Protektionismus – ein bedrohliches Gespenst?

Von den verschiedensten Seiten wird gegenwärtig die Bedrohung durch staatliche Schutzmaßnahmen beschworen. Nichts Schlimmeres könne geschehen, als dass jeder Staat mit der sich verschärfenden Krise zunächst einmal an sich selber denke, indem er protektionistisch, d.h. egoistisch handelt. Diese Warnung vor dem Egoismus leuchtet unmittelbar ein, allerdings fragt man sich, warum Egoismus für einzelne, besonders wenn sie Banker, Manager und Vermögensbesitzer waren, bis gestern noch als das vornehmste und schützenswerteste Recht der Bürger galt? Abgesehen von diesem seltsamen Widerspruch, muss man sich aber auch die grundsätzliche Frage stellen, ob Protektionismus wirklich eine so verdammenswerte Maßnahme wäre?

In kurzfristiger Perspektive haben die Warner sicher Recht. Jede Veränderung einer eingespielten Routine bringt zu Anfang fast immer katastrophale Auswirkungen hervor. Man kann ein dicht gewobenes Netz von Handelsbeziehungen und –abhängigkeiten nicht lockern, ohne dass daraus für alle Beteiligten zunächst einmal große Nachteile entstehen. Das gilt ebenso heute wie vor einem dreiviertel Jahrhundert nach 1929.

Aber wie ist es, wenn wir den Schutz eigener Industrien und Arbeitsplätze in eine weitere Perspektive einordnen? Der renommierte Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch hat die Perioden von Freihandel und Protektionismus während der vergangenen zweihundert Jahre untersucht und stellt dabei eine Bilanz auf, die der üblichen Sicht deutlich widerspricht (»Economics and World History«).

Bairoch konnte von der jüngsten Krise noch nichts wissen. Bezieht man diese in die historische Betrachtung mit ein, dann ergibt sich etwa für die Vereinigten Staaten eine bemerkenswerte Bilanz. Nach der Jahrhundertwende fällt es nicht schwer, eine klare Antwort darauf zu geben, wann es den USA besser ging: Nach dem Bürgerkrieg bis 1914, als sie ihre Industrien mit teilweise sehr hohen Zöllen gegen Konkurrenz von außen schützten, und danach bis in die fünfziger Jahre, als sie immer noch hohe Zölle verhängten, oder seit den 60er Jahren? Der ersten dieser beiden deutlich unterschiedenen Perioden verdanken sie ihren Aufstieg zur Weltmacht, der für sie genauso verlief wie im Falle Chinas, nämlich durch äußeren Schutz. Der zweiten Periode verdanken sie ihren Niedergang als führende Industriemacht. Nachdem sie unmittelbar nach dem Kriege und dem Zusammenbruch ihrer Konkurrenten eine überwältigende industrielle Vormachtstellung besaßen und der Freihandel ihnen daher die größten Vorteile bescherte, ging dieser Vorzug für sie schon seit den achtziger Jahren verloren. Ihre eigenen Industrien wurden nach und nach ausgelagert, das Wachstum verlief auf Pump oder war Patenten, Lizenzen, dem Immobiliensektor und nicht zuletzt ihrer weltbeherrschenden Stellung als führende Handelsmacht geschuldet, d.h. überwiegend immateriellen Faktoren, die in einer ernsten Krise sehr schnell an Bedeutung verlieren. Es war vor allem die zentrale Stellung der Vereinigten Staaten im Netz der Informations- und Handelsströme, die es ihnen erlaubte, Waren aus dem Ausland zu Billigpreisen zu kaufen und Informationen (Patente, Lizenzen etc.) zu Höchstpreisen zu verkaufen. Dann kam 2008 die Krise, die diese zentrale Stellung erschüttern sollte. Auf einmal zählt nur noch die reale Basis der Produktion, die aber inzwischen in breiten Rostgürteln verkommen ist.

Europa hat die USA vor allem als Inhaber der Weltleitwährung beneidet und glaubt darin immer noch einen entscheidenden Vorteil zu erblicken. Für alles Geld, das andere Staaten benötigen, um ihren Warenverkehr untereinander in Dollars abzurechnen, können die USA Leistungen (Waren und Dienste) verlangen, ohne irgendwelche Gegenleistungen zu erbringen. Diese »Seigneurage« setzte in Richtung USA einen Strom geschenkter Waren in Fluss, der sich in einer entsprechenden Erhöhung des amerikanischen Lebensstandards auswirkte. Führende Kreise Europas sahen und sehen ihren Ehrgeiz darin, den Euro an die Stelle des Dollars zu setzen, um ihn als neue Leitwährung zu etablieren. In der von den Vereinigten Staaten ausgehenden Krise erblicken nicht wenige eine Chance für den Euro.

Aber liegt darin eine wirkliche Chance oder eher eine gefährliche Verführung?

Nimmt man beides zusammen: den Freihandel und die Leitwährung Dollar, so drängt sich dem vorurteilsfreien Beobachter heute die Einsicht auf, dass die Weltmachtstellung der USA in erster Linie durch diese beiden Institutionen ausgehöhlt worden ist und letztlich an ihnen zugrunde ging. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen aus der Geschichte. Die spanische Vormachtstellung im 16. Jahrhundert beruhte auf Gold, und sie ging in kürzester Zeit aufgrund eben dieses Goldflusses zu Ende. Leistungslos erworbener Reichtum, gleichgültig ob dieser nun aus Gold, Öl, Gas oder den Vorteilen einer Leitwährung besteht, verschafft kurzfristig größten Gewinn. Dagegen führt er auf längere Sicht fast immer zu einer Lähmung der produktiven Kräfte. Stark, wohlhabend und sozial dynamisch wird ein Staat durch eigene Arbeit; geschwächt, abhängig und sozial gespalten wird er durch alles, was ihm ohne Arbeit nur in den Schoß fällt. So gesehen könnte Europa gar nichts Schlechteres passieren, als dass der Euro die Stelle des Dollars als internationale Leitwährung übernimmt. Eine solche Rolle Europas wäre vermutlich durchaus im Sinne Chinas und Indiens, die dann auch bei uns so wie zuvor schon in den Vereinigten Staaten mehr und mehr industrielle Kapazitäten in eigene Regie übernehmen und unsere noch intakten Fabriken in Rostgürtel verwandeln. Auf kurze Frist würden alle zufrieden sein, auf lange Sicht würde Europa denselben Weg wie die USA beschreiten.

So segensreich der freie Handel unter bestimmten Bedingungen ist (nämlich innerhalb eines politisch geeinten und sozial halbwegs homogenen Territoriums), so verheerend können seine Auswirkungen sein, wenn diese Bedingungen fehlen. Die frühere Weltmacht Großbritannien hat ihre einstmals führenden Industrien fast gänzlich eingebüßt, die USA sind gerade dabei, General Motors zu verlieren, bis vor kurzem Inbegriff das Flagschiff amerikanischer Vormachtstellung. England hat eine Zeitlang genug am Öl verdient, um den Lebensstandard seiner Bürger zu wahren. Man meinte überdies, den Verlust an realer produktiver Substanz durch Finanzdienstleistungen wettzumachen. Die USA glaubten sich aufgrund ihrer überragenden militärischen Stärke, der Leitwährung Dollar und einer Handvoll von Spitzenuniversitäten auch dann noch als Weltmacht behaupten zu können, wenn von der industriellen Basis im eigenen Land immer weniger übrig blieb. Eine einzige große Krise hat jetzt genügt, um solche Vorstellungen als Illusion zu entlarven.

Doch die Illusion betrifft nicht nur Staaten, die ihre eigenen Industrien leichtfertig opferten, sie betrifft auch die anderen: die großen Exporteure China, Japan und Deutschland.

Nehmen wir zum Beispiel Deutschland. Trotz exportgetriebenen Wachstums wurde die Wohlfahrt nach den neunziger Jahren nur noch für eine Minderheit erhöht. Aufgrund der Konkurrenz asiatischer Billiglohnländer standen die Massenlöhne unter fortwährendem Druck. Die außereuropäisch orientierte Exportindustrie erbrachte zwar nicht einmal zehn Prozent der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung, aber sie drückte unaufhörlich das Lohnniveau bei den außerhalb von ihnen arbeitenden restlichen 90 Prozent der arbeitenden Menschen. Die Mehrheit verlor relativ an Kaufkraft, während sich die Spitzenlöhne erhöhten – eine zunehmende soziale Spaltung in Arm und Reich war die Folge.

Spätestens wenn der US-Währung in den Keller rutscht (was jetzt schon absehbar ist, weil die phantastische Staatsverschuldung nur mit dem Druck neuer Dollarnoten bezahlt werden kann), werden die USA damit beginnen, ihre verlorenen Industrien wieder aufzubauen. Dazu werden protektionistische Maßnahmen unumgänglich sein. Einerseits weil bei zunehmend schwächerem Dollar das Geld für den weiteren Import ihres hohen Lebensstandards einfach nicht länger vorhanden ist, andererseits weil sie ohne diesen Import und ohne eigene Produktion auf das Niveau eines Entwicklungslandes herabsinken würden. Die Wirkung dieses kommenden Protektionismus wird die jetzt schon massiven Exporteinbrüche in Japan und Europa noch weit übertreffen.

Der von den USA ausgehende und bald weltweit ausgreifende Protektionismus wird sich zunächst als überaus schmerzhaft erweisen und den allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang stark beschleunigen. Für die Zukunft birgt er dennoch die entscheidende Chance, dass er den Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell erleichtert oder ihn vielleicht sogar erzwingt. Denn dieser Übergang wird nur auf regionaler Ebene möglich sein: mit erneuerbaren Energien, mit organisierter Wiederverwertung und einer Vorortproduktion, die innerhalb politisch geeinter und sozial weitgehend homogener Wirtschaftsblöcke stattfindet. Solche Blöcke waren bisher nur Nationen – die Europäische Union könnte und wird hoffentlich einmal zu einer solchen Einheit zusammenwachsen. Nur auf der Ebene politisch und sozial geeinter Gesellschaften entfaltet die Teilung der Arbeit, eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Hebung des Lebensstandards, ihre belebenden Wirkungen, während sie zwischen Nationen auf ganz unterschiedlichem Niveau der Entwicklung selten eindeutig günstige, sehr oft aber für eine oder auch beide Seiten geradezu zerstörerische Wirkungen freisetzt. Hier kann Protektionismus wirklichen Schutz bedeuten.