Das Blinzeln des letzten Menschen – Götz Werner und die Folgen

Weht der Wind scharf, dann ziehen sich die Leute die Kapuze über den Kopf. In den Jahren nach 33 hatte die Märchen- und Trostliteratur Hochkonjunktur. Die Wirklichkeit war schon rau genug, da zog man es vor, sie aus dem Bewusstsein zu verbannen. Seit der neoliberale Sturm über Europa fegt und die gewohnten Ansprüche und Sicherheiten ins Wanken bringt, halten die Leute wiederum Ausschau nach Wanderpredigern, Heilpraktikern und Erlösern. Es besteht ein großes Bedürfnis nach Märchenerzählern. Wenn es schon immer weniger reale Sicherheit gibt, dann möchte man sie wenigstens im eigenen Kopf zelebrieren.

Ja, der Kulturkampf um die frohe 1000-Euro-Botschaft ist mehr als nur eine Kuriosität für wenige Enthusiasten und viele Spinner – er ist ein Zeichen von Wirklichkeitsverweigerung, Märchensehnsucht, Vogelstraußmentalität. GW ist Symbol für einen Wirklichkeitsbruch.

Das zeigt sich schon daran, dass man in der ganzen Diskussion ein entscheidendes Faktum ganz unberücksichtigt lässt. Das (nahezu) bedingungslose Grundeinkommen ist ja alles andere als neu. In einigen Teilen der Welt ist es verwirklicht worden: in China unter Mao, im heutigen Nordkorea des Kim Jong-Il, und nicht zuletzt bei uns nebenan, im einstigen Bauern- und Arbeiter-Staat. Dort garantierte der Staat all seinen Bürgern ein gesichertes Grundeinkommen, die einzige Bedingung, die er im Gegenzug an sie stellte, war das Einverständnis mit dem Regime. Diese Forderung hat die Mehrheit bekanntlich wenig gestört. Manche ehemalige Bürger der DDR trauern dem damaligen Grundeinkommen, das ihnen so viel psychische Sicherheit bot, auch heute noch nach. Auch wenn sie größtenteils unterbeschäftigt waren – nicht wenige drehten am Arbeitsplatz nur noch den Daumen – das Lebensminimum war für alle gesichert. Niemand brauchte sich um das physische Überleben Gedanken zu machen.

Unsere Brüder und Schwestern jenseits des Stacheldrahtgrenze waren dennoch recht unzufrieden. Mit ihrem Grundeinkommen war ihnen nämlich kaum mehr als eine Grundarmut zugesichert. Und genau das ist das Problem im heutigen Nordkorea, und es war das Problem in Maos China. Man erinnert sich noch an die Zeit, als viele westliche Intellektuelle mit größter Sehnsucht gen Osten blickten, wo der Große Vorsitzende gerade den neuen Menschen erfand. Es war der neue Mensch mit Grundeinkommen und gründlicher Armut. Er ist, wie wir wissen, blitzschnell wieder zum alten Menschen geworden. Nach Mao hatten die Chinesen nichts Eiligeres zu tun, als dieser Art Sicherheit den Rücken zu kehren.

Doch warum ist es dazu gekommen? Der anthroposophische Heilpraktiker verschreibt den Deutschen doch gerade die 1000-Euro-Pille, um ein Volk der Kreativen aus ihnen zu machen. Warum hat das garantierte Grundeinkommen aus den Bürgern der ehemaligen DDR nicht ebenfalls Kreative gemacht? Dort hätten die Denker, Arbeiter und Erfinder sich doch nur zurücklehnen müssen, um – ganz ungestört von den Zwängen der Daseinsfürsorge – ihren Einfällen freien Lauf zu lassen. Mangels echter Beschäftigung und jeder Menge an Zeit waren die Bedingungen im Osten unseres Landes geradezu ideal. Es hätte zu einer kreativen Explosion kommen müssen, zumal das Regime mit aller Kraft technologische Neuerungen zu stimulieren versuchte. Warum trat gerade das Gegenteil ein? Hüben und drüben sind doch die gleichen Deutschen am Werk gewesen. Warum sind sie im Osten an einem Mangel an Kreativität gescheitert? Warum verharrte man dort in einer überwältigenden geistigen Stille, um nicht zu sagen, in einem Zustand totaler geistiger Erstarrung?

Nach dem Grund dürfen wir den anthroposophischen Heilpraktiker nicht fragen. Er weiß nicht, dass die garantierte Sicherheit alle Kreativität verlässlich tötet. Nietzsche hingegen wusste es, als er von den letzten Menschen sprach. „Wir haben das Glück erfunden – so sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Der Märchenonkel aus Karlsruhe ist eine Gefahr, weil er den Deutschen das süße Gift der Dekadenz in die Seele tröpfelt. Die Zeit ist rau und sie wird zunehmend rauer. Viele haben sich die Kapuze über die Ohren gezogen und wollen nur noch Beruhigendes hören. Da kommt einer gerade recht, wenn seine Botschaft aus lauter Versprechungen besteht. Die neue „Ich-will-alles-und-zwar-sofort-Generation“ hat Ansprüche, aber von Pflichten oder gar Forderungen will sie nichts hören. Der Staat soll sie verwöhnen und soll sie gefälligst umsorgen, darin sehen sie seine Funktion. Dass der Staat die anderen sind, die arbeitenden Menschen, darüber wollen sie sich keine Gedanken machen. Sie jubeln dem Märchenerzähler zu und seiner Botschaft der Kraftlosigkeit, der Ermattung und Selbstaufgabe, und sie fühlen sich ungeheuer geschmeichelt, wenn er diese Botschaft auch noch mit der blauen Blume der Kreativität verschönert.

All dies hat unseren Hohn und unseren Spott reichlich verdient. Doch sollte man dabei nicht ungerecht werden. Die Dekadenz ist nicht von gestern, und sie wurde auch nicht von GW erfunden. Sie hat ja längst ganz oben begonnen, dort, wo Fische zuerst verrotten. Man soll mich nicht missverstehen. Ich denke nicht etwa an jene Wirtschaftskräfte, die mit ihrem Talent, ihrem Wissen und ihrem Erfindungsgeist dafür sorgen, dass Deutschland sich immer noch unter den führenden Industrienationen befindet. Gewiss hätte der Staat die Aufgabe gehabt, exzessive Einkommensunterschiede auf ein vernünftiges Maß einzudämmen, denn niemand ist hundertmal intelligenter, hundertmal wissender, hundertmal durchsetzungskräftiger als der Durchschnitt. Hier hat sich die kulturelle Konvention der Einkommensunterschiede souverän über alle biologischen Grundlagen hinweggesetzt. Dennoch tragen diese Leute mit ihrer Leistung das Gemeinwesen auf ihren Schultern, zusammen mit ihren Mitarbeitern schaffen sie den Reichtum der Nation.

Nicht bei ihnen ist die Dekadenz zu suchen, sondern dort, wo Reichtum ganz ohne Leistung entsteht, konserviert und weiter akkumuliert wird. Die oberen fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung haben es fertiggebracht, Mechanismen der Reichtumsanhäufung zu nutzen, die ein Grundprinzip unserer Gesellschaft außer Kraft gesetzt haben, eben das Prinzip, wonach soziale Achtung und materielle Entlohnung eine Funktion persönlicher Leistung sind. Es gibt immer mehr Menschen, die (zwar nicht als Individuen, aber als Schicht) mit einer Wahrscheinlichkeit, die an Sicherheit grenzt, damit rechnen können, dass sich ihr Reichtum ohne jeden Aufwand an eigener Kreativität stetig vermehrt. Hier liegt die Quelle der Dekadenz, nämlich der Selbstzersetzung unseres Gesellschaftssystems. GW hat sie um eine weitere Facette vermehrt: Auch die Benachteiligten unserer Gesellschaft sollen sich ganz ohne eigene Leistung und Kreativität wohl fühlen können. Der „Ich-will-alles-und-zwar-sofort-Generation“ verspricht er die Frühverrentung.

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten gab es in der Bundesrepublik weder die garantierte Sicherheit, welche die Kreativität abtötet, noch gab es ein Übermaß an Unsicherheit, welche Kreativität gar nicht erst aufkommen lässt. Der Sozialstaat hatte eine sinnvolle Mitte zwischen den Extremen gefunden, indem er jenen, aber auch nur jenen half, die der Hilfe bedürfen. Doch in der Mitte fühlen sich die Alles-Woller nun einmal nicht wohl, und schon gar nicht behagt ihnen das eigene Denken über Ursachen und Wirkungen. Ungleichverteilung? Was geht denn mich das an? Da muss ich mich ja engagieren, da wird vielleicht sogar Kampf und persönlicher Einsatz verlangt! Die Gefolgschaft des großen Märchenonkels scheut jedoch nichts so sehr wie den Kampf. Stattdessen zieht sie sich die Kapuze ganz tief über die Ohren. Denn die Zeit ist rau, und sie will vor allem getröstet werden.

Ja, und das wird sie denn auch. Hat der große Heilpraktiker nicht eben noch die fromme Mär verbreitet, dass die Reichsten in unserem Staat auch die meisten Steuern zahlen? Fürwahr, wenn der Märchenerzähler aus Karlsruhe die Welt seinen Jüngern erklärt, dann braucht man nicht nachzudenken, dann wird es so richtig gemütlich.