Putins Vision der Ukraine und von Europa

Jetzt wissen wir es also: die russische Knute steht im Fenster. Aus der Sicht Putins ist ja nicht nur die Ukraine ein gescheiterter Staat, sondern prophetisch sehen er und Xi Jinping bereits das Ende der freien westlichen Welt voraus. Die flächengrößte Atommacht bietet eine Alternative, die auf eine lange imperiale Tradition zurückblicken kann – von den Zaren über Stalin bis zu Wladimir Putin selber. Der russische Präsident bietet Ruhe – von oben verordnete Unfreiheit, gestützt auf Polizei, Militär und die systematische Unterdrückung aller Opposition. Stalin hatte einst die Frage gestellt, wie viele Divisionen der Vatikan denn mobilisieren könne. Putin fragt, über wieviel Militärmacht Europa verfüge – und über wie viele das heutige Russland? Die Antwort ist für ihn entscheidend. Daraus leitet er sein imperiales Auftreten ab.

Putin ist es gelungen, sein in den neunziger Jahren gedemütigtes Land neuerlich zu einer gefürchteten Atommacht aufzurüsten. Eine gewaltige Leistung, die ihm die Unterstützung des Militärs und aller russisischen Patrioten sichert. Damals nach dem Untergang der Sowjetunion waren die Amerikaner und die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes nur zu froh, dass Russland am Boden lag, denn Stalin hatte sie zwar von den Nazis befreit, aber ihnen eine nicht weniger brutale Diktatur aufgezwungen. So erklärt sich ihre Bereitschaft ja ihr Drängen, sich dem Schutz der NATO zu unterstellen, auch wenn westliche Politiker gegenüber Russland andere – mündliche – Versprechungen abgegeben hatten. Man wollte keine Bevormundung mehr, man wollte wirkliche Freiheit und nationale Selbstbestimmung.

Allerdings hat die Freiheit, die der Westen meinte, nicht nur Wohlstand gebracht, sondern auch wachsende Ungleichheit. Liberalismus ist eine Chance, aber er ist ebenso eine Versuchung, wenn er zum Neoliberalismus entartet und sich dann der Reichtum in immer weniger Händen ballt. So ist viel Ernüchterung auch im Osten Europas eingetreten, aber eines ist unbedingt festzuhalten. Russische Korruption und Oligarchentum sind keine Alternative zum Neoliberalismus, sie haben diesen nur um Unterdrückung und politische Friedhofsstille erweitert, weil jeder offene Protest verboten ist*1*

Auf einige wenige mag das ebenso anziehend wirken wie das chinesische Modell der totalen Überwachung. Unzweifelhaft sorgt Putin für Ruhe, die er dann Frieden nennt. Dagegen war das Eingreifen des Westens während des Arabischen Frühlings zwar gut gemeint, man wollte die demokratischen Kräfte stärken, aber das Vorgehen war von erschreckender Blauäugigkeit. Wie soll Demokratie in Ländern verwirklicht werden, wo auf drei junge Männer, die eine Familie begründen wollen, allenfalls ein einziger ausreichend bezahlter Arbeitsplatz kommt? Bei so großem Bevölkerungsdruck ist nur eine Diktatur in der Lage, den fortwährend schwelenden Aufruhr zu bezähmen. Anders als westliche Politiker hatten Soziologen wie Steiger und Heinsohn (Söhne und Weltmacht) dafür den richtigen Blick – aber eben auch Wladimir Putin. Der fragte im Hinblick auf Syrien, welche Kräfte dort die reale Macht besaßen – die Antwort fiel eindeutig aus: das blutige Assad-Regime. Dem gewährte Putin daher seine Unterstüt­zung – und damit trat Ruhe ein: Friedhofsruhe (und eine russische Mittelmeerbasis ergab sich noch dazu als erfreulicher Bonus). Überall sonst setzte sich die Diktatur wieder durch oder es herrscht wie in Libyen weiterhin Bürgerkrieg. In den Augen Russlands und seiner Propaganda hatte der Westen sich heillos blamiert.

Traditionen sind zählebig, so auch die russische. Die Sowjetunion fühlte sich aufgerufen, die slawischen Brüdervölker in ganz Europa unter dem russischen Dach zu versammeln. In seiner gestrigen Rede (22. Februar 2022) hat der russisiche Präsident bewiesen, wie sehr er dieser Tradition verpflichtet ist. Ob die Ukrainer selbst diese Vision teilen, also ob sie unter russischer Bevormundung oder gar Herrschaft leben wollen, ist für ihn ohne Belang. Sie sprechen eine dem Russischen eng verwandte Sprache und hatten in der Vergangenheit eine gemeinsame Geschichte, also gehören sie einverleibt. Wir erinnern uns, dass dies auch für Hitler ein Argument war, Böhmen und Mähren von der Tschechoslowakei abzusprengen und sie dem deutschen Reich einzugliedern. Es ist das klassische Argument aller Eroberungspolitiker, ein Argument, das jeden dauerhaften Frieden vereitelt.

Denn mit dem Blick in die Geschichte lässt sich jedes Annexionsgelüste untermauern. Slawische Stämme haben – wie entsprechende Ortsnamen beweisen – einmal große Teile Europas besiedelt. Der neue russische Zar könnte sich aufgerufen fühlen, nicht nur die Ukrainer daran zu erinnern, dass sie imgrunde Russen seien, sondern dass dies ebenso für alle anderen slawischen Völker gilt, also für Polen, Tschechen, Slowenen, Kroaten und natürlich die Serben. Um Freiheit zu diskreditieren, haben Diktatoren von jeher die passenden Argumente gefunden. Und tatsächlich ist die Freiheit ja auch stets prekär und gefährdet. Das westliche Lager hat sie mit Blauäugigkeit verwechselt und teilweise auch mit sozialer Verantwortungslosigkeit – wie gegenwärtig in den USA.

Aber ist Europa mit der Putinschen Vision der Knute und Friedhofsstille geholfen?*2*

1 In den vom Regime gleichgeschalteten politischen Talkshows wird allerdings immer wieder lauthals gebrüllt: In der Sendung „Vremya pokazhet“ (Время покажет /die Zeit wird es weisen/) des ersten russischen Kanals müssen Dezibel die Stelle von Argumenten ersetzen. Nur im Bolschaya Igra (Большая игра /das Große Spiel/) herrscht ein vergleichsweise vornehmer Ton, aber Dmitriy Saims (Дмитрий Саимс), die einzige gemäßigte Stimme in diesem Kreis, wird sich auf Dauer wohl kaum durchsetzen können.

2 Nein, es ist schon richtig. Politische Friedhofsstille verlangt Putin nur im eigenen Land. Dagegen bereitet es ihm die größte Freude, wenn sich bei uns Putinversteher und ihre Gegner gegenseitig die Köpfe einschlagen; das fördert er sogar mit allen Mitteln hybrider Kriegsführung – doch die wird von beiden Lagern betrieben.

Dr, Johannes Rauter schreibt folgenden Kommentar:

Hallo Herr Jenner,

da ist Ihnen ein – für meine Geschichtskenntnisse – 
exzellenter Essay zu Putin gelungen. Gratuliere!
Aber auch Ihre Nebenbemerkungen zum arabischen Frühling
finde ich höchst treffend – leere Wohlstandsversprechen…

Wäre noch hinzuzufügen: Ex occidente tenebris – 
aus Sicht der Russen: Napoleon, Brest-Litowsk, Stalingrad, 
Leningrad, Zerfall der SU, Obama.

Und: wenn die Demokratien des Westens nicht lernen besser
mit Problemen umzugehen (Gilets Jaunes, Impfverweigerer,
Windradgegner, etc. ) wird m.E. deren Akzeptanz schwinden. 

Bedenklich: in einer von der SZ zitierten Meinungsumfrage, 
rangiert in Russland bei den Wünschen der Menschen
Stabilität weit vor Freiheit.

Und man erinnere sich auch an den Kriminalpsychiater
R. Haller : „Die Macht der Kränkung“.  Jedem Amoklauf 
lag eine tiefe Kränkung zugrunde ..

Mit freundlichem Gruß

Johannes Rauter

Von Dr. Alexander Dill bekomme ich folgende Meldung:

Lieber Herr Jenner,

noch vor drei Jahren durfte ich auf der Bundespressekonferenz bemerken, dass die EU-Staaten mehr Geld für die Bedrohung eines europäischen Nachbarlandes ausgeben als die EU insgesamt Budget hat:

Diesmal ist mit Ihnen wirklich die Geohistorie durchgegangen. Die Ukraine wurde 1918 von der Sowjetunion gegründet. Als sie diese 1991 verliess, bildete sich sofort eine „Autonome Republik Krim“. Die veranstaltete mehrere Wahlen, die von der Ukraine nicht anerkannt wurde. Dies geschah acht Jahre vor Putin und 22 Jahre vor dem „Euro-Maidan“. Die Krim musste 2014 nicht annektiert werden. Sie war Ur-Russisch und zudem russischer Marinestützpunkt.

71% der Krim-Bewohner wollten bereits 1994 zu Russland gehören. Im Donbass nun war es ähnlich: Nach dem Putsch in Kiev besetzten Rebellen die Rathäuser und Polizeistationen. Die ukrainische Regierung hatte die geniale Idee, ihre Armee dorthin zu senden. Daraufhin erbaten die Rebellen, unter ihnen erfahrene russischer Soldaten, russische Bruderhilfe. Im Minsk-Abkommen steht, dass der Donbass Wahlen und Autonomie bekommen soll. Nichts bekam er.

Laut UNHCR sind seit 2014 eine Million Ukrainer wohin umgesiedelt? In das schreckliche Gefängnis Russland! Dort verdient ein Arbeiter statt 300 Euro 1000 Euro im Monat. Seit Monaten wird in der EU gegen Russland, pardon, gegen „Putin“ gehetzt und gedroht. In Madrid sitzen Katalonen in Haft, weil sie eine Wahl abhalten wollten. Frau von der Leyen kann gar nicht erst gewählt werden. Nordiren dürfen nicht zu Irland. Assange sitzt in London in Folterhaft.

Die NATO hat in Kriegen in Afghanistan, Libyen, Irak, Syrien und Kosovo über eine Million Menschen ermordet und diese Länder dauerhaft mit Kosten von über drei Billionen Euro dauerhaft verwüstet. Und jetzt sollen Deutsche sich freuen, wenn ein bankrotter und völlig korrupter Unrechtsstaat namens Ukraine gegen russische Landesteile kämpft? Der Ukraine bleibt der Westen und Kiev. Traurig genug, denn auch aus der Westukraine fliehen die Menschen. Nach Polen. Bezug zum „russischen Grossreich“? Null.

Russland hat zulange zugesehen, wie die NATO zunächst unter Jelzin das Land billig aufkaufen wollte und dann mit der NATO-Osterweiterung wieder wie ab 1982 totrüsten. Die Ukraine könnte froh sein, wenn sie wieder zu Russland zurückdarf. Dann darf auch wieder die Muttersprache gesprochen werden und die Gasdurchleitung erfordert nicht die Berufung des Sohnes des gegenwärtigen US-Präsidenten in den Aufsichtsrat. Die Westukraine aber wäre besser bei Polen aufgehoben. Für einen hochgerüsteten Nationalstaat Ukraine gibt es keinen Platz.

Mit besten Grüssen Ihr

Johannes Dill

Meine Replik;

Was Sie anführen, höre ich täglich in den russischen Talkshows – und leider ist das alles teilweise wahr. Aber eben nur teilweise. Es sind die ewigen Halbwahrheiten über den Arabischen Frühling und die Befreiung Osteuropas – die ganze Liste von RT, die Sie da wiederholen. Dabei haben Sie eine vollständige Wahrheit nicht einmal erwähnt, nämlich die falsche Anklage, Massenvernichtungswaffen betreffend, die 2003 gegen den Irak von Colin Powell erhoben wurde und den Krieg zur Folge hatten, den auch viele Amerikaner heute als Verbrechen sehen. Powell hat seinen Fehler eingesehen, hört man ähnliche Eingeständnisse von der gleichgeschalteten Presse auf russischer Seite? Ist es überhaupt denkbar, dass – wie in den Vereinigten Staaten – ein radikaler Kritiker des eigenen Landes wie Noam Chomsky und ein Putin-Verehrer wie Donald Trump im heutigen Russland zur gleichen Zeit leben könnten? Sie wissen so gut wie ich, dass ein intellektueller Außenseiter wie Sie dort das Schicksal eines Nawalny erleiden würde – wenn man Sie nicht sogar – verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Ihre Bedeutung damit allzusehr übertreibe! – ebenso ins Grab befördern würde, wie das mit Boris Nemzow, Anna Politkowskaja und vielen anderen geschah.

Doch das geht an meinem eigentlichen Einwand vorbei: Was immer die Fehler beider Lager sein mögen – und Sie zählen zu Recht einige von ihnen auf – letztlich sollte es nur um eines gehen: Die Ukrainer – und nicht die Russen, Amerikaner oder Europäer – müssen das Recht erhalten über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Ob Sie auch gegen diese selbstverständliche Forderung argumentieren? Putin jedenfalls tut es.

Elmar Klink schreibt mir:

Vielen Dank für positive Resonanz!Was wären wir Menschen, wenn wie keine Idee-alisten wären… Auch Ihrem Ukraine-Text stimme ich sehr zu. Sehr freundlichen Gruß, Elmar Klink

Michael Kilian, Prof. für Rechtswissenschaften schreibt Folgendes:

Lieber Herr Dr. Jenner,
… Ich bewundere Ihre faktenbasierten und überaus konzisen Ausführungen jedesmal, wenn ich mich in den Text vertiefe… Folgende Fundstelle der letzten Tage möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:
Auszug aus der Rede des BAM Hans-Dietrich Genscher am 31. Januar 1990 in Tutzing: „… Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. Diese Sicherheitsgarantien sind für die Sowjetunion und ihr Verhältnis bedeutsam. Der Westen muß auch der Einsicht Rechnung tragen, daß der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozeß nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen darf. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, wird ein hohes Maß an europäischer Staatskunst verlangen …“.
Quelle: Richard Kiessler/Frank Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Nomos 1993, Anhang S. 245 ff. (246).

Nachdem man jahrelang gezündelt hat, hat sich die Voraussicht Genschers bestätigt. Aber wir haben eben keine Politiker wie Genscher mehr …  Nun darf die Bevölkerung wieder einmal das Unvermögen seiner Poliiker ausbaden; wenn es nur finanziell bleibt, hat man Glück gehabt. Und dann noch die Russen ins Lager Chinas treiben, wenn das keine Staatskunst ist.
Viele Grüße, Ihr Michael Kilian

Meine Replik:

Sicher war die Haltung Genschers weitsichtig, aber man sollte nicht vergessen, dass es die ehemaligen Ostblockstaaten waren, die in die NATO drängten, um sich vor künftigen russischen Expansionsgelüsten zu schützen. Die NATO konnte nur deswegen expandieren, weil sie dazu aufgefordert wurde. Hierzu Wikipedia: „Russische Militäraktionen, darunter der Erste Tschetschenienkrieg, der Transnistrienkrieg und der Krieg in Abchasien, veranlassten die mittel- und osteuropäischen Länder, insbesondere diejenigen mit eigenen Erinnerungen an ähnliche sowjetische Offensiven, auf eine NATO-Beitrittserklärung zu drängen, um ihre langfristige Sicherheit zu gewährleisten… Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei.“ Hätte Deutschland sich diesen Ländern gegenüber durchsetzen können, wenn es selbst den Schutz der NATO (d.h. des großen amerikanischen Bruders) für sich in Anspruch nimmt, ihn aber den anderen verweigert?

Eines ist dennoch klar oder sollte es jedenfalls sein. Auf die Sicherheitsbedürfnisse der Russen müssen die USA (die NATO) ebenso Rücksicht nehmen, wie umgekehrt die Russen auf die der USA und Europa. Es wird keinen Weltfrieden geben, wenn dieser Imperativ nicht der globalen Gemeinschaft beständig vor Augen steht. Niemand kann mir vorschreiben, welche Partei ich wählen soll, und niemand einem Staat, mit welchen anderen er ein Verteidigungsbündnis schließt, aber wenn wir nicht gegenseitig auf Sicherheitsbedürfnisse Rücksicht nehmen, ist die Alternative, dass wir uns irgendwann gegenseitig in die Luft sprengen werden. Wir haben uns diesem Zustand schon beängstigend weit angenähert.