Russische Bruderliebe – der Kampf um die neue Weltordnung

Unlängst klärte der russische Präsident die Welt darüber auf, dass die Ukrainer ein Brudervolk seien, das aber westlicher Gehirnwäsche ausgesetzt und deshalb in das Fahrwasser von Nazis geraten sei. Offenbar geht er davon aus, dass der größte und mächtigste unter den Brüdern, die Russen, legitimiert sei, den kleineren und schwächeren das eigene Gesetz aufzuzwingen, sprich, sie unter die russische Knute zu zwingen. Begreiflicherweise haben die baltischen Länder, selbst von vielen russischen Brüdern besiedelt, die größte Angst vor dieser mit Kanonen gewappneten Bruderliebe; ebenso die Polen und andere slawische Völker, die ja alle zu den entfernten Brüdern gehören. Die NATO konnte genau deswegen so erstarken, weil diese Völker schmerzhaft in Erinnerung haben, dass ein dreiviertel Jahrhundert früher erst Hitler und anschließend Stalin diese Art von Bruderliebe gepredigt und vollzogen hatten.*1*

Nirgendwo wird so unermüdlich zum Kampf gegen Nazis aufgerufen wie in Putins Russland. Warum aber kopiert der russische Präsident deren Methoden, die er doch eigentlich perhorreszieren müsste? Warum steht die Welt heute am Rand eines Krieges, der sich aufgrund eines Zwischenfalls zu einem Endkrieg zwischen West und Ost aufschaukeln könnte?

Lassen wir einmal die Ideologien hüben und drüben beiseite, um den Blick auf die grundsätzlich veränderten Bedingungen zu werfen, welche seit etwa einem halben Jahrhundert alle Staaten in ihren Bann gezwungen haben. Bis dahin lebten die großen Nationen auf diesem Globus so weit voneinander entfernt, dass sie andere Völker zwar zeitweise unterwerfen (man denke an die Nomadenreiche und den Kolonialismus), aber nie eine dauernde Herrschaft begründen konnten. Damals mussten solche Unterwerfungen mit Hilfe von Heeren stattfinden, die ständig menschlichen und materiellen Nachschub benötigten. Sobald dieser fehlte, brach Herrschaft wieder zusammen.

Das ist heute anders, und zwar grundsätzlich anders. Seit etwa einem halben Jahrhundert stehen interkontinentale Raketen den großen, in den kommenden Jahrzehnten auch vielen kleineren Staaten zur Verfügung, deren Bomben jedes Gebiet auf dem Globus innerhalb von Minuten oder Stunden in unbewohnbare, nuklear verseuchte Wüsten verwandeln. Diese Bedrohung ist permanent, anders gesagt, sie ist sie unaufhebbar, solange keine Autorität oberhalb der Einzelstaaten dieser Entwicklung ein Ende setzt. Wir befinden uns in exakt derselben Situation wie Europa zur Zeit von Immanuel Kant, der genau aus diesem Grund die Einrichtung einer Weltregierung gefordert hatte, weil sich andernfalls die Staaten Europas in ständigem Kampf zerfleischen würden. In Europa waren alle Staaten einander geographisch so nah und so gut gerüstet, dass nur eine gemeinsame Regierung einen dauerhaften Frieden zwischen ihnen ermöglichen konnte.

Europa hat die Vision des deutschen Philosophen zweieinhalb Jahrhunderte später – nahezu – verwirklicht. Dagegen ist die heutige Welt aufgrund der über den ganzen Globus verbreiteten technischen Zivilisation zwar äußerlich so uniform wie nie zuvor, aber von dieser notwendigen Einheit ist sie immer noch weit entfernt, obwohl es in unserer Zeit – anders als in Europa zur Zeit von Kant – um nicht weniger als das Überleben der Spezies geht. Man muss die heutige Situation meiner Ansicht nach so beschreiben: Die technisch bereits geeinte Menschheit lebt in einem Staat ohne Regierung, sie lebt in jenem von Thomas Hobbes beklagten Zustand, wo jeder einzelne (in diesem Fall jede einzelne Nation) für sich ein Maximum an materieller und ideologischer Macht zu erringen strebt, auch wenn das auf Kosten aller anderen geschieht. In einem einzelnen Staat spricht man in einem solchen Fall von politischem Chaos, das jederzeit in einen Bürgerkrieg münden kann. Im Fall der Menschheit als ganzer gebraucht man stattdessen einen wohlklingenden Begriff: Man beschwört die „Multipolare Weltordnung“.

Ein Staat kann seinen Bürgern jedoch nur dann Frieden bringen, wenn er als einziger das Monopol der Gewalt besitzt. Jede Regierung ist ihrem Wesen und ihrem Auftrag nach deshalb monopolar, auch wenn sie auf demokratische Weise multipolaren, partikulären Interessen größte Freiheit gewährt – solange diese nicht im Widerspruch zum Allgemeinwohl stehen. Andernfalls führt Multipolarität zu Chaos und Bürgerkrieg, nämlich dem Krieg aller gegen alle, wie ihn Hobbes in seinem Klassiker Leviathan so eindringlich beschrieb. Hobbes hatte den Dreißigjährigen Krieg vor Augen.

Innerhalb von zwei Jahrhunderten haben Europa und sein Ableger, die Vereinigten Staaten,technologisch exponentiell aufgerüstet. Heute kopiert der gesamte Globus diesen Prozess innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten. Technik hat alle Staaten einander so nahegebracht, dass keiner sich mehr von den anderen absondern kann. Kommunikation und Datenflüsse überbrücken alle Entfernungen mit Lichtgeschwindigkeit, überschallschnelle Atomraketen können in kürzester Zeit jeden Punkt der Erde erreichen. Hacker aus Korea oder Südafrika sind uns genau so nahe wie die aus der Nachbarstadt. Unsere Spezies Homo sapiens insapientissimus ist durch Technik ein einziges Volk geworden, aber ein Volk im Bürgerkrieg (Hans-Magnus Enzensberger hatte das schon vorausgesehen).

Staaten im Bürgerkrieg leben ohne funktionierende Regierung, weil keine Autorität das Monopol der Gewalt besitzt, sondern diese multipolar auf viele einander widerstreitende Kräfte verteilt ist. Das gilt für den einzelnen Staat wie für die gesamte Weltgemeinschaft. Bis etwa zu Beginn des neuen Jahrhunderts waren die USA die unbestrittene Führungsmacht, die – wie Arnold Toynbee bemerkt, weit weniger brutal als frühere Ordnungsmächte – eine Art Weltregierung verkörperte, indem sie die Spielregeln definierte. Den USA fehlt inzwischen die wirtschaftliche Kraft, um diese Stellung gegen das aufrückende China und das nuklear erstarkte Russland weiterhin zu behaupten. So gesehen, ist der Krieg in der Ukraine – diesem so oft gepeinigten Pufferstaat – nur ein weiteres Kapitel im Ringen der Supermächte um die Stellung als Weltordnungsmacht. Dieses Ringen wird erst dann zu einem Abschluss kommen, wenn eine der Supermächte oder die UNO sich in dieser Stellung durchsetzen kann. Denn ohne eine von allen anerkannte Autorität kann es keinen dauernden Frieden geben – Kants Aussagen sind heute so gültig wie sie es damals waren. Gleichgültig, ob wir eine solche Weltordnungsmacht wollen oder sie verabscheuen – der sogenannte technische „Fortschritt“ zwingt sie uns auf, denn andernfalls wird er uns, wie nicht wenige Pessimisten seit langem befürchten, den nuklearen und ökologischen Untergang bringen. Bald zehn Milliarden Menschen kämpfen um die verbliebenen Rohstoffe, mit deren Rückständen sie den Planeten vermüllen. Weil sie allein für die Aufrechterhaltung ihres heutigen Lebensstandards längst mehr als nur einen einzigen Globus benötigen, kann nur noch eine übergeordnete Instanz, eine Weltregierung, verhindern, dass sie ihre gemeinsame Lebensgrundlage und darüber hinaus noch sich selbst vernichten.*2* 

1 Selbst den unbelehrbarsten Putinverstehern würden die Haare zu Berge stehen, könnten sie im ersten, also dem populärsten russischen Kanal (Perwy Kanal) die tägliche Sendung „Vremja pokazhet“ (Die Zeit wird es weisen) verfolgen. Da wird allen Ernstes behauptet, dass in Berlin kein Russe sich mehr auf die Straße wagen könne, weil er damit rechnen muss, von Russenfeinden zusammengeschlagen zu werden. Außerdem würden deutsche Gerichte unter dem Hakenkreuz tägliche Urteile zur Enteignung von russischem Besitz erlassen. Ebenso hört man in Vremja pokazhet, dass der deutsche Bundeskanzler Scholz gerade im Begriffe sei, ein faschistisches Regime zu errichten, und dass der Westen die Russen nicht etwa aus politischen Gründen verfolge, sondern weil die Russen wie unter Hitler nun wieder als Untermenschen gelten. Man verfolge sie aus rassistischen Gründen wie Hitler damals die Juden (dass man in Deutschland russische Künstler wie Anna Netrebko nicht weiter engagiert, halte ich für eine Dummheit; dadurch arbeitet man der russischen Propaganda in die Hände). Weiter kann man in dieser für ein Millionenpublikum ausgestrahlten Sendung Tag für Tag hören, dass das brüderliche Eingreifen in Russland unbedingt notwendig gewesen sei, um den von der NATO seit langem geplanten atomaren Überfall der Ukraine auf Russland noch gerade zur rechten Zeit zu verhindern.

Putinversteher lernt Russisch, damit ihr wisst, wovon ihr redet! Aber fallt deswegen nicht in den umgekehrten Irrtum, die Russen als Menschen nicht genauso zu achten und ernst zunehmen wie alle anderen Menschen auf diesem inzwischen viel zu engen Globus! Denkt immer daran, dass wir Deutsche und Österreicher dreizehn unselige Jahre lang im vergangenen Jahrhundert noch Grauenhafteres taten. Weil mir das immer vor Augen steht, halte ich die grässliche Kriegstreiberei im ersten russischen Kanal überhaupt aus.

2 Zu diesem Thema habe ich ein Buch mit dem Titel Der angesagte Kollaps der Technozivilisationfertiggestellt. Es ist noch unveröffentlicht.

Herr Gerhard Loettel, Pfarrer in Magdeburg, schickt mir folgenden Kommentar:

Lieber Gero !

– da hast Du ja wieder so erkenntnisreich wie furchterregend die gegenwärtige Weltlage zusammengefasst und dargelegt, wie sie kaum jemand so klar zugeben möchte.

– Übrigens muss/kann man einmal den Vorwurf der Russen in Deinem ersten Satz von den Nazis in der Ukraine im Internet aufklären. Das ist hochinteressant. Das Erstarken rechtsextremer Kräfte in Deutschland (Österreich? Europa? ) ist aber auch nicht zu übersehen.

– Und nun sprichst Du aus, was auch kaum einer der Offiziellen zugibt, was ich aber seit Langem auch schrecklich befürchte, der homo insapientissimus hat die ihm geschenkte Geistesgabe dazu benutzt und schändlich missbraucht, sich selbst und jegliches höheres Leben auf dem blauen Planeten auszulöschen. Schande über diese Schöpfung, die so hoffnungsträchtig bis zum Punkt „Omega, der Noophäre“ angedacht war.

Kein Archäologe wird dann je einmal ausgraben können, dass der dann marsähnliche Planet einmal Leben beherbergte. Denn es gibt keine Archäologen mehr in der Umgebung des einstigen blauen Planeten. Eine Horrorvorstellung , wenn ich an meine Kindeskinder denke.

Gruß Gerhard

Elmar Klink aus Bremen schreibt:

Der russische Präsident droht im Ukraine-Krieg unverhohlen mit seinem Atomwaffen-Arsenal. Seine Truppen greifen das größte ukrainische Atomkraftwerk im Süden des Landes an. Er lässt die Nordmeer-Flotte mit nuklearenRaketenkreuzern und Atom-U-Booten zu See-„Manövern“ im Eismeer auslaufen undwarnt vor weiterer Nato-Einmischung.  Der Westen zündelt mit Aufrüstung im osteuropäischen Raum und macht sich mit Waffen-Lieferungen indirekt zur Kriegspartei. Lunte über Lunte wird ausgelegt. Man muss nur noch den Funken dranhalten.  Eine beispiellose Eskalation findet gerade statt. Die atomare Karte kommt ins Spiel. Wer bremst das allgemeine Kriegstreiben mit Drohen und Strafen und Kriegsgeschrei von CSU bis zu den Grünen? Wie will man davon wieder herunterkommen?  Hat unsere Politik, haben Köpfe wie Söder, Merz, Röttgen, von der Leyen, Gabriel, Botschafter Melnyk und andere den Verstand verloren?…

Mit guten Grüßen Elmar Klink, D-Bremen

Eine kleine Anmerkung meinerseits

Eine Kriegstreiberei kann ich in Deutschland zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht bemerken sondern eher Beklommenheit bis hin zu akuter Angst vor dem, was da noch bevorstehen könnte. Und was die richtige Friedenspolitik anbetrifft, so gebe ich Folgendes zu bedenken. Wenn Sie auf einem Schulhof einen Goliath sehen, der einen Kleinen zusammenschlägt, dann werden Sie ihm nicht unbedingt beistehen, wenn Sie sich ausrechnen können, dass Sie dann dasselbe Schicksal erleiden. Aber Sie werden dem Kleineren vielleicht eine Gaspistole zuwerfen. Genau so geht die NATO gegenwärtig vor – meines Erachtens mit großer Umsicht. Keine direkte Beteiligung, denn darauf könnte eine atomare Konflagration entstehen, aber andererseits versteht man Friedenspolitik auch nicht in dem Sinne – auch das halte ich für richtig -, dass man mit verschränkten Armen als Zuschauer daneben steht. Man unterstützt David gegen Goliath auf indirekte Weise.

Karl Ernst Ehwald schreibt:

Sehr geehrter Geo Jenner,

Ihrem Beitrag muss ich zu 100% zustimmen und auch, entgegen meiner diesbezüglichen früheren Skepsis, auch Ihren Überlegungen zur Notwendigkeit einer Weltregierung, um solche Kriege in Zukunft vielleicht zu verhindern. Wenn sich die Menschheit bis dahin nicht selbst vernichtet, ist aber eine neue stabile Weltordnung realistischerweise wohl am ehesten zu erwarten, wenn sich China mit oder ohne russischen Anhang (und gegebenenfalls weitern Staaten mit nicht liberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) weltweit als dominierende Macht durchgesetzt hat. Sicher kein ideales Scenario, aber für mich im Moment das kleinere künftige Übel. Inwieweit in diesem Falle dann auch wieder in diesen Ländern eine innenpolitische Liberalisierung im Sinne von (nicht kapitalistischen ?) zentral geleiteten Sozialstaaten möglich wird, ist nicht sicher, wäre aber meine Hoffnung. Dann ließe sich vielleicht auch der totale ökologische Kollaps unserer schönen Erde noch vermeiden. Leider wird meine Generation das sicher nicht mehr erleben. Um Sie zu zitieren: „Werden wir es schaffen“?

Mit herzlichen Grüßen

K.-E.E. aus Frankfurt (Oder)

Peter Grohmann, Kabarettist und Autor schreibt mir:

Lieber Gero Jenner, Danke, Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich habe im „Wettern der Woche” einen Link auf Ihren Beitrag gesetzt.

Freundliche GrüßePeter Grohmann