(4) An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!

Der Zusammenhang zwischen rechtem Denken und richtigem Handeln wird nicht nur durch diesen Spruch aus dem Evangelium des Matthäus betont. Denn es liegt ja nahe, dass jede Religion, ja jede Weltanschauung überhaupt, diese Verbindung als selbstverständlich betrachtet. Wären unser Denken und unsere Überzeugungen ohne allen Einfluss auf unser Handeln, würden wir sie zu Recht als überflüssig betrachten. Ein Gutteil der Skepsis, die der moderne Mensch dem kritischen Denken (und der Philosophie im Allgemeinen) entgegenbringt, beruht auf der argwöhnischen Frage: wozu sind sie gut? Sind sie geeignet, unser Verhalten zur Wirklichkeit und damit auch diese selbst zu verändern?

Gemessen an dieser Frage, waren Religion und Wissenschaft

einerseits sehr erfolgreich, andererseits sind sie kläglich gescheitert. Religionen sind in erster Linie Handlungsanweisungen; sie schreiben den Menschen Gesetze für richtiges Handeln vor.*1* Dieses leiten sie nicht aus der Willkür einzelner Menschen ab sondern aus dem Willen von übermenschlichen Wesen – Göttern und Geistern – oder einer übermenschlichen Ordnung. Im Idealfall, d.h. wenn ihre Gesetze buchstabengetreu befolgt worden wären, würden innerhalb einer religiösen Gemeinschaft vollkommener Frieden und unverbrüchliche Solidarität bis hin zur gegenseitigen Aufopferung herrschen. Für das Christentum gilt das im besonderen Maße. Im Gegensatz zu allen früheren Religionen hat das Neue Testament dieses Ideal über alle Stammesgrenzen und Nationalitäten hinaus erweitert, um die ganze Menschheit in eine gegenseitige Liebe und Solidarität einzubeziehen.

Da es Religionen vor allem um die Regelung

des zwischenmenschlichen Verhaltens geht, akzeptieren sie die Natur so wie sie von Gott geschaffen wurde. An ihr etwas zu ändern, kann schon deswegen nicht ihr Anliegen sein, weil sich darin eine Kritik an der göttlichen Schöpfung bekunden würde. Zwischen ihren Aussagen über die Natur und ihren Richtlinien für das menschliche Leben besteht daher ein deutlicher Unterschied. Während die Handlungsanweisungen an die Gläubigen den Kern aller Religionen bilden und das tägliche Verhalten mehr oder weniger stark bestimmen, sind ihre meist fantastischen Aussagen über die Entstehung der Welt oder die Erklärung natürlicher Phänomene nur insofern von Belang als die Akzeptanz dieser Sätze als äußerer Glaubensbeweis und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen dient. Ob jemand an die Erschaffung der Welt vor 6000 Jahren, an jungfräuliche Geburten, an die Verwandlung von Wasser in Wein glaubt oder nicht, ist für sein praktisches Verhalten gegenüber anderen Menschen ohne Belang.

Ganz anders Technik und Wissenschaft

Im Gegensatz zur Religion stellen sie keine Handlungsanweisungen gegenüber anderen Menschen auf sondern gegenüber der Natur. Da sie sich nur mit dem was ist befassen, d.h. mit dem Sein, wurden sie von Anfang an in diese Richtung gedrängt. Denn menschliches Sollen kann aus dem Sein nicht abgeleitet werden. Keine noch so umfassende Analyse menschlicher Gesellschaften kann uns beweisen, dass wir besser daran tun, unseren Nachbarn zu lieben als ihn zu hassen. Statistiken, die das Sein abbilden, können uns zwar belehren, dass Menschen in Friedenszeiten glücklicher sind, wenn sie die erste Alternative befolgen, aber in Kriegszeiten und auch im alltäglichen Wettbewerb, wie er etwa die Wirtschaft selbst in Friedenszeiten beherrscht, wäre uneingeschränkte Liebe ein Weg zum Misserfolg. Schon gar nichts sagen Statistiken darüber aus, welches Verhalten für den einzelnen in einer bestimmten Situation das richtige ist. Gegenüber menschlichem Sollen bleibt die Wissenschaft zwangsläufig stumm.

Diese Feststellung erlaubt uns,

eine vorläufige – zugegeben noch recht oberflächliche – Antwort auf die Frage nach den Früchten von Religion und Wissenschaft zu geben. Religionen haben eine äußerst wichtige Funktion dadurch erfüllt, dass sie dem Handeln des Menschen Grenzen setzten – es einem Sollen unterwarfen. Ohne diese Grenzen hätte niemand davor zurückschrecken müssen, seinen Nachbarn zu ermorden, ihn zu berauben, seine Frau zu missbrauchen. Ich behaupte nicht, dass nur die Religion solche Grenzen zu setzen vermag, sondern nur, dass vor allem sie es war, die diese Aufgabe in der Vergangenheit erfüllte. In historischer Sicht war dies der Kern ihrer Mission, während alles, was sie darüber hinaus an Erklärungen über die Welt aufstellte, als Zutat erscheint, die aus heutiger Sicht nicht nur überwiegend falsch und daher wertlos ist sondern den Menschen aktiv daran hinderte, die ihn umgebende Natur eingehender zu erforschen. Religion war im besten Fall ein wichtiges Instrument, um das Verhalten von Menschen gegenüber anderen Menschen zu ordnen, aber nie war sie ein geeignetes Mittel, um zu einem tieferen Verständnis der Natur zu gelangen. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Evangelikalen von Nordamerika verwerfen die Deszendenzlehre von Charles Darwin.

Mit der Wissenschaft verhält es sich genau umgekehrt

Sie hat sich als ein hervorragendes Instrument erwiesen, um die Natur zu erkunden. Hier hat sie bis heute ihre größten Triumphe erfochten, doch versagt sie kläglich, wenn es darum geht, Regeln für das Verhalten von Mensch und Gesellschaft aufzustellen. Das Sollen liegt außerhalb ihrer Kompetenz.

Diese vorläufige Betrachtung zusammenfassend dürfen wir sagen, dass Religionen während ihrer ganzen Geschichte für den Aberglauben verantwortlich waren – ein falsches Verständnis der außermenschlichen Wirklichkeit -, während die Wissenschaften zwar ein beweisbar richtiges – und in diesem Sinne objektives – Verstehen der außermenschlichen Welt herstellten, aber den Menschen völlig im Stich lassen mussten, wenn es um seine ureigene Sphäre geht.

Ich halte diese Betrachtungsweise für vorläufig

und in gewissem Grade auch für oberflächlich, weil sie sehr viel näher am Ideal als an der komplexen historischen Wirklichkeit ist. Wir brauchen das Ideal selbst nur in reiner Form zu betrachten, um diesen Abstand zu ermessen. Wie schon gesagt, sähe die Welt anders aus, hätten die Gläubigen die Lehren der Religion ernst genommen. Innerhalb ihrer Gemeinschaften wären weder Neid, Hass, Zorn noch Anmaßung und alle jene menschlichen Eigenschaften aufgekommen, welche den inneren Frieden gefährden. Da das Christentum die Feindesliebe verlangt, wäre selbst der Krieg mit anderen Völkern für alle Zeit unmöglich gewesen.

Doch die Bändigung des Bösen wurde, wie wir wissen, von keiner Religion in keinem Volk jemals erreicht. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass es sich um ein grundsätzliches Scheitern handelt. Es muss tiefgreifende Widerstände in der menschlichen Natur selber geben, die sich jeder endgültigen Normierung erfolgreich widersetzen – durch welche Anweisungen auch immer. Gewiss, ohne solche Handlungsanweisungen wäre die Gesellschaft im Chaos versunken, weil jeder so handelt wie es ihm ohne Rücksicht auf die anderen gefällt. Aber diese tiefgreifenden Widerstände haben es dennoch verhindert, dass Religionen jemals ihr selbstgestecktes Ziel erreichten. Sie haben Gesellschaften und Individuen befriedet, aber den idealen Menschen, die ideale Gesellschaft haben sie bis zum heutigen Tag niemals hervorgebracht.

Und was haben die Wissenschaften erreicht?

Sie haben uns gelehrt, wie wir die Ordnungen der Natur – ihre Gesetze – erkennen, ohne dass wir uns dabei von unserem Wünschen und Wollen beirren lassen. Das ist ein gewaltiger Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit. Wissenschaft und Technik haben einerseits die Voraussetzungen für einen historisch einmalig hohen Lebensstandard geschaffen: Elektrizität und fließendes Wasser in jedem Haus, Mobilität zu Wasser, auf den Straßen und in der Luft. Andererseits schenkten sie uns auch die Hilfsmittel, um die menschliche Fruchtbarkeit zu begrenzen, denn Menschen tendieren wie jede andere biologische Art dazu, sich über die Tragfähigkeit der Umwelt hinaus zu vermehren. Anders gesagt, hat uns das wissenschaftliche Denken vollkommen darüber aufgeklärt, was wir tun müssten, um unser materielles Leben zu einem Aufenthalt wie in Eldorado zu machen. Theoretisch ist dieses Wissen um die materiellen Grundlagen unserer Existenz so vollkommen wie das Wissen der Religion über das vollkommene Verhältnis zwischen den Menschen. Doch in beiden Fällen sind Theorie und Praxis durch einen Abgrund voneinander getrennt. Ökologen wie William Rees, neben Mathis Wackernagel der Erfinder des ökologischen Fußabdrucks, haben bewiesen, dass maximal zwei Milliarden Menschen den westlichen Lebensstandard mit erneuerbaren Energien auf Dauer genießen können.

Spätestens seit Beginn des neuen Jahrhunderts

sind wir uns bewusst, dass wir im Begriff sind, die Erde für künftige Generationen nicht in ein Paradies sondern in eine Hölle zu verwandeln, da wir sie mit bald zehn Milliarden Menschen rücksichtslos ausbeuten und vergiften. Unsere anfängliche Frage nach den Früchten, an dem wir unser Verständnis der Welt zu messen haben, erhält dadurch auf einmal eine Antwort, die weit hinausgeht über unser anfängliches noch vorläufiges Fazit.

Gewiss, Religionen sind immer wieder ein Instrument der Verfolgung gegenüber Ungläubigen mit anderen Handlungsanweisungen gewesen. Ihr Verständnis der außermenschlichen Wirklichkeit war in der Regel grotesk und hat den richtigen Umgang mit der Natur verhindert, andererseits wäre es ihnen nie möglich gewesen, das Überleben des Menschen auf dem Planeten zu gefährden oder überhaupt in Frage zu stellen. Genau dies aber hat die wissenschaftliche Erkenntnis dem Menschen zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht nur ermöglicht sondern in Aussicht gestellt. Der größte Durchbruch dieser Erkenntnis, die Formel E=M x c2, also die Umwandlung von Masse in Energie, ist symbolischer Ausdruck für eine existenzielle Gefahr, die bis dahin nicht existierte, will sagen, vor diesem Biss in den Apfel der Erkenntnis. Die Vernichtung der eigenen Lebensgrundlagen und des Menschen durch den Menschen ist zum ersten Mal zu einer realen Möglichkeit geworden. 

So gesehen, erscheinen die Vorwürfe gegen die Religion,

geradezu harmlos, wie sie ein Richard Dawkins in seinem Bestseller Der Gotteswahn auf fünfhundert Seiten mit bissigem Witz ausbreitet. Wie gesagt, haben Religionen zwischen den Völkern viel Verfolgung und Unfrieden gestiftet, aber niemals das Überleben der menschlichen Art gefährdet. Aber Wissenschaft und Technik haben uns zum ersten Mal in der Geschichte die Mittel zur Verfügung gestellt, um genau dies zu bewirken, nämlich Unseresgleichen en masse zu ermorden und unsere Heimat, den Planeten, für Menschen auf Jahrtausende unbewohnbar zu machen. Ein Buch mit dem Titel Der Wissenschaftswahn wurde noch nicht geschrieben, aber es könnte auf weit mehr als fünfhun­dert Seiten all die bedrohlichen Wirkungen aufzählen, welche erst durch die Wissenschaft in die Welt gekommen sind. Wenn wir Theorien an ihren Früchten erkennen sollen, dann fällt der Vergleich jedenfalls nicht zu Gunsten des wissenschaftlichen Weltbildes aus, wie es seit drei Jahrhunderten erst Europa und inzwischen die ganze Welt beherrscht.

1 Eine Ausnahme von dieser Regel bildet nur die Mystik, die wie die Wissenschaft eine Erkenntnislehre sein will. Die Mystik ist gleich weit von der Religion wie von der Wissenschaft entfernt und doch beiden gleich nah. Siehe Jenner Der Dawkinswahn und die Antwort der Mystik.

Von Prof. Dr. Ernest Gnan erhalte ich folgende Meldung:

Sehr geehrter Herr Dr Jenner,

absolut interessanter Artikel. Sehe das Thema Überbevölkerung wie von Ihnen zitiert. Doch es sind auch die Religionen, die die Überbevölkerung und die rücksichtslose Ausnutzung der Erde ermutigen (wachset und mehret euch und macht euch die Erde untertan, Kirche und Empfängnisverhütung, Kirche und Abtreibung, Kirche und Sterbehilfe, Kirche und Migration, Islam und Frauenrolle/bildung etc.)

Mit freundlichen GrüßenErnest Gnan
Prof Dr Ernest Gnan Secretary General, SUERF – The European Money and Finance Forum