Neue Weltwirtschaftskrise: ein reales Gespenst

Der gigantisch aufgeblähte Kreditballon des amerikanischen Immobilienmarktes ist soeben am Platzen – ein Vorgang, der die ganze Weltwirtschaft zu erschüttern droht, seit die Gläubiger den nur zu berechtigten Verdacht geschöpft haben, dass für sie zunehmend weniger Aussicht besteht, ihr Geld jemals zurückzuerhalten. Das Ganze erinnert fatal an das Ende der zwanziger Jahre: die erste große Weltwirtschaftskrise in einer schon damals globalisierten Welt. In den USA sind viele Hypothekenschuldner zahlungsunfähig, in Europa hat die EZB daher schon jetzt (11. August 2007) 155 Milliarden Euro an jene Banken verteilen müssen, die von Deutschland aus munter am internationalen Roulette leichtfertiger Geldverleihung mitgedreht haben. Wir stehen heute an ziemlich genau jenem Punkt – oder jedenfalls nahe davor – an dem sich die USA im Jahre 1929 befanden. Abermals ist es die führende Wirtschaftsmacht, die den Rest der Welt in den Abgrund zu reißen droht. Auch sonst bestehen verblüffende Parallelen. Heute wie damals folgte das große Elend auf eine Periode besonderen Wohlstands und weltweiten Aufschwungs. Wie schon in den zwanziger Jahren war freilich die Bevölkerungsmehrheit zunehmend weniger an diesem Füllhorn beteiligt. Jeremy Rifkin umschreibt dieses Missverhältnis mit den folgenden Zeilen. »Von 1920 bis 1927 steigerte die US-amerikanische Industrie ihre Produktivität um 40%. Allein im verarbeitenden Gewerbe stieg die Leistung pro Arbeitsstunde zwischen 1919 und 1929 um jährlich 5,6%. Im selben Zeitraum wurden mehr als 2,5 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, allein im verarbeitenden Gewerbe wurden 825 000 Beschäftigte entlassen. Die hohe Arbeitslosigkeit zog einen dramatischen Rückgang des Konsums nach sich. Die Presse sprach von >Kaufstreiks< und >schrumpfenden< Märkten; die Wirtschaft versuchte angesichts der riesigen Überproduktion, die Käufer mit einer großen PR-Kampagne zum Geldausgeben zu bewegen.«

Das gelang nur mit massenhaft vergebenen Konsumkrediten, die zunächst alle Teile genauso zufrieden stellten wie bis gestern die massenhafte Vergabe von Hypothekenkrediten. Die einen bildeten sich ein, ihr Geld rentabel veranlagt zu haben, die anderen konnten weiterhin lustig drauflos konsumieren, auch wenn sie eigentlich schon längst über kein eigenes Geld mehr verfügten. Sie konsumierten jetzt eben mit geliehenem Geld. Das konnte freilich nicht ewig so weiter gehen. Marriner Eccles, späterer Notenbankchef und damit zweitwichtigster Mann nach dem damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, äußerte sich darüber auf die folgende Weise. »Wie in einem Pokerspiel, wo sich die Chips in immer weniger Händen konzentrieren, konnten die übrigen Spieler nur noch weiter machen, indem sie Schulden machten. Gab man ihnen keinen Kredit mehr, war es auch mit dem Spiel zu Ende.«

So brach mitten im Frieden die Wirtschaft des schon damals reichsten und mächtigsten Staates der Erde innerhalb weniger Monate zusammen. Gegen Ende der zwanziger Jahre, kurz vor dem Beginn jenes Aktienabsturzes, der doch nicht mehr als das nach außen sichtbare Zeichen des Zusammenbruchs war, hatten dessen tiefere Ursachen längst im Stillen gewirkt. Eine ungeheure Menge an Kapital konzentrierte sich in den Händen einer verschwindenden Zahl steinreicher Amerikaner. Auch dies hat der Notenbankchef Marriner Eccles besser als Keynes und andere Ökonomen erkannt.

»Bis 1929 und ’30 /also bis zu Beginn der Weltwirtschaftskrise/ hatte eine gewaltige Saugpumpe einen zunehmenden Anteil des erzeugten Reichtums in wenige Hände umgeleitet… und so die Kaufkraft aus den Händen der Mehrheit genommen… Die Massenproduktion /der modernen Industriegesellschaft/ beruht aber auf einem Massenkonsum, und dieser setzt die Verteilung des Reichtums voraus… um die Menschen mit einer Kaufkraft auszustatten, die der Menge der von der Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen entspricht.«

Wir wissen, wie die Geschichte danach verlief. Massenarbeitslosigkeit und politischer Aufruhr waren die Folge eines fehljustierten Systems. Eric Hobsbawm, hochgeachteter Historiker jüdischer Herkunft, der gewiss keinen Grund haben konnte, die deutsche Schuld am zweiten Weltkrieg zu relativieren oder gar zu verkleinern, sieht gleichwohl einen klaren Zusammenhang. »Ohne sie [die Weltwirtschaftskrise] hätte es mit Sicherheit keinen Hitler gegeben.« Selbst die Vereinigten Staaten – um einiges weniger von Arbeitslosigkeit heimgesucht als das schon durch den ersten Weltkrieg zu Boden geworfene Deutschland – benötigten nicht weniger als eineinhalb Jahrzehnte, um aus dem selbstverschuldeten Elend herauszufinden. Und als ihnen dies schließlich gelang, lag die Ursache ihrer wirtschaftlichen Erholung weniger im New Deal als in einem durch ihren Eintritt in den zweiten Weltkrieg bewirkten Produktionsaufschwung, der sie endlich aus Stagnation und Massenarbeitslosigkeit befreite.

Unsere Banker haben aus den Erfahrungen der Vergangenheit bestimmte Lehren gezogen. Sie wissen, dass das Geldkapital damals streikte. Das Vertrauen auf Renditen war eben gründlich zerstört. Wer Geld hatte, trug es jetzt nicht länger zur Bank, wo so viele es gerade eben verloren hatten. Und man vertraute es ebenso wenig Betrieben an, seit diese immer weniger Käufer für ihre Produkte fanden und Investitionen daher absurd erschienen. Stattdessen wurde vorhandenes Geld gehortet, d.h. aus dem Verkehr gezogen. Dadurch allerdings wurde der Güterumlauf schwer geschädigt, der ja in einer modernen Industriegesellschaft durch die Geldzirkulation überhaupt erst zustande kommt. Die Folge war eine Abwärtsspirale: Es wurde immer weniger produziert und investiert. Die Wirtschaft siechte dahin, obwohl die Fabriken unbeschädigt vorhanden waren und die Menschen gleich arbeitswillig wie vorher. Aber das Geld fehlte, jenes unerlässliche Öl, welche die Maschine der Produktion in Betrieb hält. Letztlich fehlte das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Systems.

So war es damals, und das ist den heutigen Banker an der Spitze der EZB natürlich bekannt und bewusst. Damit in der beginnenden Krise nicht das Gleiche wie damals geschieht, hat die europäische Notenbank deshalb soeben 155 Milliarden Euro in den Geldkreislauf gepumpt. Da eine Notenbank die Hoheit über die Druckmaschinen besitzt, kann sie theoretisch jede Menge an Geld nachschießen und damit Deflation (Geldmangel aufgrund von Hortung) ein für alle Mal zu einem Ding der Unmöglichkeit machen. Keine Bank muss pleite machen, die EZB kann ihr helfen, selbst wenn die Zahl der Schuldner und damit der verlorenen Kredite ins Astronomische steigt. Allerdings treibt die Notenbank dann den Teufel mit Beelzebub aus. Statt einer verhinderten Deflation beschert sie uns nun das Gegenteil: eine davon galoppierende Inflation, die in Deutschland schon zweimal zur Erschütterung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung führte. Eine gefährliche Inflation bedroht Deutschland schon seit dem Jahre 2000, denn seit damals wurde von Deflation gemunkelt, seit damals hat die Notenbank daher großzügig die Geldmenge ausgeweitet ausgeweitet. Hätte die Finanzwirtschaft für ihre Spekulationen zur Geldvermehrung nicht ebenfalls seit damals immer größere Geldmengen aufgesogen und China massenhaft Billiggüter geliefert, wären wir schon seit Beginn des neuen Jahrhunderts in eine bedrohliche Geldentwertung geschlittert. Seit damals pumpte die Notenbank mehr Geld in den Kreislauf als dem Wachstum der realen Güter- und Dienstleistungsproduktion entsprach.

Doch wirklich ernst wird es erst jetzt – seit der amerikanischen Immobilienkrise. Auch wenn es der EZB heute noch gelingen sollte durch weitere Berieselung mit Geld die Pleite einiger Großbanken und damit des Banksystems insgesamt abzuwenden, so wird die Gefahr dadurch für die Zukunft nur umso größer. Denn das neue überschüssige Geld wird wiederum weitgehend vom Finanzsektor aufgesogen, es heizt die Spekulation nur noch stärker an, ohne das sich an der ungleichen Verteilung der Einkommen, die schon damals das System zum Kippen brachte, etwas geändert hätte. Das nur zu reale Gespenst einer kommenden Weltwirtschaftskrise wird umso bedrohlicher je mehr die inflationären Maßnahmen der EZB es in die Zukunft verschieben.

Wir haben in Wahrheit eben doch nichts aus der Vergangenheit gelernt. Nichts aus dem immensen Unglück der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, das über den ökonomische Zusammenbruch hinaus den Tod von Millionen Menschen bewirkte.

Zu diesem Thema sehr viel mehr in meinem Buch „Das Pyramidenspiel“ (erscheint im Frühjahr 2008).