Peter Lingens‘ radikale These – Schulden als Fundament des Reichtums?

Viele haben sich über den Reichtum Gedanken gemacht. Adam Smith sah seine Ursache in der persönlichen Initiative, in der Arbeitsteilung und im Handel. Robert Reich hat in „The Work of Nations“ eine ebenso einleuchtende Erklärung gefunden. Es blieb Herrn Lingens vorbehalten, eine noch einfachere Lösung für das Problem zu finden. Unter der Überschrift: „Weshalb sind die USA so viel reicher?“ bekräftigt Peter M. Lingens in einem Artikel vom 9. Mai dieses Jahres neuerlich die kühne These, wonach Schulden die Grundlage für den Reichtum der Nationen seien. Auf drei Sätze verdichtet, heißt es in seinem Falter-Artikel: Der ökonomische Vorsprung der USA gegenüber Deutschland oder Österreich wächst ständig. Hauptgrund sind die höheren Staatsausgaben… Die Erklärung dafür /für diesen Vorsprung/ bleibt die immer gleiche: Während die USA ihre Staatsschuldenquote für mäßig relevant halten, unterwirft sich Deutschland und die EU seit dem Vertrag von Maastricht extrem kontraproduktiven Staatsschulden- Regeln… 

Lieber Herr Lingens, Sie haben etwas Entscheidendes übersehen. Bekanntlich strebt die ganze Welt danach, von den USA die Leitwährung Dollar zu bekommen, weil sie ihren Handel mit Drittstaaten in Dollar abwickeln. Die Chinesen etwa beliefern die Vereinigten Staaten Jahr für Jahr mit ganzen Schiffsflotten voller Waren, nur um dafür Dollar entgegenzunehmen, d.h. sie liefern Leistung im Gegenzug für bedrucktes Papier – und wirklich weitgehend allein zu diesem Zweck, denn in dem Augenblick, wo sie dieses Papier bei den Amerikanern wieder in dort erzeugte Güter zurücktauschen würden (was dem normalen zwischenstaatlichen Handel entspricht!) steht ihnen das begehrte Transaktionsmittel, der Dollar, nicht mehr zur Verfügung. Der Ökonom Barry Eichengreen von der Berkeley Universität wies 2011 darauf hin, dass die USA aufgrund des Leitwährungsstatus des Dollars jährlich Warengeschenke von etwa 500 Milliarden Dollar anhäufen konnten. Das entspreche einem jährlichen wirtschaftlichen Nutzen von ganzen drei Prozent des amerikanischen VolkseinkommensDass diese Geschenke durch die größte Militärmacht der Welt bis dato abgesichert werden, dürfte auch kein Geheimnis sein. Drei Prozent Wachstum – das ist außerordentlich viel und erklärt den Vorsprung der USA zur Genüge. Wenn Sie schon Vergleiche anstellen, dann z.B. zwischen Europa und Japan, denn beide Regionen befinden sich gegenüber den USA in einer ähnlichen Situation. Doch selbst hier würde der Vergleich hinken, weil die japanische Regierung sich gegenüber ihren eigenen Bürgern verschuldet (Binnenschulden) und diese in einer existenziellen Krise zur Not auch enteignen kann. In Europa ist das nicht möglich, weil die Staatsschulden gegenüber dem globalen Kapitalmarkt bestehen (Außenschulden).

Warum sind Sie, Herr Lingens, ein kluger, machmal bewundernswert klug abwägender Mann, so naiv, Staatsschulden ohne jede Einschränkung gutzuheißen und wieder und wieder den völlig unpassenden Vergleich mit den USA anzustellen? Letztere können sich, wie Sie wissen, noch dazu in Ihrer eigenen Währung verschulden – und das macht einen gewaltigen Unterschied. Es kann Ihnen doch nicht entgangen sein, dass in der Asienkrise von Thailand bis Südkorea ganze Staaten ins Straucheln gerieten, weil sie sich in einer Fremdwährung, dem Dollar, verschuldet hatten. Der Kursverfall ihrer eigenen Währungen warf sie damals auf Jahre zurück. Schulden, also Investionen, können Staaten und Unternehmen reich machen aber genauso auch in den Abgrund reißen. Steif und fest argumentieren sie, dass sie immer nur Ersteres tun. Hätten Sie recht, dass Staaten durch Verschuldung – oder gar durch das Drucken von Geld, denn auch das behaupten Sie ja – zwangsläufig geholfen wird, dann hätte Griechenland ganz Europa überflügeln müssen und den Italienern mit ihrer hohen Staatschulden müsste es ganz besonders gut gehen. Bekanntlich aber ist das gerade Gegenteil der Fall. Vielmehr gerät der ganze Süden neuerlich in akute Gefahr, wenn auch Europa – im Gefolge der USA – wieder an der Zinsschraube dreht. Die bevorstehende Erhöhung der Zinsen auf Staatspapiere, die den USA nichts anhaben wird, könnte sich für die Europäische Union als fatal erweisen, weil hohe Zinsen im Süden Europas einen bedeutenden Teil der Steuereinnahmen verschlingen, sodass für sonstige Ausgabe dann wenig übrig bleibt – die Bevölkerung wird in die Armut getrieben. Die aus der hohen Verschuldung resultierende Schuldenlast könnte der Extremrechten immer noch die Gelegenheit bieten, die EU von innen zu sprengen.