und haben sich im vergangenen Jahrhundert vertraglich darauf geeinigt – das Töten der anderen und die damit einhergehende Grausamkeit zu verringern, wenn und soweit sich das mit einem vollständigen Sieg über den jeweiligen Gegner vereinbaren lässt. Sobald solche Überlegenheit nicht vorhanden ist, zählt unter Gegnern, die sich umbringen wollen, nur noch rohe Gewalt in all ihren Spielarten.

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Sind wir noch zu retten?

Mit einer solchen Frage konfrontiert, werden dem kritischen Leser mehrere Gegenfragen einfallen. Wer sei denn hier mit „wir“ gemeint? Und wovor seien die Gemeinten zu retten? Wer versteige sich überhaupt zu einer solchen Frage? Sind wir noch zu retten? weiterlesen

Die deutschen Sprachverhunzer:Innen

Spätestens seit der Antike weiß der Mensch: er ist ein zoon politikon. Er möchte von Seinesgleichen geschätzt und verstanden werden. Deswegen besteht ein elementares Bedürfnis nach Gleichklang und Resonanz – auf weniger schöne Art könnte man dieses Bestreben auch als Gleichschalterei bezeichnen. Die deutschen Sprachverhunzer:Innen weiterlesen

Der Preis der Freiheit

Es ist noch nicht lange her, da wollten uns die Politik und selbst ein Teil der Wissenschaft davon überzeugen, dass sich Demokratie schon bald über die ganze Welt ausbreiten würde, so als folge die Geschichte damit einer Art von teleologischem Gesetz. Die historische Evidenz hat zwar immer gegen eine solche Auffassung gesprochen, aber die Vernunft und unsere Gefühle für Recht und Unrecht schienen klar dafür zu stimmen. Der Preis der Freiheit weiterlesen

Natürliche versus Künstliche Intelligenz

Seit neuestem wird die Welt von einem bisher unbekannten Fieber geschüttelt, sein Name: Künstliche Intelligenz, KI (oder Artificial Intelligence AI). Angesichts der klugen Antworten, die ein Programm wie ChatGPT innerhalb von Sekunden auf beliebige Fragen erteilt, ist die kollektive Aufregung verständlich. Mancher Auskunftsuchende wähnt, dass da mehr als nur eine überaus intelligente Maschine mit ihm kommuniziert, er bildet sich ein, mit einem mitfühlenden Wesen zu reden. Yuval Noah Harari glaubt sogar, eine apokalyptische Zeit heraufdämmern zu sehen, wo wir alle nur noch Marionetten der künstlichen Intelligenz sein werden.

Lassen wir den trügerischen Eindruck, dass uns KI Gefühle entgegenbringt, zunächst einmal beiseite. Was die Intelligenz betrifft, so ist unser Erstaunen über ihr beinahe grenzenloses Wissen durchaus gerechtfertigt. ChatGPT wie auch jedes andere Programm dieser Art vermag im Prinzip auf das Wissen der ganzen Menschheit zuzugreifen, wie es in schriftlicher Form (aber auch in Bild oder Ton) gespeichert wurde. Es leuchtet ein, dass kein einzelnes Gehirn mehr als nur einen vergleichsweise infinitesimal kleinen Ausschnitt dieses kollektiven Schatzes abrufen kann. Insofern ist künstliche Intelligenz eine Errungenschaft, welche der natürlichen Intelligenz theoretisch gleich auf zweifache Weise nahezu unendlich überlegen und für Letztere auch unerreichbar ist. Erstens dadurch, dass sie sich das Wissen aller lebenden Menschen anzueignen vermag (sofern dieses gespeichert wurde), zweitens dadurch, dass sich dieses Wissen um den Faktor Zeit nahezu beliebig vermehren lässt, nämlich um das Wissen früherer Generationen (sofern es in irgendeiner Form aufbewahrt worden ist).

Damit ist nicht weniger als ein Quantensprung gegenüber der natürlichen Intelligenz vollzogen. Wenn ich ChatGPT eine elementare Frage stelle wie „Warum erfreuen sich Menschen an Blumen?“, dann wertet das Programm einerseits sämtliche zuvor gespeicherten Quellen im Hinblick darauf aus, wo Blumen im Zusammenhang mit Freude genannt worden sind, während es andererseits auch noch auf einen breiten Fächer der Mustererkennung zurückgreift – ganz wie das menschliche Gehirn. Es muss zwischen Frage und Antwort unterscheiden, zwischen relevanten und weniger relevanten Antworten, die es zudem noch nach verschiedenen Aspekten unterteilt: ästhetisch (Blumen als schöne Gegenstände), symbolisch (Blumen als Ausdrucksmittel der Verehrung usw.), kulturell (Blumen als Geschenk), Naturverbundenheit, positive Wirkung auf den Menschen etc. Würde ChatGPT ausschließlich auf Texte anderer als europäischer Kulturen oder gar auf die Überlieferungen früher Stammeskulturen zugreifen, dann ergäben sich wiederum andere Antworten und andere Kategorisierungen. Würden die Systemadministratoren dieses hingegen in erster Linie mit den Äußerungen von Geisteskranken und Verschwörern füttern, erhielte man wiederum ein völlig anderes Bild. Bei Fragen nach der politischen Relevanz von Blumen und Schönheit würden wir neuerlich andere Antworten erhalten, je nachdem ob die künstliche Intelligenz in Russland, China oder Nordkorea oder aber in Deutschland, Südkorea oder den USA programmiert worden ist. Auch die Antworten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder aus der Zeit Luthers würden eine andere Gewichtung verraten. Die künstliche Intelligenz ist daher genauso wenig „objektiv“ wie die natürliche, da sie von Menschen einer bestimmten Zeit mit Inhalten aus einer bestimmten Zeit programmiert wird. Bei ChatGPT fehlt zudem auf, dass bei vielen Antworten vor rassistischen Auslegungen gewarnt wird. Wer würde nicht sofort erkennen, dass diese Systeme in den USA entwickelt wurden? Die Gewichtung der Antworten verrät uns, wie sehr diese durch den Zeitgeist und die jeweilige kulturelle Orientierung geprägt sind.

Eine Ausnahme bilden nur die Auskünfte über beliebig wiederholbare Ereignisse, wie sie in erster Linie Gegenstand der Naturwissenschaften sind. Hier besteht Objektivität darin, dass wir auf die gleichen – im Experiment gestellten – Fragen die gleichen Antworten erhalten. Darauf ist noch zurückzukommen.

Die künstliche Intelligenz verhält sich keineswegs nur passiv. Anders gesagt, imitiert sie nicht nur, sondern ist ihrerseits produktiv. Zum Beispiel ist sie imstande, neue Verse im Stil von Goethe oder Heine zu produzieren, in denen – sagen wir – Thymian- oder Fantasieblüten vorkommen sollen. Je nach Entwicklungsgrad der künstlichen Intelligenz sind diese Versuche eher plump oder bereits so gelungen, dass selbst Kenner die neuen Verse nicht von den originalen zu unterscheiden vermögen. Das Programm verfährt dabei prinzipiell auf die gleiche Weise wie ein geschulter lebender Nachdichter. Aufgrund seines umfassenden Wissens der gespeicherten Originaltexte weiß ein Nachdichter ziemlich genau, welche Wendungen und Worte vorzugsweise infrage kommen. Jede gelungene Fälschung setzt solches Wissen voraus. Wenn künstliche Intelligenz die Schriften, die Worte, die Bilder oder auch Kompositionen eines lebenden oder toten Individuums nachahmt, wird sie zum perfekten Fälschungsprogramm. Perfekt bedeutet, dass der in Schrift, Wort, Bild oder Komposition Nachgeahmte das betreffende Thema genau so produziert haben könnte. Hier handelt es sich nicht mehr um bloße Imitation, denn der jeweilige Stil wird auf neue Elemente (z.B. Thymianblüten oder neue Themen bezogen). Aus diesesr Fähigkeit des Programms, produktiv zu fälschen, ergeben sich Gefahren, die bei den derzeitigen Diskussionen um künstliche Intelligenz im Brennpunkt stehen.

Wenn künstliche Intelligenz der natürlichen so nahekommt, wenn sie also nicht nur zur Nachahmung sondern zu eigener Produktion fähig ist, läuft diese Feststellung dann nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass die natürliche menschliche Intelligenz durch die künstliche auch völlig ersetzt werden kann? Der erste Eindruck im Umgang mit ChatGPT scheint diesen Schluss nahezulegen, zumal viele ihrer Erfinder und Propagandisten eine solche Folgerung ausdrücklich bestätigen.

Und doch wäre sie völlig falsch. Zwar ist es unbestreitbar, dass die künstliche der natürlichen Intelligenz weit überlegen ist, weil der Einzelne niemals so viel Wissen zu speichern vermag wie ein Kollektiv. Das Gegenteil trifft aber genauso zu: die künstliche Intelligenz ist der natürlichen qualitativ hoffnungslos unterlegen – und dieser Unterschied ist genauso unaufhebbar.

Nehmen wir an, dass ChatGPT bald so weit vervollkommnet wird, dass das Programm nicht nur – wie schon jetzt der Fall – zu jedem beliebigen Thema recht plumpe Verse im Stil Goethes oder Schillers zu produzieren vermag, sondern dass diese Verse von den historisch gesicherten schon in naher Zukunft nicht mehr unterscheidbar sein werden. Ist der auf diese Weise erschaffene „Pseudo-Goethe“ dann nicht schlicht und einfach ein zweiter Goethe, der ganz an die Stelle des ersten treten und diesen sozusagen durch unendliche Produktivität nicht nur ersetzen sondern weit überflügeln könnte? Und würde das nicht ebenso für einen Pseudo-Mozart und einen Pseudo-Picasso gelten, wenn künstliche Systeme deren Produkte perfekt nachahmen und vervielfältigen?

An diese Frage schließt sich unmittelbar eine andere und viel weitreichendere an. Können diese künstlichen Produzenten nicht schließlich ganz an die Stelle des Menschen treten und seine natürliche Intelligenz durch eine maschinelle ablösen? Ich habe zuvor darauf hingewiesen, dass unter den Enthusiasten der künstlichen Intelligenz viele genau auf dieser Folgerung bestehen.

Aber auf solche Mutmaßungen gibt es eine eindeutige Entgegnung, und sie ist negativ. Zwar trifft es zu, dass die perfekte künstliche Intelligenz einen Pseudo-Goethe erschaffen könnte, dessen Verse von denen des Meisters nicht zu unterscheiden sind, weil jedes vorhandene Zeichengebilde (sei es Wort, Ton, Bild etc.) sich exakt nachbilden und durch Umordnung der Elemente im selben Stil neu produzieren lässt. Die einzige Unterscheidungsmöglichkeit liegt dann in dem historischen Nachweis, dass Goethe diese Verse zu seinen Lebzeiten nie geschrieben hat. Wenn Videos von Politikern veröffentlicht werden, die von der künstlichen Intelligenz fabriziert worden sind, dann kann der Gegenbeweis gleichfalls nur durch einen historischen Nachweis erfolgen: die betreffenden Politiker haben diese Worte tatsächlich niemals gesprochen. Bei Ereignissen, die aus den Äußerungen und Handlungen von lebenden Individuen bestehen ist ein solcher Nachweis allerdings schwierig und oft unmöglich, weil sich entweder gar keine oder nur eine begrenzte Zahl von Augenzeugen ermitteln lassen.

Auf der symbolischen Ebene von künstlich produzierten Bildern, Tönen und Texten ist eine perfekte Fälschung nur noch durch die Konfrontation mit etwas ganz anderem zu entkräften: durch Konfrontation mit der Wirklichkeit. Gab es zur Zeit x am Ort y wirklich das in Ton, Bild oder Text dargestellte reale Ereignis oder ist es eine Erfindung der künstlichen Intelligenz? Solche Fragen werden in Zukunft sehr schwer zu beantworten sein, denn die Wirklichkeit außerhalb unseres jeweils eigenen Lebens- und Arbeitsraums befindet sich zu weit über neunuendneuzig Prozent jenseits unserer realen Erfahrung. Wir sind daher auf die Re-Präsentation der Wirklichkeit, also auf andere Fotos, Videos etc. angewiesen, auf denen dann etwa gezeigt wird, dass ein bestimmter Politiker zu der genannten Zeit und an dem genannten Ort diese oder jene Worte eben nicht gesprochen oder sich dort überhaupt nicht befand. Es stehen sich also immer nur verschiedene einander möglicherweise widerstreitende Re-Präsentationen des Wirklichen gegenüber, denn das wirkliche Ereignis kennen wir nicht und werden es – da es der Vergangenheit angehört – auch niemals kennen lernen. Diese Tatsache macht es unendlich schwer und oft unmöglich, eine perfekte Fälschung von einer wahren Re-Präsentation des Ereignisses zu unterscheiden. Die künstliche Intelligenz wird damit zu einem Instrument der Produktion von Fakes, d.h. von Abbildern einer Wirklichkeit, die so niemals existierte aber so hätte existieren können.

Fälschungen sind nicht neu, die natürliche Intelligenz war dazu immer schon in der Lage. Die künstliche Intelligenz ahmt daher nur eine Fähigkeit nach, die schon seit Jahrtausenden existiert, nämlich so lange Künstler fiktive Wirklichkeiten erdachten – in Romanen, auf Gemälden etc. Doch in diesen Fällen wussten wir immer, dass es sich um Fiktionen handelt. Genau das ist bei den Fakes der KI nicht länger der Fall. Da wir nicht in der Lage sind, durch direkte Erfahrung einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen und eine falsche Repräsentation der Wirklichkeit als solches zu erkennen, ist eine Entscheidung zwischen wahr und falsch unmöglich. Insofern konfrontiert uns die künstliche Intelligenz mit einer historisch einmaligen Entwicklung.

Damit ist das zerstörerische Potenzial der künstlichen Intelligenz benannt. Es bleibt, wie schon oben gesagt, nur in jenen Bereichen unwirksam, wo wir es mit beliebig wiederholbaren Ereignissen zu tun haben. Wenn eine Hausfrau aus Kenia behauptet, Wasser bei 10 Grad Celsius zum Kochen gebracht zu haben oder ein Schamane darauf besteht, dass die Einnahme von Knoblauch ihm zur Levitation verhelfe, dann lassen sich diese und ähnliche Behauptungen sehr schnell durch das Experiment widerlegen. Jedes einmalige Ereignis lässt sich fälschen, weil wir die Fälschung nicht durch Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit zu entlarven vermögen. Wiederholbare Ereignis lassen solche Fälschung nicht zu. Im Bereich der Wissenschaften wird die künstliche Intelligenz daher ihre größten Erfolge feiern und den geringsten Gefahren ausgesetzt sein.

So lässt sich schon jetzt absehen, dass die künstliche Intelligenz das Potenzial aufweist, den Wissenschaften einen gewaltigen Aufschub zu bescheren, während sie zur gleichen Zeit den moralischen Kosmos zerstört, weil sich wahr und falsch im ersten Fall leicht voneinander unterscheiden lassen, während das im zweiten Fall sehr oft unmöglich ist. Schaden und Nutzen der künstlichen Intelligenz gleichen einander allerdings keineswegs aus. Die richtige Lebensführung, also der moralische Kosmos, ist für den Einzelnen wie für ganze Nationen weitaus wichtiger als die richtige Erkenntnis, die letztlich immer im Dienste der ersteren steht. 

Noch einmal gefragt: Kann die künstliche Intelligenz die natürliche ersetzen? Diese Frage wurde bereits verneint, aber wir können unsere Antwort jetzt umfassender begründen. Der künstlichen Intelligenz fehlt der Sockel der Wirklichkeit, durch welche die natürliche Intelligenz überhaupt erst zustandekommt. Dieser Unterschied ist von grundlegender Art.

Wie entsteht natürliche Intelligenz? Sie ist genetisch durch Jahrtausende lange Erfahrung der menschlichen Gattung im Umgang mit der Wirklichkeit entstanden. Aber die genetische Disposition ist nur das Gefäß, dass für die ganz neue Erfahrung eines gerade geborenen Erdenbürgers diesem bereitgestellt wird. Wenn ein Kind in den sprachlichen Kosmos einer bestimmten Zeit und Kultur hineingeboren wird, dann liefern ihm seine Sinnesorgane visuelle, akustische und andere Reize, auf die es seinerseits emotional, d.h. mit Zuwendung oder Abneigung, reagiert. Diesen sinnlichem Geschehen ordnet es die in der jeweiligen Kultur vorhandenen Zeichensprachen zu (Wörter und Sätze, später auch Schrift, Musik etc. zu). Anders gesagt, hüllt die natürliche Intelligenz das von den Sinnesorganen gelieferte Material in das jeweils vorhandene kulturelle Gewand, weitet dieses in der Reaktion auf neue Wirklichkeiten jedoch beständig aus, zerreißt es auch manchmal, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinzustimmen scheint. Die Dialektik zwischen individueller Wahrnehmung der Wirklichkeit und deren kollektiver Re-Präsentation ist ein ständiger, nie endender Prozess – das herausragende Merkmal der natürlichen Intelligenz.

Dieser Prozess fehlt der künstlichen Intelligenz, weil sie über keine Organe zum Erkennen der Wirklichkeit verfügt. Wenn wir diese Intelligenz danach fragen, warum Blumen den Menschen Freude bereiten, dann mögen uns ihre Antworten noch so intelligent, wissend oder sogar weise erscheinen. Aber diese Intelligenz, dieses Wissen und diese Weisheit beruhen nicht auf eigener Erfahrung. Die KI hat niemals eine Blume wahrgenommen und niemals Freude dabei empfunden. Denn sie hat keine Augen, keine Ohren, kein Tastorgan, keine emotionale Erfahrung. All das bezieht sie immer nur aus zweiter Hand.

Anders gesagt, fehlt der künstlichen die für die natürliche Intelligenz konstituierende Dimension: der unmittelbare Input durch die Wirklichkeit. Das Material, über das sie verfügt, ist immer nur ein Abklatsch des Wirklichen, ihre Re-Präsentation wie sie in Millionen von Texten, Bildern etc. gespeichert ist. Wenn uns ChatGPT überraschend kluge Auskünfte darüber ereilt, warum Blumen dem Menschen so viel bedeuten oder warum es moralisch verwerflich sei, andere Menschen zu verletzen – und wenn sie das überdies noch in Worten tut, die wir selbst nicht überzeugender formulieren könnten – dann sind wir intuitiv verleitet, der Maschine dieselbe, vielleicht sogar eine höher entwickelte Fähigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zuzuschreiben als uns selbst. Doch genau hier irren wir. Die Maschine hat nur alle jene Äußerungen Zehntausender anderer Menschen über die Blume gespeichert, die wir persönlich nicht übertreffen können. Denn genau das ist es, was die Maschine uns sagt. Während du selbst beim Anblick eines überwältigend schönen Blumenstraußes vielleicht nur ein ergriffenes Ah! über die Lippen bringst, überrascht sie dich mit dem Vers eines klassischen Dichters, der deine Empfindung weit besser zum Audruck bringst als du selbst es vermagst. Und weil dich diese Überlegenheit begreiflicherweise erschüttert, traust du der Maschine zu, was ihr absolut fehlt: unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis und eigenes Wiirklichkeitserleben.

In Wahrheit fühlt, denkt, sieht, hört die Maschine absolut nichts, während ihre Algorithmen unendliche binäre Sequenzen von 000en und 11111en ausspucken, die es jeweils in die Worte und Sätze einer historischen Sprache überträgt. ChatGPT hat sein nahezu unendliches Wissen nicht wie das Kind und jeder lebende Mensch durch den Umgang mit der Wirklichkeit erworben, auf der für den Menschen alle symbolische Repräsentation beruht. Für die künstliche Intelligenz ist der einzige Bezugspunkt diese Re-Präsentation selbst. Anders gesagt, wertet sie gespeicherte binäre Sequenzen von 0en und 1ern aus, um auf entsprechende Fragen (binäre Sequenzen) die durch das Programm vorgesehenen Antworten zu erteilen.

Damit ist die ganz zu Anfang angeschnittene Frage der „Einfühlung“ beantwortet. Die Maschine fühlt absolut nichts, weil ihr der emotionale Sockel der Wirklichkeitserfahrung fehlt. Daraus ergibt sich ein zweites Manko. Unter Auswertung der vorhandenen Quellen kann sie zwar einen Pseudo-Goethe, Pseudo-Schiller, Pseudo-Picasso erschaffen, aber keine zukünftigen großen Dichter, Maler oder Komponisten, die aufgrund einer neuen Wirklichkeitssicht neue Symbolsprachen erschaffen. Die künstliche Intelligenz kann nur Vorhandenes imititeren und neu kombinieren, aber es ist ihr prinzipiell verwehrt, im Ringen mit der Wirklichkeit neue symbolische Welten zu erschaffen, wie dies der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen Existenz in einem fort tat und in Zukunft weiterhin tun wird. Diese Limitation der künstlichen Intelligenz scheint in dieser Hinsicht unüberwindbar.*1*

Manche KI-Enthusiasten werden gegen diese Feststellung protestieren. Tatsächlich gibt es in der Robotik zahlreiche Beispiele für die Verwertung von Signalen aus der Wirklichkeit. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel. Ein eingebauter Temperatursensor sorgt dafür, dass ein „künstlicher Kellner“, der die Aufträge von Gästen entgegennimmt und die Speisen anschließend zu ihnen verteilt, nicht nur optische Reize auswertet, um die richtigen Tische zu bedienen sondern auch noch temperaturempfindlich ist, so dass er einem Ofen ausweichen kann oder Speisen zurückbringt, wenn sie nicht länger warm sind. Im Prinzip könnte man der Maschine auch noch ein Sprachprogramm einbauen, damit der Maschinenkellner Fragen der Gäste vernünftig beantwortet. Seine optischen Sensoren könnten ihm überdies auch Alter und Geschlecht der Gäste richtig abschätzen und seine Antworten danach bis zur scheinbaren „Einfühlung“ in die Sprache der Kinder modifizieren lassen. Diese und viele andere Sensoren zur Wirklichkeitsabbildung sind denkbar und werden heute auch schon verwendet. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie auch nur annähernd die Komplexität der Sinneserfahrung lebender Wesen oder gar von Menschen erreichen. Diese Maschinen mögen technisch noch so vielschichtig sein. Sie sind trotzdem tote Geräte, denn im Unterschied zu wirklichen Lebewesen spüren sie nichts dabei, wenn wir sie dann irgendwann verschrotten. Die Tatsache, dass sprechende Puppen in Altersheimen immer öfter zum Ersatz für lebendige Menschen werden und dass ihnen Fantasie oder Demenz ein eigenes Leben zuschreiben wird, vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern.

Die alte Frankensteinfrage ist damit allerdings nicht beantwortet. Wird eine Maschine an irgendeinem Punkt lebendig, wenn man die Wirklichkeitssensoren und Signale stetig vermehrt, um sich sozusagen asymptotisch dem Sockel aus optischen, akustischen, olfaktischen, haptischen und emotionalen Signalen anzunähern, die jeder normale lebende Mensch von Geburt aus sein eigen nennt? Die Komponenten dafür sind jedenfalls schon vorhanden; es spricht nichts dagegen, dass wir sie mit der Zeit beliebig vervollkommen könnten. Wird es auf diese Weise möglich sein, den Menschen sozusagen immer vollkommender nachzubauen, sodass irgendwann auf diesem Wege der Umschlag von einer toten Maschine in ein lebendes Wesen erfolgt? Wird eine solche Maschine dann plötzlich ein Bewusstsein entwickeln?

Angesicht unserer vorausgehenden Definition der natürlichen Intelligenz als die Fähigkeit, über dem Sockel der Wirklichkeitserfahrung deren symbolische Repräsentation zu erbauen, wäre diese Möglichkeit nicht grundsätzlich auszuschließen – dann nämlich, wenn es gelänge, die maschinelle Sensorik der beim Menschen vorhandenen mehr und mehr anzugleichen. Aber diese Überlegung lässt uns sofort erkennen, dass unsere Definition der natürlichen Intelligenz immer noch unzureichend ist. Es gibt lebende Wesen – das gesamte Pflanzenreich gehört dazu – die kein Bewusstsein in der Art des Menschen aufweisen, weil ein solches Bewusstsein keinen biologischen Sinn ergäbe. Ein Baum kann sich den eigenen Standort nicht aussuchen, er braucht daher keine Sensorik, um optimale Standorte zu ermitteln. Die eigenständige Reaktion auf Umweltsignale ist bei Pflanzen auf elementare Vorgänge reduziert, z.B. die Ausrichtung zum Licht. Bewusstsein ergibt einen biologischen Sinn nur für aktiv in ihre Umwelt eingreifende Lebewesen, deren Handlungen sich deshalb auch positiv oder negativ für sie auswirken. Doch selbst unter dieser Voraussetzung sind immer noch unbewusste triebhafte Reaktionen möglich, wenn sie auf Ja-Nein-Alternativen reduziert werden können – wie etwa bei Annäherung an eine Feuerquelle, denn vor zu großer Annäherung an eine solche schrecken wir intuitiv zurück. Da genügt ein einfacher Sensor statt eines Bewusstseins. Erst wenn die Umwelt ein Lebewesen mit Reizen von großer Komplexität konfrontiert, entsteht Bewusstsein als die Fähigkeit, Entscheidungen zwischen immer mehr Möglichkeiten zu treffen. Die Stimuli von Belohnung für richtiges und Bestrafung für falsches Verhalten (Freude und Schmerz) spielen da eine zentrale Rolle. Ohne sie würde es kein Bewusstsein geben, weil es biologisch ein überflüssiger Luxus wäre.

Bewusstsein ist zudem nicht identisch mit Wissen. Selbst den primitivsten Organismen muss ein evolutionär erworbenes Wissen einprogrammiert sein, damit sie ihrer jeweiligen Umwelt optimal angepasst sind. Bewusstsein ist dagegen sehr viel mehr als bloßes Wissen. In ihrer heutigen Form verfügt die künstliche Intelligenz über ein nahezu unbegrenztes Wissen und ist doch nicht mehr als eine tote Maschine. Um über Bewusstsein zu verfügen, müsste die Maschine Schmerz und Freude wie natürliche Wesen empfinden und sie nicht nur – wie jetzt der Fall – auf der symbolischen Ebene nur imitieren. Einen biologischen Sinn würde das aber nur ergeben, wenn die Maschine dem Schmerz aufgrund eigener Entscheidungen ausweichen und die Freude ebenso suchen kann.

Fazit: Die KI-Maschinen erstaunen uns damit, dass sie mit Engels- und Teufelszungen reden, und doch sind sie emotional tot und ohne eigene Wirklichkeiterfahrung – dabei wird es mit größter Wahrscheinlichkeit bleiben.*2* Apokalyptische Voraussagen wie die von Harari, wonach die künstliche Intelligenz den Menschen schon bald beherrschen und unterjochen werde, darf man getrost als Sensationshascherei übergehen. Ihre nachweisbaren Wirkungen sind auch so schon weitreichend genug. Einerseits ist künstliche Intelligenz im moralischen Kosmos das Gegenstück zur Atombombe im physischen: Sie hat das Potenzial, den moralischen Kosmos nachhaltig zu sprengen und zu zerstören – mit allen vorhersehbaren Auswirkungen für Politik und Gesellschaft. Andererseits wird sie der Wissenschaft und der Industrie zweifellos einen gewaltigen Auftrieb geben.

1 Die Sprachwissenschaft leidet besonders unter dieser Einschränkung. Sie stellt mittlerweile zwar – nahezu – perfekte Übersetzungsprogramme her, aber alle Übertragungen von einer Sprache in eine andere ergeben sich als reine Trans-Formationen: die sprachliche Form einer Sprache A wird unter Anwendung entsprechender Algorithmen in die sprachliche Form einer Sprache B übertragen. Dass die natürliche Intelligenz auf völlig andere Weise verfährt (wie oben am Beispiel kindlichen Lernens illustriert), wird bei diesem Verfahren ausgeklammert. Die natürliche Intelligenz übersetzt den Wirklichkeitsinput zunächst in Begriffe (aus dem Kontinuum elektromagnetischer Lichtwellen macht sie beispielsweise einzelne Farben wie rot, gelb usw. – ich spreche von Bedeutung). Das immaterielle Substrat der Bedeutung wird dann in Form (also in Lauten, Gesten oder anderen Zeichen) materialisiert (ich spreche von der „Realisierung der Bedeutung durch die Form“).

Die Idee, das Vorgehen der natürlichen Intelligenz in der Sprachwissenschaft nachzubilden, also den Sockel der Wirklichkeit einzubeziehen, ist an sich nicht neu. Der große dänische Linguist Otto Jespersen sprach bereits von einer „notional grammar“. Steven Pinker stellt ausdrücklich fest, dass allen Sprache eine prelinguistische Bedeutung zugrunde liege, er nennt sie Mentalese und definiert diese als „The hypothetical ‘language of thought’, or representation of concepts and propositions in the brain in which ideas, including the meanings of words and sentences, are couched.“

Das Programm, Sprachen – alle Sprachen – als unterschiedliche formale Realisierungen einer – im Kern generellen – Bedeutungsstruktur aufzufassen und dementsprechend zu analysieren, wurde allerdings bisher nur als Idee entworfen. Ich habe versucht, diese Idee systematisch auszuführen. Siehe The Principles of Language – Towards trans-Chomskyan Linguistics.

Dieses Verfahren bietet keine praktischen Vorteile – die bestehenden Übersetzungsmaschinen sind, wie gesagt, sehr weit fortgeschritten. Es bietet aber die einzige Möglichkeit, um zu verstehen, warum und wie die Vielfalt bestehender und möglicher Sprachen zustandekommt und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegt. Das Interesse der von mir begründeten linguistischen Sprachwissenschaft ist theoretischer Natur.

2 Ich sehe keine Möglichkeit, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zu einem lebenden Wesen grundsätzlich auszuschließen – schon jetzt kann die Biogenetik die Bausteine der Evolution zu eigenen Zwecken manipulieren, um künstliche Wesen herzustellen. Würde es uns allerdings gelingen, diese Eingriffe so zu vervollkommnen, dass wir dabei künstliche Wesen erschaffen, die nicht nur über ein nahezu unendliches Wissen verfügen sondern auch noch Erfahrung auswerten und ein Bewusstsein entwickeln, dann wäre es unausbleiblich, dass sie sich als von uns verschieden (und noch dazu weit überlegen) empfinden. Wir hätten Grund, uns vor solchen Wesen noch mehr als vor Unseresgleichen zu fürchten – und wir sind für einander schon gefährlich genug. Durch ihre Fähigkeit zur beliebigen Fälschung aller einmaligen Ereignisse, ist die künstliche Intelligenz jetzt schon eine akute Gefahr. Der Mensch könnte nichts Dümmeres tun, als sich selbst eine Konkurrenz zu verschaffen, die diese Gefahr ins Unermessliche steigert – so wie Mary Shelley und viele Horrorfilme sie ohnehin schon seit langem beschwören.