Alle gegen alle: der Cyberkrieg gegen Wahrheit und Vernunft

(Abschnitt aus meinem neuen, bisher unveröffentlichten Buch »Homo Faber – was uns Holodoxie über die Zukunft des Menschen sagt«)

Kaum ein denkender Mensch würde heute noch behaupten, dass der „Fortschritt“ der Waffentechnologie die Welt besser oder gar sicherer macht, doch genau diese Voraussage wurde im Hinblick auf das Internet und die sozialen Medien abgegeben. Die Vernetzung aller mit allen, die auf diese Weise ermöglicht wurde, erschien den Schöpfern dieser Technologie als ein Versprechen auf weltweite Verbreitung von Wahrheit und Wissen. Die Tatsache, dass nunmehr jeder einzelne seine Meinung äußern und dass diese im Prinzip von allen anderen Menschen auf dem Globus gehört werden kann, wurde als Verheißung einer neuen weltweiten Demokratie gepriesen.

Im Laufe unser bisherigen philosophischen Reflexionen über Voraussagen in der Geschichte haben wir allerdings schon mehrfach feststellen müsssen, dass selbst Voraussagen, die das Gewicht vernünftiger Argumente auf ihrer Seite haben, nicht selten spektakulär widerlegt worden sind. Am eindringlichsten zeigte sich dieses Versagen der vernünftigen Zukunftsdeutung bei jenem fiktiven Steinzeitpropheten (und seinem späteren Sprachrohr Marvin Harris), welcher mit der neuen agrarischen Lebensweise eine Zeit des Friedens und der Gleichheit heraufkommen sah. Die nachkommende Geschichte sollte das genaue Gegenteil beweisen.

Das Gleiche gilt für den Nutzen des Internets in Bezug auf Frieden, Demokratie und Wahrheit. Es zeigt sich, dass Sabotage als eine Form des kalten Krieges in globalem Maßstab erst durch das Internet möglich wurde. So gelang es den Amerikanern im Februaer 2009 mit Hilfe des Virus Stuxnet, fünfzig iranische Zentrifugen zur Anreicherung von Uran zu zerstören.

„Stuxnet wurde in der Presse als ‚die am weitesten entwickelte Cyberwaffe der Geschichte‘ beschrieben und stellt die erste große Offensive im globalen Cyberkrieg dar“ (alle Zitate dieses Kapitels aus David Colon 2023)

Was die Amerikaner nicht bedachten. Die neue Waffe erlaubt eine neue Kriegführung von asymmetrischer Art, da sich ihre Anwendung im Vergleich zur Erforschung und Entwicklung konventioneller Waffensysteme als unvergleich viel billiger erweist. Daher wird sie auch sehr schnell von den Gegnern der USA wie China, Russland, dem Iran und Nordkorea übernommen, und zwar mit gleich großem Erfolg.

„… am 12. Mai 2017 startet Nordkorea einen der massivsten Cyberattacken aller Zeiten und infiziert 230 000 Computer in 150 Ländern mit dem WannaCry-Virus, das auf der Grundlage eines im Jahr zuvor von den Russen aufgedeckten NSA-Tools namens „Eternal Blue“ entwickelt wurde, einem Virus, das eine Schwachstelle in älteren Versionen von Microsoft Windows ausnutzte… WannaCry befällt zahlreiche Krankenhäuser, legt das britische Gesundheitssystem lahm und führt zu einem Produktionsstopp in mehreren Montagewerken des Automobilherstellers Renault. Das nordkoreanische WannaCry-Virus wurde als neue Form des internationalen Terrorismus angesehen, da es massiv und unterschiedslos die zivile Infrastruktur attackierte.“

Dagegen mutet es fast schon harmlos an, dass die modernen Informations-Autobahnen außer der Sabotage auch Spionage in einem niemals zuvor erahnten Ausmaß ermöglichen. China scheint die USA darin inzwischen zu übertreffen.

„Es gibt zwei Arten von Großunternehmen in den USA, resümierte 2014 der damalige FBI-Direktor James Comey. Es gibt diejenigen, die von den Chinesen gehackt wurden, und diejenigen, die nicht wissen, dass sie von den Chinesen gehackt wurden.“ Seitdem /nimmt/ „die Zahl der chinesischen Cyberangriffe… nicht nur nicht ab, sondern diese betreffen nun auch einige der geheimsten Daten der US-Regierung.“

Das Internet überspringt alle zwischen den Staaten bestehenden Grenzen, sofern sie durch die Autobahnen der Information verbunden sind (Russland und China haben diese Verbindung weitgehend gekappt). Daher eröffnet es die Möglichkeit, weltweit Einfluss auf Denken und Fühlen der Menschen zu nehmen. Hier haben sich optimistische Voraussagen als besonders irrig erwiesen. Schon heute, kein halbes Jahrhundert nach der Erfindung des Internet, wissen wir, dass dieses nicht dem Frieden, nicht der Verbreitung von Wahrheit dient und keineswegs der Festigung der Demokratie sondern sich als eines der gefährlichsten und wirksamsten Instrumente erweist, um Wahrheit zu vernichten und die Demokratie zu schwächen.

Denn dasselbe Bedürfnis, welches in einer im Hobbeschen Naturzustand verharrenden Welt alle Nationen, die es sich leisten können, nach den ultimativen Waffen streben lässt, bewirkt ebenso, dass jede von ihnen allen anderen das bestmögliche Bild von sich selbst geben will – das Bild eines friedliebenden, selbstlosen, auf das Wohl der ganzen übrigen Welt bedachten Staates. Da dieses propagandistische Selbstporträt mit den Fakten im besten Fall nur teilweise übereinstimmt, geht es dabei von Anfang an weniger um die Fakten als vielmehr darum, diese im Sinne der Propaganda zurechzubiegen, d.h. sie zu beschönigen und zu fälschen. Diese Festellung trifft inzwischen auf sämtliche Staaten zu, in abgeschwächter Form auch auf westliche Demokratien.

„Am 9. April 2003 gingen die Bilder einer jubelnden Menschenmenge um die Welt, welche die Statue von Saddam Hussein auf dem Firdos-Platz in Bagdad demontierte. Es handelte sich um eine Pseudo-Veranstaltung, die von der US-Armee mit Hilfe von einigen Dutzend Aktivisten von Ahmed Chalabi – dem Chef des Irakischen Nationalrats – vor eigens versammelten Journalisten organisiert worden war.“

Dass das Sammeln und Überprüfen von Fakten auch in Demokratien eine zunehmend geringere Rolle spielt, ist an den Zahlen abzulesen. Der französiche Historiker David Colon stützt sich auf einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen, wenn er bemerkt.

„Im Jahr 2006 gab es in den US-Medien insgesamt nur 141 Auslandskorrespondenten weltweit… Doch während die Zahl der Journalisten sinkt, wächst die PR-Industrie stetig. Bereits 1990 war in den USA die Zahl der Beschäftigten in der PR-Industrie (162 000) dreimal so hoch wie die der Journalisten (50 900).“

Die Aufgabe der PR-Industrie besteht bekanntlich darin, Werbung zu betreiben, wobei das beworbene Produkt ebenso eine Waschmaschine, eine Automarke oder eben ein Staat sein kann. Dabei entfaltet das von der PR-Maschinerie kreierte Selbstbild natürlich eine umso größere Wirkung, je mehr Menschen es im Ausland erreicht. Maximale Verbreitung bewirken heute nicht mehr die traditionellen Verbreiter von Nachrichten, also Zeitungen, Radio oder Fernsehen, sondern die sozialen Medien. Diese werden inzwischen von allen Staaten dazu gebraucht (missbraucht), um ein Idealbild des eigenen und ein möglichst negatives Porträt feindlicher Staaten in den Köpfen zu verbreiten.

„Im 21. Jahrhundert, so Joseph Nye /ein US-amerikanische Politikwissenschaftler/, wird es bei Konflikten weniger darum gehen, welche Armee gewinnt, sondern vielmehr darum, welche Erzählung die Oberhand gewinnt.“

Das ist zwar ein Krieg, der sich unterhalb der Schwelle heißer Waffengänge ereignet, die Geschichte belehrt uns aber, dass der Krieg der Worte und die Aufhetzung durch Propaganda stets der Vorspann für den Krieg der Waffen gewesen sind.

Die sozialen Medien, allen voran Facebook und Twitter (heute X), sind die aktiven Förderer einer solchen Entwicklung, weil Botschaften, die zu Hass und Wut aufrufen, eine ungleich größere Wirkung ausüben als gemäßigte Statements.

„Es stellte sich heraus, dass Wut die stärkste Emotion ist, da sie das meiste Engagement (Likes, Shares, Kommentare) erzeugt. Im Jahr zuvor waren chinesische Wissenschaftler zu demselben Schluss gekommen, als sie 70 Millionen Nachrichten von 200 000 Nutzern analysierten: Wut ist einflussreicher als andere Emotionen wie Freude.“

Im Sinne vermehrten Profits dienen Wut und Hass daher auch in demokratischen Staaten der Verbreitung von Misstrauen und Aufruhr. Das Recht auf freie Meinungsäußerung – eine unabdingbare Voraussetzung für die Demokratie – wird aber verletzt, wenn Hetze und die Verzerrung von Tatsachen zum geschäftlichen Nutzen der Unternehmen ein unverhältnismäßig großes Gewicht erhalten.

Jeder kennt die Wirkung von Hass und Wut. Beide lähmen die Vernunft und das Streben nach Wahrheit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass solche Gefühle als bevorzugte Vehikel dienen, um Falschinformation zu verbreiten.

„Amerikanische Forscher des MIT untersuchten den Lebenszyklus von 126 000 Gerüchten, die zwischen 2006 und 2017 von 3 Millionen Menschen auf Twitter verbreitet wurden, und stellten fest, dass sich Falschmeldungen sechsmal schneller verbreiteten als wahre Nachrichten und wesentlich mehr Menschen erreichten: ‚Falschmeldungen werden in allen Informationskategorien signifikant weiter, schneller, tiefer und breiter verbreitet als die Wahrheit‘, so ihre Schlussfolgerung.“

Als wirksamstes Instrument einer staatlichen Propaganda, die diesem selbst nützt, den anderen dagegen schadet, erweist sich die Taktik, unter den Bürgern konkurrierender oder feindlicher Staaten Zweifel an den eigenen Institutionen und der eigenen Regierung zu säen. Diese Taktik betreiben autoritäre Staaten wie Russland und China inzwischen mit großem Erfolg, weil sie dabei – im Gegensatz zu westlichen Demokratien – weder durch eine unabhängige Presse und Forschungsinstitutionen noch durch legale Vorgaben behindert werden.

„Die russische Propaganda bietet allen zentrifugalen Kräften und kritischen Stimmen einen Resonanzboden und verschafft sozialen Spannungen und terroristischen Anschlägen die größtmögliche Aufmerksamkeit… Die russische Propaganda versucht, die Europäische Union von innen heraus zu unterminieren, den Westen abzuwerten und die Demokratie gegen sich selbst aufzubringen. Im Jahr 2014 unterstützte sie die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit beim Referendum, und als das „Nein“ gewann, verbreiteten russische Medien und Trolle Videos, die angeblich Wahlbetrug zeigten. In den Niederlanden mischte sie sich in die Kampagne für das Referendum über das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union im April 2016 ein, indem sie unter anderem gefälschte Videos verbreitete, die angeblich ukrainische Terroristen zeigten, die in niederländischen Städten ihr Unwesen trieben. In Spanien unterstützt der Kreml die katalanischen Sezessionisten bei den Referenden 2014 und 2017… Überall in Europa unterstützt Russland aktiv rechtsextreme Parteien, sei es die Ataka-Partei in Bulgarien, die Freiheitliche Partei in Österreich, der Vlaams Belang in Belgien, die Partei der Finnen, der Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien, die Goldene Morgenröte in Griechenland oder die Jobbik-Partei in Ungarn. In Deutschland wird die Alternative für Deutschland (AfD) seit ihrer Gründung im Jahr 2013 von Russland finanziert und medial unterstützt… Im Jahr 2020 betreibt der russische Propagandaapparat eine weltweite Desinformationskampagne über die Covid-19-Pandemie. Während Wladimir Putin seine Bevölkerung dazu ermutigt, sich zu schützen und zu impfen, lässt er im Westen gleichzeitig covido- und impfskeptische Thesen verbreiten. RT bringt die These einer imaginären Pandemie in Umlauf, die von Bill Gates entworfen wurde, um seinen Einfluss auszuweiten.“

Inzwischen hat China mit TikTok eine eigene soziale Plattform entwickelt, um weltweit auf die Köpfe einzuwirken.

„Heute erscheint die weltweite Verbreitung von TikTok wie eine historische Rache Chinas, weil sie die westlichen Großmächte schwächt, indem sie die Aufmerksamkeit ihrer Jugend massiv auf sich zieht und sie von sinnvolleren Aktivitäten ablenkt. In vielerlei Hinsicht erinnert der hypnotische Traumzustand mancher TikTok-Nutzer an den Zustand opiumsüchtiger Chinesen, wie er von vielen Autoren im 19. Jahrhundert beschrieben wur­de.“

Kein Wunder, dass China die Verwendung im eigenen Land verbietet.

„Wenn du unter 14 Jahre alt bist, zeigen sie dir wissenschaftliche Experimente, die du zu Hause nachmachen kannst, Museumsbesuche, patriotische oder pädagogische Videos. Und sie beschränken die Nutzung auf 40 Minuten pro Tag… Sie wissen, dass diese Technologie die Entwicklung von Jugendlichen beeinflusst. Für ihren heimischen Markt verkaufen sie eine verarmte Form, während sie Opium in den Rest der Welt exportieren.“

Die Auswirkungen sind bereits nachgewiesen.

„Im Dezember 2022 zeigt eine IFOP-Studie, dass die täglichen Nutzer von TikTok deutlich mehr als der Rest der Bevölkerung Falschmeldungen und Verschwörungstheorien anhängen.“

TikTok hat sich als durchschlagender Erfolg erwiesen.

„… in Sachen Suchtverhalten übertrifft TikTok seine amerikanische Konkurrenz bei weitem, was sich in einem beispiellosen und spektakulären Wachstum der weltweiten Nutzerzahlen widerspiegelt. Nur fünf Jahre nach ihrer Einführung verzeichnet die App weltweit insgesamt 1,7 Milliarden aktive Nutzer pro Monat, davon 100 Millionen in den USA, wo sie 2022 von 30 % der Erwachsenen und 67 % der Teenager genutzt wird.“

Es braucht nicht betont zu werden, dass die kommunistische Partei in bester stalinistischer Tradition den eigenen Bürgern natürlich das Recht auf freies Denken und die Äußerung der eigenen Meinung verwehrt.

„Das im selben Jahr /2013/ veröffentlichte Dokument 972 der KPCh nennt „sieben Tabuthemen“, die als disruptiv gelten, weshalb Internetnutzer nicht darüber sprechen dürfen: universelle Werte, Meinungsfreiheit, Zivilgesellschaft, Bürgerrechte, historische Fehler der KPCh, Gefälligkeitskapitalismus und die Unabhängigkeit der Justiz.“

Vorerst geht die russische Diktatur aber noch weiter als die chinesische, denn das Putin-Regime ist darauf bedacht, die Fakten selbst als willkürlich darzustellen, so als wären sie schon immer die willkürliche Erfindung bestimmter Meinungsmacher gewesen. Das Konzept einer überprüfbaren – und in diesem Sinne objektiven – Wahrheit wird von Russland systematisch untergraben..„Die Desinformationskampagnen des russischen Auslandsgeheimdienstes greifen systematisch die Hüter der faktischen Autorität an, seien es Journalisten oder Wissenschaftler, mit dem Ziel, die Grenze zwischen Tatsache und Lüge zu verwischen… ‚Objektivität‘, so Dmitri Kisselev 2013, ‚ist ein Mythos, der uns angeboten und aufgezwungen wird‘. Die Infragestellung der Idee einer ‚objektiven Wahrheit‘ ermöglicht es Russland, durch die massive Verbreitung… alternativer Wahrheiten das Vertrauen der westlichen öffentlichen Meinung in alle Informationsquellen… zu untergraben… 2015 fasste einer der besten Experten für russische Desinformation, Ben Nimmo, die Strategie des Kreml mit der Formel der „4 Ds“ zusammen: dismiss the critic, distort the facts, distract from the main issue, and dismay the audience… Das Aufkommen der sozialen Medien hat es dem Kreml ermöglicht, die Aufhebung jeglicher Unterscheidung zwischen wahr und falsch zu beschleunigen, indem er die Meinungsfreiheit, den öffentlichen Raum und digitale Plattformen hackt und dabei die Möglichkeit zerstört, das Internet als demokratischen Raum und zuverlässige Informationsquelle zu begreifen. Heute, rief der russische Nationalist Wladimir Schirinowski triumphierend aus, gelingt uns, was wir seit fünfhundert Jahren erfolglos versucht haben! Wir verändern den Westen.“