Gutmenschen und Weltvereinfacher – ein Karussell der Narren und Idealisten

Seit Bestehen des modernen Kapitalismus, also seit etwas mehr als zweihundert Jahren steht immer dasselbe Problem im Vordergrund. Wie verhindern oder mildern wir seine grellen Ungerechtigkeiten? Saint-Simon, Fourier, Proudhon und schließlich Marx, sie alle haben versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. An der Wurzel unseres Wirtschaftssystems liegt die persönliche Gier, der entfesselte Eigennutz – so jedenfalls kann man es negativ formulieren, denn in positiver Bewertung könnte es ebenso heißen, dass es in dieser Wirtschaftsform jedem einzelnen ausdrücklich erlaubt sei, sein ganzes Wissen und Können und seine volle Durchsetzungskraft für neue Ideen, Verfahren, Produkte einzusetzen. Dadurch würde er nicht nur sich selbst, sondern letztlich auch der Gesellschaft maximalen Vorteil verschaffen. Moderne Gesellschaft definieren sich geradezu durch die Sucht nach dem Neuen und nach dem Wandel. Dagegen haben traditionelle Gesellschaften das Neue aufs Strengste verpönt. Sie definierten sich nicht nach vorn durch die Zukunft, sondern durch eine Vergangenheit, die sie in der Regel als goldenes Zeitalter verklärten.

In der Eigentumsgesellschaft (dem sogenannten Kapitalismus) ist das Bestreben des einzelnen, sich mehr und mehr anzueignen – auch auf Kosten der anderen – geradezu systemimmanent. Das Individuum wurde von allen Hemmnissen befreit: Im Guten wie im Bösen wird es entfesselt. Keine Zeit war je so erfindungsreich, keine hat eine vergleichbare Entfaltung aller im Menschen angelegten Möglichkeiten gesehen, aber keine hat auch dem Eigennutz so viel Freiraum gelassen, und damit so viel Ungleichheit und so starke Widerstände erzeugt. Die Antwort auf die Missstände des Kapitalismus schien deshalb immer schon nahe zu liegen – man musste die entfesselte Gier bekämpfen. Das aber geschah am wirksamsten, indem man sie an ihrer Wurzel bekämpfte, nämlich dem Privateigentum. Genau darauf lief auch die Antwort von Marx hinaus.

Das war und ist eine einfache Lösung für ein ganz klar definiertes Problem. Und sie wurde natürlich nicht erst von Marx gefunden. In der Vergangenheit hat es zahllose Gesellschaften gegeben, die genau diese Lösung praktizierten. Auf Bali wurden Grund und Boden in regelmäßigen Abständen von einem Ältestenrat unter den Dorfbewohnern je nach Familiengröße neu zugeteilt. Der landwirtschaftlich genutzte Boden war daher kein Privateigentum, sondern immer nur vorläufiger Besitz. Wenn meine persönlichen Eindrücke mich nicht täuschen, die ich dort vor Jahrzehnten gewann, dann war das war einmal eine wunderbare Gesellschaft, vielleicht eine der glücklichsten überhaupt. Es kam dort nicht auf das Haben an – diese Forderung von Erich Fromm wurde auf ganz unprätentiöse und unideologische Weise erfüllt. Gier hatte offenbar keinen Platz in dieser Gesellschaft. Es gab ja auch keine Möglichkeit, das private Eigentum über die nächste Ernte hinaus zu vermehren, schon gar nicht auf Kosten anderer. Aber natürlich konnte mir auch die Kehrseite dieses Wirtschaftssystems nicht entgehen. Ein Fortschritt in unserem Sinn existierte dort nicht. Das Neue, den ständigen Aufbruch und das fortwährende Experiment durfte es einfach nicht geben. Wer das Neue wollte, verletzte die Traditionen und wurde als ein gefährlicher Außenseiter betrachtet (geächtet).

Marx hat nicht nach Bali geschaut. Auch die frühen Gesellschaften des Schenkens und Teilens, aus denen der Eigennutz genauso verbannt blieb (siehe mein Buch Wohlstand und Armut), scheinen ihm nicht bekannt gewesen zu sein. Gesellschaften des Gemeineigentums erwähnt er nur mit Blick auf Russland und Indien. So sah er nicht, dass er sich in einen unaufhebbaren Widerspruch einließ. Einerseits lobte er im Kommunistischen Manifest die Bourgeoisie für die gewaltigen von ihr verursachten Neuerungen: „Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird…“ Andererseits übersah er die historisch zweifelsfrei erwiesene Tatsache, dass dieses Neuerungsbedürfnis, ja diese Neuerungssucht, eben aus der Befreiung des Einzelnen von allen ihn bis dahin streng in die Gemeinschaft kettenden Banden hervorgeht. Anders gesagt, muss Bali verschwinden, damit es zu dem von Marx gepriesenen Übergang zu einer zivilisierten Nation kommen kann!

Marx hat nicht verstanden, dass die Entfesselung des Neuen und damit auch die der persönlichen Gier ein und dieselbe Wurzel haben: Sie beruhen auf der Möglichkeit, privates Eigentum durch eigene Intelligenz und Kraft zu vermehren.

Die Schlussfolgerung ist daher wohl unausweichlich: Wer das Privateigentum aufhebt, entzieht zwar der Gier den Boden, aber zur gleichen Zeit zerschneidet er auch den Lebensnerv des darauf begründeten Wirtschaftssystems. Denn dieses ist ja viel älter als der moderne Begriff des Kapitalismus. Der erste große Ökonom, Hesiod, lebte vor etwa 2600 Jahren. Das Wesen der Eigentumsgesellschaft hat dieser Dichter-Philosoph mit aller Klarheit erkannt: „Den Nachbarn stachelt der Nachbar, wenn er nach Wohlstand strebt. Der Streit ist gut für die Menschen“ (Hesiod, Werke und Tage. Vers 25 nach der Übersetzung von Walter Marg).

Marx allzu einfache Therapie bestand in der Ent-Eignung (an den Mitteln der Produktion). Und bei dieser Medizin ist es im Wesentlichen bis heute geblieben. Enteignungen wurde immer erneut praktiziert, ob man an die römischen Proskriptionen denkt, wo die Reichen auf den Todeslisten erschienen, an die französische Revolution, wo man sie an Laternen hängte, oder die russische, wo eine ganze Kaste von Grundbesitzern liquidiert worden ist, oder schließlich an Mao, der die Gleichheit der materiellen Bedingungen mit einer Brutalität erzwang, welche die physische Vernichtung von Millionen Menschen zur Folge hatte – stets wurde das Heil darin gesehen, die Ungleichheit, welche das Privateigentum und die Gier erzeugten, mit roher Gewalt wieder aufzuheben.

Doch all diese Bemühungen sind letztlich fruchtlos geblieben. Kein Beispiel zeigt das so deutlich wie China nach dem Abgang von Mao. Kaum hatte Deng Xiao Ping seinem Volk gnädig die Erlaubnis erteilt, die Maokittel und die Gleichheit abzulegen und in Gottes Namen auch reich zu werden (also der privaten Gier ohne Gewissensbisse zu frönen), da verwandelte sich eine Agrarnation in einem Tempo in eine industrielle Supermacht, wie es historisch einmalig ist. Der Aufruf zum Eigennutz brachte den Massen, zumindest aber einem Teil der Bevölkerung, beachtlichen Wohlstand. Eine wachsende Schar der Tüchtigsten und der Skrupellosesten machte er über Nacht zu Millionären und nicht wenige von ihnen sind sogar zu Milliardären geworden. Aus einem Volk der Gleichen wurde innerhalb von zwanzig Jahren ein Volk mit rasant zunehmender Ungleichheit.

Wollen die Leute deshalb zu Marx und dem Regime der blauen Kittel zurück? Natürlich nicht, aber immer mehr Menschen – und nicht zuletzt die Regierenden selbst – fürchten sich vor dem Zerfall der Gesellschaft und dem zu erwartenden sozialen Aufruhr.

Marx hatte gezeigt, welche Verbrechen durch die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten geschahen. Das war sozial sanktionierte Gier. Er wollte die Gier ausrotten, indem er das Privateigentum an den Mitteln der Produktion aufhob. Hier lag sein Fehler. Denn es kommt darauf an, den Eigennutz zu bändigen, nicht ihn auszurotten. Denn Eigennutz – oder positiv gesprochen, die Möglichkeit für jeden einzelnen, nach neuen Wegen für die Mehrung des eigenen Wohlstands zu suchen – bildet das eigentliche Geheimnis der Eigentumsgesellschaft, die Quelle ihrer historisch einzigartigen Kraft. Nur lässt die Eigentumsgesellschaft damit einen Geist aus der Flasche, der sie anfänglich zwar im Sturmschritt vorantreibt, sie aber im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker gefährdet. In dem Maße, wie die Ungleichheit immer drückender wird, schlittert sie in den sozialen Verfall und die Selbstzerstörung. Dieselbe Gier, der sie anfänglich ihre großen Erfolge verdankt, bringt sie schließlich auch um.

Gibt es dagegen nur die radikale Medizin der Enteignung? Gewiss nicht. Es macht keinen Sinn, die Bereitschaft zur persönlichen Entfaltung durch das Neue zu unterdrücken – eine Welt von neun Milliarden Menschen kann sich den Stillstand nicht leisten, das ist das Hauptthema meines Buches Wohlstand und Armut. Hätte Deng Xiao Ping auf Marx gehört, würden die Chinesen noch heute in bitterster Armut in blauen Kitteln dahinvegetieren – und ihre Massengesellschaft besaß nun wirklich nichts von dem Glück eines erfüllten Stillstands, das es einer reinen Agrargesellschaft wie Bali und in vielen anderen frühen Stammesgemeinschaften zweifellos gab.

Die historische Erfahrung bezeugt, dass die Eigentumsgesellschaft durch Enteignungen nicht zu reformieren ist. Enteignung bedeutet Gewalt, und mit Gewalt bringt man sie um. Zu reformieren ist sie allein durch eine aus der Krise erwachsende Bereitschaft aller, die Lasten so gerecht zu verteilen, dass die Benachteiligten dadurch entscheidend gewinnen und die Privilegierten auf einen Teil ihrer Privilegien verzichten. Das ist viel weniger spektakulär als die revolutionäre Therapie von Karl Marx oder die Geldreform jener obskuren Sekte von Gesellianern, über die ich in meiner nächsten Aussendung reden werde. Es ist eine Politik der Mitte und des Augenmaßes, eine Politik des gezügelten Eigennutzes, der gebändigten Neuerung, also der bewussten sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit, wie sie in Wohlstand und Armut (Metropolis 2010) beschrieben wird.