Snowden und die Feigheit der Europäer

(auch erschienen in: "scharf-links")

Auf US-amerikanischen Druck haben Frankreich, Italien und Spanien den Luftraum für die Maschine des bolivianischen Präsidenten Evo Morales sperren lassen – vermutlich weil Russland sich einen Scherz erlaubte. So wurden beide: die USA und Europa, von Putin zugleich an der Nase herumgeführt. Wie gut ihm der Streich gelungen ist! Die USA haben der Welt neuerlich demonstriert, dass sie in Verfolgung ihrer eigenen Interessen ebenso das Recht wie ihre eigenen Verbündeten missachten. Jene Staaten Europas aber, die ihren Luftraum sperrten haben sich vor aller Welt als fügsame Vasallen der USA geoutet.

Welch eine Blamage! Was ist aus Frankreich geworden, dem Land Voltaires? Der Ruhm dieses Aufklärers besteht bis heute darin, sich in Wort und Tat den Mächtigen widersetzt zu haben, wann immer diese ihre Stellung missbrauchten. „Écrasez l`infâme“ war der Schlachtruf, mit dem er in den Prozessen gegen Calas, Sirven und La Barre die öffentliche Meinung ganz Europas gegen das Unrecht mobilisierte. Die französische Revolution war ja nichts anderes als der Höhepunkt dieser Empörung gegen die Selbstherrlichkeit der Eliten. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dieses Erbe intakt. Während das offizielle Frankreich Dreyfus als Verräter brandmarkte und verfolgte, wagte es der Schriftsteller Emile Zola die Wahrheit zu sagen und ihr zum Sieg zu verhelfen.

Und jetzt? Ein Wink aus den USA genügt, damit dieses einst für Macht und Machtmissbrauch so empfindliche Land sich gehorsam duckt. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Europa eine bloße Fiktion ist, ein Wunschbild und inzwischen nicht mehr als eine klägliche Illusion, so hat ihn der Fall Snowden geliefert. Die Amerikaner wissen, dass sie jedem der krisengeschüttelten Staaten des alten Kontinents nur mit Sanktionen zu drohen brauchen, um ihn gefügig zu machen. *1*

Mit einem raffinierten Manöver – dem falschen Gerücht, dass Snowden sich in der Maschine des bolivianischen Präsidenten befinde – ist es Putin gelungen, die ganze Ohnmacht Europas und die erdrückende Übermacht der USA zu demonstrieren. Und darüber hinaus ist es ihm auch noch gelungen, die Werte des alten und des neuen Kontinents zu diskreditieren, zumindest aber als unglaubwürdig hinzustellen. Die Grundidee der Demokratie – wie sie in Putins Russland gerade systematisch außer Kraft gesetzt wird – besteht in der Kontrolle der Macht durch den Bürger. Immanuel Kant, Voltaire und Rousseau haben dieses Ideal mit gleicher Emphase vertreten. Vor allem aber galt es für die USA selbst. Als älteste Demokratie hatten sie sich bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Verfassung gegeben, die der Kontrolle der Macht durch den Bürger den höchsten Rang einräumt. In bester US-amerikanischer und westlich-demokratischer Tradition hat sich jetzt ein Angehöriger dieses Landes zu Wort gemeldet, um dagegen zu protestieren, dass solche Kontrolle zunehmend unmöglich wird. Das kann der Macht nicht gefallen, aber Snowden beruft sich nur auf ein Recht, das ihm die Verfassung selbst garantiert.

Wenn die Demokratie einen der ihren als Verräter hinstellt, nur weil er sein verfassungsmäßiges Recht auf Kontrolle einfordert, dann muss man sich fragen, ob diese Demokratie noch „funktioniert“?

Putin jedenfalls hat daran schon immer gezweifelt. Er reibt sich die Hände und schüttelt in gegenseitigem Einverständnis auch gleich noch die seiner chinesischen Verbündeten. „Seht mal, so sieht im Westen die viel gepriesene demokratische Freiheit aus! Kaum wagt ein Bürger, sich gegen den Machtmissbrauch seines Landes zu erheben, setzt sein eigenes Land alle Hebel in Bewegung, um ihn so schnell wie möglich mundtot zu machen.“

Und mit Recht könnte sich Putin auch noch über Europa belustigen. Können wir uns denn noch weiterhin damit brüsten, mutige Aufklärer wie Voltaire, Kant, Zola oder Heinrich Heine hervorgebracht zu haben? Wohl kaum. Statt den Aufklärer Snowden für seine mutige Tat zu loben, ist von unseren Regierungen und Intellektuellen kaum mehr als beleidigtes Flennen zu hören. Wenn die Amerikaner schon weltweit spionieren müssen, warum machen sie nicht wenigstens vor uns, ihren treuen Verbündeten, halt?

Ich nehme an, dass die Putins dieser Welt sich nach dem Fall Snowden endgültig für ehrlicher und konsequenter halten. Sie selbst haben ja von vornherein nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie jeden Einspruch gegen die staatliche Macht mit aller Härte verfolgen – so wie es in Diktaturen oder Scheindemokratien von jeher üblich war.

Es besteht die Gefahr, dass mehr und mehr Bürger auch bei uns auf ihre Seite abdriften. Denn sind Whistleblower von der Art eines Julian Assange oder Edward Snowden nicht eine reale Gefahr für jeden modernen Staat? Der Letztere muss sich ja nicht nur gegen die zerstörerischen Umtriebe des Terrorismus und die Aktivitäten feindlicher Mächte behaupten, sondern ebenso auch gegen einen ökonomischen Wettbewerb, der zu einem nicht geringen Teil im organisierten Diebstahl geistigen Eigentums besteht. Was bleibt da anderes übrig als Spionage und deren Abwehr? Und werden beide nicht in Zukunft noch eine weit größere Rolle spielen? Angesichts schrumpfender Ressourcen in einer Welt, wo wenige viel und viele sehr wenig besitzen, ist jedenfalls damit zu rechnen, dass Anschläge auf die Häuser der Reichen eher zu- als abnehmen werden. Und diese Aussicht muss uns umso bedrohlicher erscheinen, als während des vergangenen halben Jahrhunderts ein gewaltiges technisches Potential der Zerstörung geschaffen wurde. Über das Internet kann sich jeder potentielle Terrorist daraus bedienen. Kein Wunder, das Hoimar von Ditfurth in seinem Buch „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“ die fatalen Auswirkungen dieser privaten Verfügung über eine Hochtechnologie der Zerstörung schon in den 80-Jahren prophezeite.

Seine Voraussagen sind heute noch weit aktueller – man sollte sich da keinen Illusionen hingeben. Solange die soziale Befriedung unseres Planeten durch „Wohlstand für alle“ bei gleichzeitiger Überwindung der ökologischen Krise ein Wolkenkuckucksheim bleibt, wird die weltweite Überwachung der Bürger im gleichen Maße zunehmen wie die ungleiche Verteilung der Ressourcen und der private Zugang zu allen möglichen Mitteln der Massenvernichtung. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob wir in einer vergleichsweise primitiven Gesellschaft leben, wo die Menschen sich allenfalls einzeln mit Äxten bedrohen, oder ob die vielen Doktor-Seltsams unserer Zeit über handliche Waffen wie Nervengase, Plutonimum, tödliche Bakterien oder Viren verfügen, mit denen sie ganze Populationen auszurotten vermögen. Der technische Fortschritt und seine allgemeine Verfügbarkeit erleichtern zwar unser Leben, aber zur selben Zeit bewirken sie eine Potenzierung des Risikos.

Die Antwort auf dieses wachsende Risiko lässt zwei unterschiedliche Lösungen zu. Erstens, die weltweite Spionage und Überwachung durch eine Supermacht, die sich sorglos über die Souveränität anderer Staaten hinwegsetzt und deren Treiben von anderen Staaten stillschweigend geduldet wird. Diese Rolle würde ein gütiger Hegemon ausführen können, der die Achtung und das Vertrauen aller übrigen Staaten genießt. Den USA wird eine solche Rolle offensichtlich nicht mehr geglaubt und noch weniger gegönnt. Die zweite Lösung besteht in einer langsamen Rückentwicklung und Eindämmung der bestehenden Globalisierungstendenzen. Im Bereich des Internets findet diese Rückentwicklung bereits statt – sowohl in China wie in Russland. Man wird damit rechnen dürfen, dass die Enthüllungen Snowdens sie noch beschleunigen. Auch der seit einiger Zeit wieder aufflammende Währungskrieg, die protektionistischen Maßnahmen im Handel und die Tatsache, dass ganze Regionen der Welt als Reiseziele zunehmend gefährlicher werden, deuten in diese Richtung. Es ist schon paradox, dass die weitere Vereinheitlichung des Globus durch die Selbstherrlichkeit gerade jener Weltmacht in Frage gestellt wird, die sie mit größter Entschiedenheit propagiert und vorangetrieben hatte.

Es bleibt die Frage, ob wir Snowden als einen naiven oder sogar gefährlichen Idealisten betrachten sollten, der so elementare Zusammenhänge nicht zu durchschauen vermag?

Diese Ansicht wird vermutlich in Russland und China sowie in den Geheimdiensten der USA vertreten. Die Führung dort ist überzeugt, besser als jeder einzelne zu wissen, welche Gefahren von innen und außen drohen und wie sie am besten abgewehrt werden können. Whistleblower sind aus dieser Sicht den Terroristen gleich zu setzen. Sie durchkreuzen die Maßnahmen der Regierung und würden so zu einer Gefahr für alle werden. Solange es um die auslandbezogene Tätigkeit der Geheimdienste geht, werden viele Menschen auch bei uns diese Auffassung teilen. Unsere Geheimnisse und Schwachstellen werden von draußen ausspioniert. Wollen wir nicht einfach die Wange hinhalten, müssen wir Gleiches mit Gleichem vergelten. Diese Haltung erklärt, warum die umfassende Spionage der Amerikaner in den Ländern Europas nur mäßige Empörung hervorruft und vermutlich gar keine wirksamen Aktionen.

Den wenigsten scheint dabei der Gedanke zu kommen, dass sie auf diese Weise eine kaschierte Form des Krieges als normal legitimieren. Denn geheimdienstliche Tätigkeit in anderen Ländern ist eine verdeckte Form des Krieges, ein Eingriff in die Souveränität eines anderen Landes, und wird von den Betroffenen auch so behandelt. Leute, die dies gleichmütig akzeptieren, könnten mit gleichem Recht behaupten, dass auch der offene Krieg immer schon geführt worden sei und insofern durchaus als normal zu gelten habe. Das ist eine in die Irre leitende und gefährliche Argumentation! Die auslandbezogene Tätigkeit der Geheimdienste mag zwar notwendig sein, um sich gegen ebensolche Übergriffe von Seiten anderer Staaten zu wehren, doch dieses Vorgehen ist ebenso wenig normal wie der offene Krieg. Aller Fortschritt im Zusammenleben von Menschen und Völkern beruht einzig darauf, dass Vertrauen aufgebaut und Gewalt und Krieg (und eben auch die gegenseitige Spionage) abgebaut werden, also auf friedlicher Schlichtung, Ausgleich und Kompromiss.

Der Enthüller (Whistleblower) ist ein Ärgernis für die Macht, weil er den Schleier über ihren Machenschaften zerreißt. Seine Aufklärung ist allerdings von zweifelhafter Wirkung, wenn sie nur die eigenen Geheimdienste schädigt und dadurch ein real oder potentiell feindliches Lager stärkt. Hier ist meines Erachtens kein abschließendes Urteil möglich: Solange zwischenstaatliches Vertrauen fehlt oder missbraucht wird, bleiben Spionage und die damit verbundene Verletzung der Souveränität anderer Länder ein notwendiges Übel.

Eindeutig und vorbehaltlos sollte dagegen das Urteil der Demokraten ausfallen, wenn es um die Bespitzelung der eigenen Bürger geht (bzw. um die Bespitzelung durch einen noch so freundlich gesinnten Verbündeten, der damit unserer eigenen Regierung die Macht gibt, sich über demokratische Kontrollen hinwegzusetzen). Snowden hat sich zum Sprachrohr aller Bürger seines eigenen und der mit diesem verbündeten Länder gemacht, als er das Fehlen eben dieser Kontrollen anprangerte. Die Bürger demokratischer Staaten vermögen sehr wohl einzusehen, dass in der modernen Risikogesellschaft der Staat mehr Zugriffsmöglichkeiten besitzen muss, aber sie wollen und müssen dabei auf ihrem demokratischen Recht bestehen, als Souverän das letzte Wort darüber zu haben, welche dieser Zugriffsrechte sie in welchem Ausmaß ihrer Regierung gewähren. Snowden hat nichts anderes getan, als ein demokratisches Grundprinzip einzufordern.

Das braucht uns nicht die Augen dafür zu verschließen, dass auch Aufklärer Menschen sind. Selbst wenn sie das Richtige tun, handeln sie nicht notwendig aus den richtigen Motiven. Gekränkte Eitelkeit, Sucht nach Publizität, Querköpfigkeit – all das kann im Einzelfall eine Rolle spielen. Im konkreten Fall ist damit zu rechnen, dass auf jede Weise versucht werden wird, den Charakter des Whistleblowers zu schwärzen. Bei der Beurteilung seines Falls darf das jedoch keine Rolle spielen: Dieser Mann hat der Demokratie einen gewaltigen Dienst geleistet. Einiges deutet überdies darauf hin, dass Snowden selbst noch in der Höhle des Löwen nahe liegenden Versuchungen widerstand. Oder ist es nicht als gutes Zeichen zu werten, dass der russische Außenminister Lawrow sehr unzufrieden mit diesem Mann ist? Auf der Asienkonferenz mit der Frage nach dem weiteren Schicksal von Snowden konfrontiert, antwortete er mit vorgetäuschter Unwissenheit: „Wer ist dieser Mann?“ Ähnlich ist wohl auch Putins Aussage zu verstehen, dass man Snowden in Russland nur dann Asyl gewähren würde, wenn er sich verpflichte, den USA nicht länger mit seinen Enthüllungen zu schaden. Putin, ein Machiavellist durch und durch, der nichts so sehr wünscht, wie den USA jede Menge an Schaden zuzufügen, ist bei Snowden, wie es scheint, auf Granit gestoßen. Wie gern hätte man ihn in Russland behalten, wäre es gelungen, ihn in einen russischen Spion umzuwandeln, der alle übrigen Informationen ausschließlich dem russischen Geheimdienst statt der Weltpresse anvertraut!

Wenn ich dies richtig sehe, ist Snowden weit mehr als ein Whistleblower – er ist ein ehrlicher Aufklärer in der besten Tradition seines eigenen Landes, der ältesten Demokratie. Es ist eine Tragödie, dass diese ihren ideologischen Gegnern in letzter Zeit immer ähnlicher wird.

1 Zum Verhalten der Europäer vgl. auch den Artikel von Paul Craig Roberts (ehem. Stellvertretender Schatzminister in der Reagan-Administration, Herausgeber der Kommentarseite des Wall Street Journals und Mitherausgeber der National Review).