Vereinigte Staaten im Schuldentaumel – Vorbild für die übrige Welt?

Lieber Herr Lingens /Publizist des Wiener Falter und Ökonom/, ich weiß nicht ob Sie gut daran tun, einen Lobgesang auf die Schönheit der Schulden anzustimmen und dabei das kleine Österreich mit den großen USA zu vergleichen. Vergessen Sie nicht, etwa seit den neunziger Jahren beginnt nicht nur die ganze Welt sondern beginnen selbst viele Amerikaner vom Niedergang ihres Landes zu sprechen (denn die hellsichtigsten Beobachter der USA findet man immer noch in diesen selbst). Aber ziemlich zur gleichen Zeit – nur ein Jahrzehnt früher – schraubt sich auch die US-Staatsschuldenspirale immer mehr in die Höhe. Der Niedergang ist offensichtlich: das  Bildungssystem verfällt (selbst die Forschung an Universitäten und in der Industrie wird überwiegend von eingewanderten oder angeworbenen Asiaten aufrechterhalten), die Infrastruktur ist in einem Zustand wie sonst nur in der Dritten Welt, die Auslagerung eines großen Teils der industriellen Basis hat eine Minderheit steinreich, die Mehrheit aber relativ ärmer gemacht. Eben deswegen zerfällt auch die Gesellschaft, einige sehen sie inzwischen in Richtung Bürgerkrieg driften. Wenn unter Trump und Biden die Schulden noch viel schneller steigen, dann geht davon gewiss keine Vorbildwirkung für Österreich aus, es zeigt nur, wozu ein Staat gezwungen ist, wenn er eine solche Kluft zwischen den eigenen Bürgern einmal entstehen ließ (zumal diese durch die Pandemie noch weiter vertieft wird).

Noch aus einem weiteren Grund können die USA kein Vorbild für Österreich sein. Mit dem Dollar verfügen sie über die Weltleitwährung und können sich im Ausland im eigenen Zahlungsmittel verschulden. Noch stärker aber fällt ins Gewicht, dass sie über die weltweit größte Militärmaschine verfügen. Kein Staat, auch nicht China, ihr größter Gläubiger, ist imstande, sie zur Rückzahlung ihrer Schulden zu zwingen. Aber das gilt eben nur für die USA. Anders gesagt: Quod licet Jovi non licet Bovi. Österreich – und selbst Europa – sind vergleichsweise machtlos. Sie können von mächtigen Staaten und vom Kapitalmarkt sehr wohl in die Knie gezwungen werden – die Eurokrise hat uns einen Vorgeschmack darauf gegeben. Gewiss können Schulden sinnvoll sein – für Staaten wie einzelne Unternehmen. Wenn sie nämlich jenes Wachstum erzeugen, womit sie danach bezahlt werden können. Der Aufstieg der einstigen Weltmacht England und der kommenden Weltmacht China liefern dafür eindrückliche Beweise. Aber keine alchimistische Zauberformel einer sogenannten „Saldenmechanik“, die Sie, Herr Lingens so gern beschwören, beschert diesem Rezept ewige Gültigkeit. Allein in der Geschichte Europas verblassen neben der großen Zahl von Staatsbankrotten aufgrund von Überschuldung die wenigen Beispiele für ein auf diese Weise bewirktes erfolgreiches Wachstum. Der etwa dreißigjährige Anstieg der Schulden in den USA und ihr gleichzeitiger Niedergang dürfte niemanden dazu ermuntern, dieser Tatsache zu widersprechen.

Oder haben die USA mit ihrer unaufhaltsam steigenden Schuldenlast etwa ihrem Bildungssytem geholfen? Haben sie die Infrastruktur erneuert, ihre ausgelagerten Industrien wieder ins Land geholt? Nein, sie haben all dies nur noch weiter geschwächt, gewachsen ist einzig der Militärapparat und die Kluft zwischen Arm und Reich. Wenn das BIP in der Pandemie nicht so stark abgefallen ist wie das österreichische, so muss sich doch der Verdacht aufdrängen, dass diese Differenz überwiegend mit Schulden bezahlt worden ist. Den Konsum haben sie zwar gestützt (und damit die Produktion), aber kaum Wachstum bewirkt. Schulden sind und waren nie die Ursache für die Größe einer Nation.

Dennoch haben Sie recht, Herr Lingens, in der Pandemie muss den Menschen großzügig geholfen werden, aber bitte begehen Sie nicht den Fehler, eine Notlösung in eine Tugend umzudeuten oder gar in ein Patentrezept – Stichwort „Saldenmechanik“!

Von Prof. Michael Kilian erhalte ich folgenden Kommentar:

Lieber Herr Dr. Jenner,
danke, ganz meine Meinung. Auch N.C. Parkinson (der mit dem Gesetz) bemerkte, dass man am Schuldenstand und – damit verbunden – an der Steuerbelastung der Bürger ersehen kann, ob sich das Staatswesen im Niedergang befinde. Für Großbritannien galt dies seit Ende des Ersten Weltkriegs, endgültig dann nach dem Zweiten.
Beste Grüße, Ihr Michael Kilian

Von Herrn Rainer Glaser kommt folgende Nachricht:

Lieber Herr Jenner, 
vielleicht genügt es nicht, sich auf die Schuldenfrage zu kaprizieren. Lohnenswert finde ich in diesem Zusammenhang sich mit aufgeklärten Okonomen wie Thomas Piketti und seiner neuesten Analyse „Kapital und Ideologie“ zu beschäftigen. Das System so umzubauen scheint mir vor allem in Zeiten von Korona, wo Gesellschaftsveränderungen nicht geahnten Ausmaß plötzlich möglich erscheinen, notwendig. Schon um den allzu christlichen Kriegsgewinnlern die Suppe zu verderben. Wobei letzteres ein Randerscheinung ist. Schlimmer ist der Zerfall der Infrastruktur, das ungerechte Steuersystem, das es den Unternehmern und Kapitalbesitzern Steuervermeidung und Verlagerung in Billigsteuerländern ermöglicht und jeden kleinen Arbeiter gnadenlos mit Steuer belegt. Abschafftung (Frankreich) und Aussetzung der Vermögenssteuer sind nur die Spitze des Eisbergs. Ein europäisches Steuersystem und die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzip in der EU wären erste Schritte. Ach, es gibt so viele Baustellen, aber die Bauleiter sind leider die größten Nutznießer des falschen Systems. 
freundliche Grüße Rainer Glaser

Meine Replik:

Es betrübt mich manchmal zu sehen, wie ungenau heute gelesen wird. Ich kapriziere mich nicht auf die Schuldenfrage sondern kritisiere einen anderen – einen mir sonst sehr sympathischen Mann – dafür, dass er eben dies tut, indem er in Schulden eine Art von Patentrezept sieht.