Warum eigentlich Demokratie? (Anlässlich des Todes von Bunga Bunga Berlusconi)

Inhalt:

Berechtigte Empörung, doch die Frage nach dem Warum bleibt ausgeklammert

Unternehmen: die undemokratische Kern- und Keimzelle westlicher Demokratien

China, wenn der Staat wie ein Unternehmen handelt

Was unterscheidet Staaten von Unternehmen? Dürfen Experten herrschen?

Musk & Co., wenn Unternehmen wie Staaten handeln

Der Staat – ein moralischer Zweck mit technischen Mitteln

Berechtigte Empörung, doch die Frage nach dem Warum bleibt ausgeklammert

Der Economist brachte es auf drastische Art auf den Punkt: „Der Mann, der ein ganzes Land fickte“ (The man who screwed an entire country). Armin Thurnher, der österreichische Sprachvirtuose und Mitbegründer der Wochenzeitschrift „Der Falter“, sagt es auf seine Weise. „In der Person Silvio Berlusconis zeigte sich vieles von dem, was unsere postdemoraktischen Gesellschaften der Demokratie aus den Armen treibt. Sein schönheitsoperiertes Gesicht wurde zum Emblem einer Massenvertrottelung, die allem anheimfällt, was man Gesellschaften im Spätstadium nachsagt: Sport und Spiele, Verlotterung der Sitten, Filz von organisiertem Verbrechen, Mafia und offizieller Macht… All das meint das Schlagwort ‚Berlusconisierung‘, das darauf hinweist, dass Mächtige mit Medienbündnissen die Demokratie zugunsten ihrer privaten Interessen aushöhlen… De mortuis nil nisi bene? De mortuis nil nisi veritatem.“

Dass ein Mann mit einem Staatsbegräbnis geehrt worden ist, der nachweisbar Beziehungen zur Mafia unterhielt, sagt viel über den Zustand des Staates aus, aber keineswegs nur über dessen Eliten. Die Massen sind es, die dem Schein- oder vielmehr Antidemokraten dreimal zur Macht verhalfen, und sie bewundern ihn heute noch. Aufgeklärte, intelligente Leser des Economist, des Falters und anderer liberaler Medien schütteln ungläubig oder voller Empörung den Kopf. Die entscheidende Frage stellen sie leider nur selten. Warum ist Demokratie so leicht aus den Angeln zu heben, und zwar in den Vereinigten Staaten ebenso wie in Italien? Jeder halbwegs intelligente Mensch konnte auf Anhieb erkennen, wie weit an Wissen und Intelligenz ein Mann wie Donald Trump hinter seinem Vorgänger Barack Obama zurücksteht und wie weit ihn Joe Biden an moralischer Integrität überragt! Dennoch ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass die älteste Demokratie der Welt an der Wiederwahl des notorischen Lügners, Menschenverächters und Bildungstrottels Trump scheitern wird. Warum?

Warum eigentlich Demokratie? Diese Frage haben sich nicht nur – heimlich oder in aggressiver Offenheit – Diktatoren wie Mussolini oder Hitler in der Vergangenheit gestellt. Sie geht bis heute ihren kleineren oder größeren Nachfolgern durch den Kopf, Leuten wie Orban, Le Pen, dem Russen Putin, dem Amerikaner Trump und dem Chinesen Xi.

Für die liberalen Denker des Economist oder Armin Thurnher, den Redakteur des Falters, gibt es natürlich einen recht handfesten Grund, warum sie mit einer Diktatur niemals liebäugeln würden. Sie wissen, dass Putin sie nach Sibirien entsorgen und Trump sie jedenfalls mundtot machen würde. Auch mich selbst und viele andere, die das unabhängig-kritische Denken nicht lassen können, würde selbst persönliche Irrelevanz kaum vor einem solchen Schicksal bewahren. Dennoch berechtigt uns die Furcht vor persönlichen Konsequenzen nicht, die entscheidende Frage zu umgehen: Warum eigentlich Demokratie?

Unternehmen: die undemokratische Kernzelle westlicher Demokratien

Bitte sehr, die Frage müssen wir uns unbedingt stellen, denn auch in demokratischen Staaten existiert eine Institution, die von Demokratie nichts wissen will. Bekanntlich wurde der moderne Industriebetrieb in den wirtschaftlich erfolgreichsten Staaten nur ausnahmsweise demokratisch organisiert (zeitweise war das im früheren Jugoslawien und während der ersten Nachkriegsjahrzehnte in Japan der Fall). Ich gehe davon aus, dass die Redakteure des Economist gewiss die Letzten wären, darin ein Defizit zu erblicken, zumal sich durchaus begründen lässt, dass diese Kerninstitution der westlichen und inzwischen der ganzen übrigen Welt ihren außerordentlichen Erfolg gerade der Tatsache verdankt, dass sie eben nicht demokratisch verfasst ist. Die Stimmen der in einem Unternehmen tätigen Menschen haben keinesfalls das gleiche Gewicht, wenn es um die Festlegung der Betriebsziele und deren konkrete Umsetzung geht. Was bei effizienzgeleiteten Institutionen zählt, ist das Fachwissen und die Fähigkeit, dieses zur Erreichung eines geplanten Ziels mit rationaler Konsequenz durchzusetzen. Der industrielle Betrieb als ökonomische Energiezelle aller modernen Staaten ist eine bewusst antidemokratische, hierarchisch bestimmte Organisation, die allein durch ihre Omnipräsenz ein Gegenmodell zur politischen Demokratie darstellt. Dagegen protestiert so gut wie niemand, weil die antidemokratische Verfasstheit dieser Kerninstitution offenbar sinnvoll, ja, geradezu notwendig ist. Die Stimme eines fachfremden Laien darf in einem rational geführten Betrieb nicht dasselbe Gewicht besitzen wie die eines geschulten Experten.

Aus dieser Forderung ergibt sich zwangsläufig, dass der klassische Familienbetrieb im besten Fall eine umsichtig zum Wohle der Mitarbeiter geführte Autokratie ist, im schlechtesten Fall eine menschenverschleißende Diktatur. Die moderne Aktiengesellschaft bildet da keine Ausnahme. Sie steht zwar unter der Kontrolle der Geldgeber, doch das macht die Sache kaum besser, da sie in aller Regel auch überwiegend deren Wohl dienen soll. Die Folgen dieser undemokratischen Betriebsverfassung reichen bekanntlich noch weiter. Wer sich den Vorgaben der Betriebsleitung widersetzt, wird zwar nicht nach Sibirien verbannt, in ein Gefängnis gesperrt oder schlicht umgebracht, wie das in Diktaturen üblich ist. Der Betrieb hat es einfacher: Dissidenten oder Unfähige werden einfach gefeuert. Das Prinzip bleibt aber offenkundig dasselbe. Ebenso wie in einer politischen Diktatur wird der Dissident aus der Reihe der anerkannten Mitglieder verbannt.

Warum eigentlich politische Demokratie, wenn die Kernzelle selbst demokratischer Staaten antidemokratisch ist und dieser Tatsache ihre außerordentliche Effizienz verdankt? Auch in demokratischen westlichen Staaten stehen zwei zentrale Institutionen – die politische Ordnung und die Unternehmen der Wirtschaft – in schroffer Opposition zueinander und versuchen ihr jeweiliges Ordnungsprinzip auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen. Den Gewerkschaften gelang es immerhin, eine demokratische Mitsprache in einem engen Bereich, nämlich bei den Arbeitsbedingungen und der Lohngestaltung zu erreichen, dennoch liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das demokratische Prinzip auf die Wirtschaft übergreift, gerade in unserer Zeit, wo Fachwissen mit jedem Tag stärker gefragt ist, nahezu bei Null, während der umgekehrte Prozess, also das Übergreifen der hierarchischen undemokratischen Unternehmensstruktur auf die politische Ordnung, immer eine reale Möglichkeit und Gefahr darstellt. Das ist mehr als nur eine theoretische Schlussfolgerung – diese Tendenz wird durch die Geschichte immer erneut bewiesen. Ja, die Geschichte belehrt uns sogar, dass eine politische Diktatur – unter bestimmten Bedingungen! – so erfolgreich funktionieren kann wie ein moderner Industriebetrieb.

China: wenn der Staat wie ein Unternehmen handelt

Jedenfalls scheint es kaum möglich, dem chinesischen Einparteiensystem und seiner Führung einen geradezu sensationellen historischen Erfolg abzusprechen. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde China von einem bitterarmen Agrarland in den Rang einer Supermacht katapultiert, die den bisherigen Alphastaat, die Vereinigten Staaten, von seinem Sockel zu stürzen droht. Das Geheimnis dieses Erfolgs ist so klar zu erkennen wie bei jedem gut geführten Unternehmen. Zunächst wird ein Ziel festgelegt; bei einem Unternehmen ist das maximaler Profit. Im Fall eines Staates wie China geht es darum, das Ziel so zu bestimmen, dass die Staatsführung mit einem maximalen Einverständnis bei der Bevölkerungsmehrheit rechnen kann. Zweitens, wird das Vorgehen zu seiner Verwirklichung in der kürzest möglichen Zeit unter den geringsten Kosten nach rationalen Kriterien bestimmt. Bei einem Unternehmen besteht das Vorgehen meist in der Einführung eines neuen Produktes, das bei der Bevölkerung (auf dem Markt) Anklang findet. In China bestand und besteht das Ziel in der Beseitigung von Armut bis zur Erreichung des westlichen Wohlstandsniveaus und darüber hinaus.

Die Übertragung des antidemokratischen Betriebsmodells auf die politische Wirklichkeit gelingt allerdings nur, wenn ein Staat sich ein einfaches Ziel setzen und dieses auch wie ein rational geführter Betrieb auf eine vergleichsweise einfache Art realisieren kann. Genau diese Voraussetzung traf auf China zu. Das Ziel, das seit Mao alles politische Handeln bestimmt, heißt „Entwicklung“, und die wird schlicht als Übernahme und im Weiteren als Übertrumpfen des westlichen Lebensstandards verstanden. Die Chinesen haben die Demütigung ihres Landes, das sich zweitausend Jahre lang als Mittelpunkt der Welt verstand (Zhong-Guo = Land der Mitte), bis heute nicht vergessen. Inzwischen ist China beinahe wieder zum Mittelpunkt der Welt aufgerückt, weil es auf dem besten Wege ist, den Westen wirtschaftlich – und in naher Zukunft wohl auch militärisch – zu überrunden. Der eigenen Bevölkerung gegenüber hat die kommunistische Führung aus diesem Ziel nie ein Hehl gemacht – und dafür so großen Zuspruch von einer Mehrheit gewonnen, dass sie, um es zu erreichen, allen Widerstand rücksichtslos zu zertrampeln vermochte. Viele Minderheiten im eigenen Land, vor allem Tibeter und Uiguren, wollten lieber an ihren überkommenen Traditionen festhalten als sich den Vorgaben der chinesischen Führung zu fügen. Gegen allen Widerstand, der die Einheit des Landes und damit das von oben verordnete Entwicklungsprogramm infrage stellte, ging und geht die Partei so gnadenlos vor wie jeder Betrieb, wenn Mitarbeiter die vorgegebenen Aufgaben nicht erfüllen. Das Versprechen der Führung lautet bis heute: „Wir machen euch alle mit jedem Tag etwas wohlhabender, aber wir können diese ehrgeizige Aufgabe nur bewältigen, wenn ihr unseren Anweisungen bis auf den Buchstaben folgt. Tut ihr das nicht, dann seid ihr Feinde unseres Aufstiegs, die wir vernichten.“

Bis heute hat die chinesische Führung beide Teile ihres Versprechens wahr gemacht: einen kometengleichen Aufstieg – so gut und so detailliert durchgeplant wie bei jedem erfolgreichen Konzern – und andererseits die gnadenlose Verfolgung aller Abweichler und Dissidenten, die diesem Plan im Wege stehen. Solange sie den ersten Teil ihres Versprechens weiterhin konsequent verwirklicht, steht eine Mehrheit auf ihrer Seite, und das Regime kann sich sicher fühlen.

Warum eigentlich Demokratie, wenn die Übertragung des undemokratischen Unternehmensmodells auf die politische Ebene in China so gut funktioniert (und von immer mehr Entwicklungsländern weltweit nachgeahmt wird)? Es ist davon auszugehen, dass sich auch im Westen viele Menschen diese Frage stellen – vor allem führende Wirtschaftsbosse. Von jenen, die in Russland oder China ihre Geschäfte tätigen, wird man das wohl von vornherein annehmen dürfen. Es besteht außerdem kein Zweifel, dass die Freiheit, die eigene Meinung zu jedem beliebigen Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, ein Intellektuellenluxus ist, der einem Großteil der Menschen, nämlich all jenen, die in Armut leben, wenig bis gar nichts bedeutet. Auf diese Freiheit verzichten sie gern, wenn ihnen ein Regime im Tausch dafür materiellen Aufstieg verspricht. Zwischen 1924 und 1928 war der Anteil der Wählerstimmen für die Nazis von 6,6 auf 2,6 Prozent geschrumpft – den Deutschen ging es allmählich wieder besser. Dann brach die große aus Amerika nach Europa übergeschwappte Depression von 1929 über Deutschland herein und machte mit einem Schlag die bescheidene wirtschaftliche Erholung der vier vorangegangenen Jahre wieder zunichte. Zwischen Mai 1928 und September 1930 schnellte die Zahl der Arbeitslosen gleichsam über Nacht von 270 000 auf ca. 1 Million in die Höhe. Bis 1933 verfünffachte sie sich noch von 1 auf 5,5 Millionen. Da ließ die Not die Menschen blindlings nach einem Retter schreien. Der Anteil der Nazis an den Wählerstimmen schnellte in diesen drei Jahren von 18,3 auf 43,9 Prozent. Die Freiheit, die ihnen die Demokratie versprach – und bis dahin auch weitgehend gewährte – spielte für Familienväter, die von Suppenküchen Schlange standen, keine Rolle. Sie waren bereit, jedem Populisten zu folgen, der ihnen das Heil versprach. Die Demokratie hatte verloren.

In den Vereinigten Staaten hat die Auslagerung der vergangenen dreißig Jahre einen großen Teil der einst in Würde lebenden Arbeiterschaft ins Prekariat abdriften lassen. Für diese Leute ist Donald Trump ein Messias, der ihnen wie Hitler, Mussolini und andere große Verführer das Heil verspricht. Der Gegensatz zwischen der superreichen Machtelite und den breiten Massen drückt sich aber nicht nur bei Einkommen und Vermögen aus sondern ebenso in der Bildung und den sich daraus ergebenden Chancen. Einige der amerikanischen Universitäten zählen nach wie vor zu den weltbesten, aber die breite Masse der Amerikaner liest pro Jahr weniger als ein einziges Buch.Donald Trump ist ein Repräsentant dieser Schicht. Ein Minimum an Bildung aber ist Voraussetzung, wenn Demokratie funktionieren soll.

Warum eigentlich Demokratie? Die Frage scheint im Falle Chinas schwer zu beantworten, denn solange die dortige Einparteiendiktatur ihre Versprechen hält, wird sie sich weiterhin auf eine Mehrheit stützen können – man wird es nicht einfach als Täuschung abtun können, in dieser Zustimmung eine demokratische Entscheidung zu sehen. Andererseits zögern wir im Fall von Mussolini, Hitler, Putin und Trump keinen Augenblick mit einer Antwort, weil wir die Folgen einerseits aus der Vergangenheit kennen, sie andererseits für die Zukunft erahnen. In einer Demokratie kann ein schlechter Staatsmann abgewählt werden, in einer Diktatur ist diese Ablöse nur nach katastrophal verlorenen oder nach Bürgerkriegen möglich. Gewiss, ein aufgeklärter Despot – in der Vergangenheit hat es nicht wenige gegeben – kann sich als ein Glücksfall erweisen, weil er Reformen schneller durchzusetzen vermag als demokratische Staaten. Aber auf einen solchen Glücksfall ist kein Verlass. In der Regel bedeutet Despotie nichts anderes, als dass ein ganzes Volk für den Wahnsinn eines einzelnen Mannes an seiner Spitze bezahlen muss. Dieser Unterschied allein fällt so schwer ins Gewicht, dass die Demokratie – um mit Winston Churchill zu reden – zwar die schlechteste aller Regierungsformen ist, aber immer noch die beste von allen, die bisher erprobt worden sind.

Was unterscheidet Staaten von Unternehmen? Dürfen die Experten herrschen?

Aber können wir den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht dadurch überwinden, dass wir dem Vorbild Chinas folgen, indem wir den Staat in die Hände der Wissenschaft geben und ihn so leiten wie das in westlichen Unternehmen ohnehin üblich ist, nämlich ausschließlich durch Fachleute mit Expertenwissen? Für einen Entwicklungsstaat, wie China es noch vor zwanzig Jahren war, lässt sich diese Frage bejahen. Es gibt für die dortigen Menschen kein höheres Ziel als die Beseitigung unerträglicher Armut. Mit welchen Mitteln und Strategien dieser Zustand am schnellsten zu beseitigen ist, genau dazu vermag das Wissen der Experten verlässliche Antworten zu liefern. Im Großen und Ganzen gelang das in China so gut wie in jedem Konzern, wo eine starke, durchsetzungsfähige Spitze der Belegschaft Direktiven erteilt, die diese dann konsequent und systematisch verwirklicht. Die jährlichen Parteitage der kommunistischen Führung in Peking ähneln bis heute den Sitzungen einer Unternehmensführung, welche die anstehenden Aufgaben definiert und an verschiedene Abteilungen zur Ausführung weiterleitet.

Aber ist es richtig, einen Staat mit einem Unternehmen gleichzusetzen? Ein wesentlicher Unterschied fällt sofort ins Auge. Ein Betrieb kann seine Beschäftigten jederzeit austauschen, weil sie nicht mehr als Funktionen im Dienste vordefinierter Aufgaben sind. Werden diese von ihnen nicht mehr oder nicht gut genug erfüllt, müssen sie gehen. Einen Rechtsanspruch auf Dazugehörigkeit gibt es nicht. Diese Reduktion des Menschen auf Träger von Funktionen macht das Wesen von wirtschaftlichen Unternehmen und allen anderen Organisationen wie Bürokratien aus, wo mit rationalen Mitteln vorgegebene Ziele verwirklicht werden. Für einen Staat gelten ganz andere Regeln. Er kann sich seine Bürger nicht aussuchen, geschweige denn sie durch andere ersetzen. Sie haben ein Rechtsanspruch auf Dazugehörigkeit.

Gewiss, auch Staaten setzen sich beständig Ziele, die nur mit rationalen Mitteln zu verwirklichen sind – insoweit ähneln sie Unternehmen und kommen gerade in unserer Zeit immer weniger ohne das Wissen von Experten aus. Wenn ein einziges klar definierbares Ziel staatliches Handeln bestimmt, zum Beispiel der Imperativ des ökonomischen Wachstums zur Überwindung von Armut, und dieses dann alle anderen in den Hintergrund drängt, dann ist auch ein Staat nichts anderes als ein Unternehmen. Zwar kann er seine Bürger nicht austauschen, aber er kann sie in Gefängnisse stecken oder sie sogar hinrichten lassen, wenn sie sich den staatlichen Vorgaben widersetzen. Das geschieht bis heute in China.

Aber ein so klar definiertes und eindimensionales Ziel wie die Überwindung quälender Armut kann allenfalls in Entwicklungsstaaten alle sonstigen Ziele verdrängen. In dem Augenblick, wo die elementaren Bedürfnisse des Menschen gestillt sind, treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund – und diese sind überwiegend nicht rational und daher auch nicht mit rationalen Mitteln zu realisieren. An dieser Stelle bricht der entscheidende Unterschied zwischen einem Unternehmen und einem Staat hervor. Im selben Augenblick, wo der Mensch mehr ist als eine Funktion, geraten völlig andere Gesichtspunkte ins Spiel: Er will geachtet werden, sich wohlfühlen, mitreden und mitentscheiden. Er will neue Horizonte des Wissens und Erlebens für sich und andere erschließen. Über die Verteilung von Wohlstand, von Rechten und Pflichten macht er sich Gedanken und will dabei mitbestimmen. Solche moralischen Weichenstellungen gehen allem Wissen voraus – sie sind allgemein-menschlich. Die Demokratie ist, wenn sie richtig funktioniert, eine Herrschaftsform, die ihren Bürgern diese Mitsprache gewährt. Experten haben das Sagen, wo immer bestimmte moralische Aufgaben anschließend mit rationalen Mitteln zu realisieren sind; über die moralischen Entscheidungen selbst haben sie nichts zu sagen. Und das ist bei fast allen die Öffentlichkeit bewegenden Fragen und Problemen der Fall. Ob zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe rechtlich der zwischen Mann und Frau gleichgestellt werden soll oder ob Gendern in der Sprache zulässig sei; welche Verteilung des Reichtums noch als zulässig gelten soll – diese und fast alle Fragen, die menschliches Glück oder Unglück betreffen, entziehen sich dem Zugriff der Ratio. Sie drücken moralische oder ästhetische Vorlieben oder umgekehrt Aversionen aus, die sich der rationalen Begründung entziehen. Entschieden wird darüber immer: In einer Diktatur durch Ukas von oben. In einer funktionierenden Demokratie entscheidet eine Mehrheit der Bürger auf eine als gerecht empfundene Weise.

Musk & Co., wenn Unternehmen wie Staaten handeln

Google, Facebook, Twitter, Amazon und Starlink sind in privater Hand, aber seit mehreren Jahrzehnten verfügen die sie leitenden Unternehmer über eine Machtfülle, die denen mittlerer Staaten gleicht. Elon Musk erfreut sich eines privaten Vermögens von über 200 Milliarden Dollar, demgegenüber beliefen sich 2021 die Steuereinnahmen des deutschen Staates auf 354 Milliarden $. Dieser Vergleich hinkt in mehrfacher Hinsicht, aber wie groß die tatsächliche Macht in den Händen eines Privatunternehmers wie Musk tatsächlich ist, beweist einerseits die Tatsache, dass er weltweit von Premiers und Staatspräsidenten wie ein gleichrangiges Staatsoberhaupt hofiert wird. Noch viel mehr aber wird uns das Ausmaß privater Macht bewusst, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Ukraine ihr Überleben als unabhängiger Staat eben diesem Manne verdankt. In den ersten Tagen des russischen Überfalls vom 24. Februar 2022 war das ukrainische Internet durch russische Angriffe auf die Infrastruktur praktisch lahmgelegt. Unter diesen Umständen wäre eine zentral gelenkte Verteidigung nicht möglich gewesen. Russland hätte seinen Plan, die Ukraine vollständig zu unterwerfen, mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb kurzer Zeit in die Tat umgesetzt. Daran wurde es durch Musk gehindert. Dieser stellte der Ukraine das von ihm geschaffene engmaschige Satellitennetz Starlink zur Verfügung. Die Kommunikationskanäle zwischen der Zentrale und der Front blieben, eine zentral gelenkte ukrainische Verteidigung war möglich.

Man muss sich allerdings fragen, was denn geschehen wäre, wenn die persönlichen Vorlieben dieses Mannes eher auf Seiten Russlands gelegen hätten? Inzwischen hat Musk bereits klar gemacht, dass er einer Verwendung seiner Satelliten nicht zustimmen könne, wenn die Ukraine die Internetverbindung dazu benutzt, besetzte Gebiete zurückzuerobern. Dass Elon Musk seine private Macht dazu missbraucht, auch im eigenen Land politisch massiven Einfluss und Druck auszuüben, ist ebenso wenig ein Geheimnis. Twitter wird Donald Trump wieder als Propagandaportal zur Verfügung stehen.

Dieser Mann macht sich selbst zum moralischen Maßstab und hebt dadurch die Demokratie aus den Angeln. Ein einzelner entscheidet aufgrund einer Überfülle von Macht über das Schicksal von Nationen. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen.

Der Staat – ein moralischer Zweck mit technischen Mittel

Alles staatliches Handeln wird letztlich von moralischen (plus ästhetischen) Zwecken geprägt, die sich der rationalen Expertise immer nur als – oft unverzichtbares – Mittel bedienen. Das ist selbst dann noch der Fall, wenn ein Staat wie China so systematisch rational verfährt wie ein großer Konzern. Denn der moralische Zweck, der diese gewaltige Wachstumsmaschinerie beherrscht, das absolut Gute sozusagen, dem es seinen Antrieb verdankt, ist, wie schon gesagt, die Beseitigung der Armut und der Aufstieg einer einst unverzeihlich gedemütigten Nation zu jener Größe und Macht, die sie zwei Jahrtausende lang besaß. Solange die Führung nicht nur sich selbst durch Korruption bereichert sondern auch der Bevölkerung in den abgelegenen Provinzen Jahr um Jahr größeren Wohlstand verschafft, dürfen wir China als eine dem Gemeinwohl verpflichtete technokratische Diktatur bezeichnen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass das Regime die großen Unternehmen – ihre Manager oder Eigentümer – sehr wohl an die Kandare nimmt. Ein Mann wie Elon Musk, der dem Staat sein eigenes Wollen aufzwingen, ihn zumindest massiv beeinflussen kann, hat dort bisher keine Chance. Jawohl, das fernöstliche Land begeht schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte, aber in diesem Punkt sollte der Westen von ihm lernen. Andererseits ist die in China geltende Definition des Gemeinwohls ziemlich eng gefasst, wenn man sie von unserem Standpunkt aus betrachtet. Zwar wird Wissen im Land der Mitte staatlich massiv gefördert, aber nur so weit es sich um „nützliches“ technisches Wissen handelt. Dieses wird im Gegenteil durchgehend unterdrückt, sobald es auf den Menschen gerichtet ist (Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Anthropologie) und dabei zu anderen Ergebnissen gelangt als die Partei.

Auch die heutigen Vereinigten Staaten sind eine Technokratie. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung gilt dort für den technischen ebenso wie für den humanen Bereich. Dieser Tatsache verdanken die USA ihre Führung auf beinahe allen Gebieten von Wissen und Forschung. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten wird Freiheit im humanen Bereich zunehmend eingeengt, nämlich durch „political correctness“ und „cancel culture“. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass eine Bevölkerungsmehrheit gegen diese Beschneidung der wissenschaftlichen Freiheit mehr protestieren wird als die Menschen in China.

Ein weiteres Merkmal des amerikanischen Verständnisses von Freiheit könnte dagegen sehr wohl die soziale Stabilität des Landes erschüttern. Die heutigen USA sind eine dem Privatwohl verpflichtete technokratische Formaldemokratie. Der welthistorische Krach vom Ende der Zwanziger Jahre, die Große Depression, die nicht allein Amerika sondern auch Europa ins Unheil stürzte, war eine unmittelbare Folge dieser Fehlorientierung. Erst Präsident Roosevelt überwand dieses Übel und bewirkte eine moralische Neuorientierung. Der New Deal rückte das Gemeinwohl erneut in den Mittelpunkt staatlichen Handelns und ermöglichte dadurch in Amerika wie in Europa die drei goldenen Nachkriegsdekaden. Doch mit dieser Neubesinnung war es seit den Achtziger Jahren – und endgültig in den Neunzigern – schon wieder vorbei. Neuerlich wurde Freiheit als schrankenlose Verfolgung des Privatwohls missverstanden, selbst wenn diese Art von Freiheit auf Kosten des Gemeinwohls geschieht. Dieser Rückfall hatte die Auslagerung der industriellen Produktion in Billiglohnländer zur Folge – ein Manna für die führenden Konzerne, ein Unheil für die einst sehr selbstbewusste US-amerikanische Arbeiterschaft. Der Aufstieg Trumps und die Schwächung der amerikanischen Demokratie ergaben sich als voraussehbare Folge dieser Abkehr vom Allgemeinwohl hin zu einer staatlich hofierten Plutokratie und einer historisch einzigartigen Ballung von Macht in privaten Händen.

Die Reaktion der Massen war durchaus vorhersehbar. Wenn die benachteiligten Schichten sich von den etablierten Parteien keine Verbesserung ihrer Situation versprechen, rufen sie nach einem „Führer“, der das System zerschlägt. Der ursprüngliche Sinn von Demokratie als Herrschaft des Volkes geht verloren, wenn diese dem Gemeinwohl – dem Wohl des Volkes – nicht länger dient.

Demokratie und Diktatur sind die beiden Extreme, zwischen denen sich die politische Realität wie auf einer Skala mit offenen Enden positioniert. Es gibt keine reine Demokratie und keine absolute Diktatur, sondern in jeder Demokratie sind diktatorische Tendenzen angelegt, andererseits ist jede Diktator auf eine loyale Gefolgschaft, also auf Mitsprache, angewiesen. Wir sahen, dass alle westlichen Demokratien auf einem breiten Sockel prinzipiell undemokratischer Betriebe aufruhen, deren Organisationsform beständig in den politischen Bereich überzuschwappen droht. Solange eine Mehrheit mit den bestehenden Verhältnissen (vor allem mit der Verteilung von Wohlstand und den Chancen des Aufstiegs) weitgehend zufrieden ist, wird die moralische Dimension staatlichen Handelns stillschweigend akzeptiert und vorausgesetzt. Die Aufgabe des Staates scheint dann allein technischer Art zu sein: Von ihm wird erwartet, diese Verhältnisse mit rationalen Mitteln möglichst wirksam zu stützen und zu fördern. Wenn eine Mehrheit hingegen die bestehenden Verhältnisse als belastend empfindet (keine Aufstiegschancen und eine als ungerecht empfundene Verteilung, akute Bedrohung des Lebensstandards durch neue Gefahren wie Klimawandel etc.), dann tritt die moralische Dimension sofort wieder grell in den Vordergrund: die Frage nach Gerechtigkeit, nach der Legitimation der staatlichen Führung etc. Im besten Fall tritt in solchen historischen Umbruchsituationen ein Mann wie Franklin D. Roosevelt in Erscheinung, der expressis verbis die Herrschaft des Monopols (die Plutokratie) in seinem Land kritisierte und die Institutionen wieder in Richtung des Gemeinwohls lenkte. Moralischer Impetus und die Fähigkeit, ihn mit rationalen Mitteln in die Tat umzusetzen, hielten sich unter seiner Regierung die Waage. Demokratie und Gemeinwohl fanden wieder zusammen.

Heutige Diktatoren wie Wladimir Putin und Möchtegernführer wie Donald Trump rufen ebenso laut nach moralischer Erneuerung und finden genau damit Anklang bei den Massen. Der amerikanische Immobilienspekulant könnte aber kaum verschiedener von seinem großen Vorgänger Roosevelt sein: die Vernunft, Amerika auf rationale Art wieder groß zu machen, geht ihm völlig ab. Das Gemeinwohl ist dem Mann gleichgültig und selbst das Privatwohl kümmert ihn nur, sofern es die eigene Person betrifft. Der neue Zar in Russland weiß dagegen die Expertise sehr wohl zu nutzen und zu fördern, aber der moralische Impetus hat bei ihm eine archaische Gestalt angenommen. Wie für die Nazis die Deutschen, so sind für ihn die Russen das erwählte Volk, das für sich das Recht beanspruchen darf, andere unter ihre Knute zu zwingen. Diese Diabolokratie ist um vieles gefährlicher als die moderne Plutokratie der Amerikaner. Putin ist auch insofern ein Nachfolger Hitlers als seine brutale Herrschaft nur so lange besteht, wie er sich auf die bedingungslose Loyalität seiner Gefolgschaft verlassen kann. Damit verliert er viele Leute, deren Expertise für sein Land wichtig wäre. Russland leidet an intellektueller Auszehrung. Wieder einmal zieht der Wahn eines einzigen Mannes ein ganzes Volk in den Abgrund.