Neoliberalismus oder das sanfte Sterben der Demokratie

Teil I. Aufstieg und Konsolidierung von Demokratie und Gleichheitsgedanke

Es gibt Ideen, die – einmal geboren – sozusagen ein ewiges Leben genießen. Zu diesen Ideen gehört zweifellos die Demokratie. Sofern ein Regime seine Menschen nicht in einer Art von kollektivem Gefängnis gegen alle Informationen von außen abschirmt und es dabei einer andauernden ideologischen Gehirnwäsche unterwirft – wie das etwa im heutigen Nordkorea der Fall ist -, fühlt sich jeder Mensch irgendwann vor die Frage gestellt, warum nur einige Auserwählte das Gemeinwesen lenken und beherrschen, während er selbst keine Rechte genießt. Gibt es Menschen von grundlegend anderer Natur, die zum Herrschen geboren sind, während ich und meinesgleichen von minderwertiger Art und deshalb zum blinden Gehorsam verurteilt sind? Das ist die Grundfrage der Demokratie.

Menschen zu allen Zeiten werden diese Frage immer aufs Neue stellen, deswegen bleibe ich Optimist, auch wenn ich glaube und im zweiten Teil zeigen werde, dass die führenden Länder des Westens gerade einen rasanten Abbau der gelebten demokratischen Selbstbestimmung erleiden.

Doch bevor ich auf die heutige Zeit zu sprechen komme, möchte ich die Ausgangslage für Demokratien und deren Feinde beschreiben. Wie bekannt, haben Feudalregime auf die Grundfrage der Demokratie eine eindeutige Antwort gegeben. Ja, die einen sind von Gottes Gnaden zum Herrschen berufen, die anderen zum folgsamen Dienen (1). Im Jenseits mögen alle Menschen vor Gott die gleiche Stellung einnehmen, doch hier im Diesseits gelten andere Gesetze. Gott wird dafür eingespannt, um den einen ein naturgegebenes Vorrecht, den anderen hingegen eine ebenso von oben verordnete Minderwertigkeit zu verordnen (2). Nachdem Gott allerdings im 18. Jahrhundert von der Aufklärung seiner bis dahin unangefochtenen Stellung beraubt worden war, musste man die Rechtfertigung für menschliche Ungleichheit auf andere Weise begründen. Im modernen Feudalismus – dem oligarchischen Herrschaftssystem real existierender sozialistischer Staaten – ist an die Stelle von Gott die absolute Wahrheit getreten. Nur wer sich im Besitz der reinen Lehre befand, wie sie Marx, Engels, Lenin, Stalin oder Mao verkündet hatten, gehörte zur Nomenklatur und genoss das sichere Vorrecht, über andere Menschen zu herrschen. Doch damit hatte sich letztlich wenig geändert. Ob man Gott für die Zwecke der Herrschaft missbraucht, um die Menschen in Begnadete und Unbegnadete zu unterscheiden, oder ob man sich einer angeblich unanfechtbaren ideologischen Wahrheit bedient, um sie in Verblendete oder von der Wahrheit Erleuchtete einzuteilen, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Im einen wie im anderen Fall darf und kann es eine prinzipielle Gleichheit der Menschen nicht geben.

Gleichheit aber ist das Fundament der Demokratie

Doch genau diese Idee von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen war der Stachel, der immer wieder gegen die vermeintlichen Vorrechte der Mächtigen löckte. Am frühesten in Griechenland, wo die freien Bürger gleichberechtigt über die Geschicke des Staates entschieden. Der Demos – das Volk – wurde zum Herrscher, nachdem es sich gegen das Gottesgnadentum der frühen Könige aufgelehnt hatte. Allerdings blieb die griechische Demokratie ein Torso – eine höchst unvollständige Idee. Von der Gleichheit aller Menschen war in ihr so gut wie niemals die Rede (3), denn der größte Teil der Bevölkerung blieb von ihr ausgenommen. Das waren die Sklaven. In Griechenland wie in Rom gab es weiterhin die einen, die zum Herrschen, die anderen, die zum Dienen und Gehorchen geboren wurden (4). Sowohl Griechenland wie Rom haben in kurzen Perioden Demokratien geschaffen – das Wort selbst wurde dort geboren -, doch die Idee von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen hat sich in der Praxis nie durchzusetzen vermocht.

Die Gleichheit der Menschen im alten China

Man wird dem alten China die Auszeichnung gönnen müssen, die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen zuerst in institutionell gesicherter Form konzipiert und verwirklicht zu haben. Jeder Chinese, der die entsprechenden Prüfungen der Hanlin-Akademien erfolgreich absolvierte, genoss seit der Han- bis zur Qing-Dynastie (also von 200 v. Chr. bis gegen Anfang des 20. Jahrhunderts) den gleichen Zugang zu sämtlichen Verwaltungsposten des Landes. Eine Ausnahme bildete allein die durch das erbliche Kaisertum besetzte höchste Stelle an der Spitze des Staates. Doch war das Gottesgnadentum auf die rituelle Sonderstellung des Kaisers beschränkt, der mit Opfern und Gebeten für das Wohlwollen des Himmels und der Geister verantwortlich war. Alle weltlichen Geschäfte lagen in der Hand einer literarisch geschulten Beamtenschaft, die ihre Privilegien allein den bestandenen Prüfungen verdankte (5).

Demokratien und der mündige Bürger

Die Idee von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ist die Voraussetzung für die Entstehung eines demokratisch gelenkten Staates, aber sie ist nicht mit diesem identisch. Seit Ende des Ersten Weltkriegs wurde in den meisten Staaten des Westens allen volljährigen Bürgern, gleichgültig ob Mann oder Frau, Reich oder Arm, Schwarz oder Weiß das gleiche Stimmrecht zugebilligt – ein institutionell verankertes Zeugnis für die nun als selbstverständlich geltende Überzeugung von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen. Dabei geht man von der optimistischen Annahme aus, dass diese prinzipielle Gleichheit jeden Bürger dazu befähige, die Erfordernisse des Staates vernünftig einzuschätzen. Nur der im Sinne Kants mündige Bürger trägt mit seiner Stimmabgabe zum Wohle der Allgemeinheit bei. Folgt der Wähler nur seinem Bauch, seinen irrationalen Neigungen oder der Propaganda von Demagogen, so verliert Demokratie ihren Sinn.

Gleich von Natur, aber ungleich von Bildung

Das alte China und die modernen Theoretiker der Demokratie, wie diese am konsequentesten in Nordamerika und im postrevolutionären Frankreich zunächst erdacht und dann später verwirklicht wurde, setzen beide das Prinzip menschlicher Gleichheit voraus. Im alten China hatte diese Einsicht zur Folge, dass grundsätzlich jeder Mensch die Chance erhielt, sich jenes – in erster Linie philosophische – Wissen anzueignen, das ihn zur Leitung der Staatsgeschäfte qualifiziert. Die Menschen wurden als gleich von Natur gesehen, aber als ungleich von Wissen und Bildung. Nur der in den Akademien geformte Mensch erhielt Zugang zu den Posten der staatlichen Bürokratie. Es wäre den Chinesen nicht eingefallen, ungebildete Laien an die höchsten Posten des Staates zu stellen. Dieses System war keine Demokratie in unserem Sinne, aber mit aller Entschiedenheit setzte es eine naturgegebene Gleichheit aller Menschen voraus. Zweifellos war es dieser Umstand, welcher der politischen Ordnung eine in tausend Jahren nie ernsthaft in Frage gestellte Legitimation und Stabilität verschaffte.

Das unterscheidende Merkmal westlicher Demokratien

Westliche Demokratien haben den Menschen ebenfalls als gleich von Natur definiert (wobei die Unterschiede der Begabung unvorhersehbar sind und deshalb an keiner bestimmten Schicht festgemacht werden können). Über die Unterschiede der Bildung wurde hinweggesehen. Man ging davon aus, dass der Mensch schon als rein werten- und wollender das Recht und die Fähigkeit besitze, mit seiner Stimme die eigenen Vorstellungen in gültiger Weise zum Ausdruck zu bringen. Im Unterschied zum alten chinesischen System war dann allerdings damit zu rechnen, dass sowohl Wähler wie auch die von ihnen gewählten Vertreter über keinerlei Wissen und Qualifikation im Hinblick auf die richtige Lenkung des Staates verfügen. Denn jeder, sei er Professor, Analphabet, Schauspieler (USA), Boxer oder auch PornodarstellerIn (Italien), ist ja mit dem aktiven wie dem passiven Wahlrecht ausgestattet. Jeder kann zum Volksvertreter aufrücken und an die Spitze des Staates gelangen, sofern er eine ausreichende Zahl von Stimmen auf sich vereint. Die Legitimation der Volksrepräsentanten beruht einzig auf der Zahl der von ihnen gewonnenen Wähler. Ihr Wissen und Können spielt keinerlei Rolle.

Die Doppelstruktur der Herrschaft in westlichen Demokratien

Das blieb nicht ohne Folgen für die Struktur westlicher Demokratien, denn gerade die Lenkung hochkomplexer moderner Staaten setzt ein gewaltiges Expertenwissen politischer, sozialer, ökonomischer und technischer Art voraus. Unsere Demokratien kommen daher nicht ohne eine Parallelstruktur fachlich geschulter Beamten aus. Entweder gehören diese zu einer dauerhaft bestehenden Exekutivbürokratie (wie in Europa der Fall) oder jede neue Regierung sucht sich – das trifft auf die Vereinigten Staaten zu – ihre jeweils eigenen Fachleute unter den Professoren der renommiertesten Hochschulen oder führenden Köpfen aus Banken, Handel und Industrie. In beiden Fällen liegt die eigentliche Verwaltung letztlich in den Händen einer Expertenschicht, die sich zudem noch auf ein Heer von privaten Lobbyisten mit ihren privaten Interessen verlässt.

Die gewählten Volksvertreter geben nicht mehr als die Richtung vor

Die gewählten Vertreter des Volkes fungieren als Bindeglied zwischen Bürokratie und Bürgern. Im besten Fall reagieren sie mit seismographischer Sensibilität auf Befindlichkeit und Bedürfnisse ihrer Wähler. In der Doppelstruktur westlicher Demokratien tragen die Volksvertreter die Verantwortung für die Wertorientierung der Gesellschaft, während die Bürokratie mit ihrem Wissen deren Durchführung garantiert.

Demokratie: Die schlechteste aller Staatsformen mit Ausnahme aller übrigen

So etwa lautet die schöne Theorie einer auf prinzipieller Gleichheit beruhenden Demokratie – eine Theorie, die außer dem Willen der Mehrheit keine höhere Wahrheit kennt, denn alle Entschlüsse der Volksrepräsentanten sind ausschließlich dadurch legitimiert, dass sie eben von einer Mehrheit stammen. Ausgenommen von dieser Legitimation ist nur ein einziger Entschluss, nämlich jener, welcher das Mehrheitsvotum selbst in Frage stellt, indem er irgendwelche Wahrheiten oder Menschen über dieses Votum hinaushebt und damit indirekt oder indirekt gegen den Gedanken der prinzipiellen Gleichheit verstößt.

Natürlich ist es äußerst problematisch, Wahrheit bloß als Resultat einer momentanen Übereinstimmung der Meinungen zu definieren. Denn auch Mehrheiten sind nicht gegen Irrtümer gefeit, selbst nicht gegen solche, die ihre Existenz bedrohen. Wie sehr das der Fall ist, beweist gerade die deutsche Geschichte vor Mitte des vergangenen Jahrhunderts.Winston Churchill hat diese Einsicht in Form eines launigen Paradoxes auf den Punkt gebracht. Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen – mit Ausnahme aller übrigen. Dem muss man jedoch entgegenhalten, dass das Churchillsche Statement für ein Staatswesen mit mündigen, informierten Bürgern eine andere Formulierung verdient. In diesem Fall ist Demokratie sicher eine breite Allee zur Wahrheit, weil sie eher als jede andere Regierungsform in Richtung auf das Gemeinwohl führt.

Warum die Idee menschlicher Gleichheit sich so selten durchzusetzen vermochte

Die Praxis allerdings weicht ziemlich weit von der theoretischen Grundlegung demokratischer Verhältnisse ab. Macht und Ökonomie sind Faktoren, die sowohl die Idee der Gleichheit wie die der Demokratie immer aufs Neue in Frage stellen. Der Widerspruch machte sich schon sehr früh bemerkbar. In einer Agrargesellschaft – und dazu gehörten bis Mitte des 18. Jahrhunderts sämtliche Gemeinwesen, sofern sie nicht dem Handel einen Großteil ihres Wohlstands verdankten – fiel es einer kleinen Herrenschicht überaus leicht, sesshafte Bauern mit einer mobilen Soldateska dauernd in Schach zu halten, um als Parasiten von ihnen zu leben. Aufstände wurden mühelos unterdrückt und niedergeschlagen. Das Machtgefälle zwischen oben und unten war so überwältigend groß, dass schon der bloße Gedanke an menschliche Gleichheit absurd erschien. Denn selbst wenn die Herren sich einmal in einer schwierigen Lage befanden, gelang es ihnen fast immer, aus der Schicht der Beherrschten jene Söldner in das eigene Lager hinüberzuziehen, die sie dann gegen deren Brüder einzusetzen vermochten. Der klassische Feudalismus vermochte sich über Jahrtausende zu behaupten, weil die Macht stets genügend Mitläufer in der Schicht der Ohnmächtigen fand. Wirklich gefährlich waren immer nur rivalisierende Fürsten.

Mit wachsender Komplexität einer Gesellschaft steigt der Grad der Abhängigkeit zwischen Regierenden und Regierten

Ein dauerhafter Übergang zur Demokratie wurde erst möglich, als immer größere Teile der Bevölkerung ohne Beteiligung an der Macht nicht länger ruhig zu halten waren. Erst die Industriegesellschaft brachte eine so große Komplexität hervor, dass die Sabotage kleinerer Gruppen das gesamte ökonomische Räderwerk lahm legen konnte. Herrschaft allein durch Polizei- oder gar Militärgewalt ist unter solchen Umständen kaum möglich – es sei denn, dass ihr eklatanter Erfolg, z.B. ein rapide steigender Wohlstand, sie für die Mehrheit eine Zeitlang erträglich und akzeptabel macht. Das trifft auf das heutige China zu. Gilt es hingegen, schwierige Phasen ohne Wohlstandswachstum zu überstehen, dann hat eine undemokratische Herrschaft in einer modernen Gesellschaft auf Dauer kaum eine Chance. Erst eine auf breiter Mitwirkung begründete Herrschaft – also eine demokratische Verfassung – verschafft den Herrschenden die nötige Legitimation.

Teil II. Das allmähliche Sterben der demokratischen Selbstbestimmung

Damit ist aber auch schon ausgesprochen, warum Demokratie unter den Bedingungen des Neoliberalismus in akuter Gefahr ist. Immer größere Teile unserer Gesellschaft werden für den ökonomischen Prozess nicht länger gebraucht oder können sich nur dann noch weiter an ihm beteiligen, wenn sie sich zu immer geringeren Preisen verkaufen. Mit anderen Worten, sie können keine Forderungen mehr stellen, beunruhigen niemanden, wenn sie zu Streiks aufrufen. Vielmehr wird ihnen klar gemacht, dass sie mühelos ersetzbar sind oder schlicht eine überflüssige Last darstellen. Damit setzt ein Prozess der Zersetzung ein. Demokratie wird geschaffen und verfestigt, solange das ökonomische Ganze die (Mit-)Arbeit seiner einzelnen Glieder benötigt – im Idealfall die Mitarbeit aller Bürger. Demokratie wird erst geschwächt und dann demontiert, wenn immer größere Teile der Gesellschaft ökonomisch entbehrlich werden oder man ihnen mit ihrer Ersetzbarkeit drohen kann.

Die Arbeit wurde in Rom zu den Sklaven, heute wird sie nach Asien verlagert

Welche Folgen von der Marginalisierung wachsender Bevölkerungsteile ausgehen, dafür liefert das antike Rom bis heute wohl das beste Anschauungsmaterial. Schrittweise wurden in der ausgehenden Republik die noch verbliebenen Freiheiten durch nach der Zeitenwende entstandene Monarchie beseitigt. Denn mehr und mehr freie Menschen wurden für den Arbeitsprozess nicht länger gebraucht. Stattdessen wurden sie mit panem et circenses gefüttert – sprich, einem (fast) bedingungslosen Grundeinkommen, dessen einzige Anforderung darin bestand, dass die Masse der Almosenempfänger für ihren Brotherrn gegebenenfalls auf den Straßen der Hauptstadt zu demonstrieren hatte. Almosenempfänger leben, wie schon Alexis de Tocqueville bemerkte, ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung.

Damals wie heute mussten die Machthaber allerdings eine Ideologie erfinden, warum man für die Masse der freien Bürger nun keine Verwendung mehr hatte. Den Menschen wurde eingeredet, dass es einfach keine Arbeit mehr für sie gebe, also ihre Beschäftigung daher gar nicht mehr möglich sei. Das war damals eine Lüge und ist es noch heute (6). Um diese Lüge schmackhaft zu machen, wurde für Unterhaltung gesorgt. Mit Schauspielen von unmenschlicher Grausamkeit wurde die Plebs bei Laune gehalten. Das hatte noch einen weiteren Vorteil: Die gegängelten Massen sollten begreifen, dass es immer noch ein Leid und ein Unheil gab, das weit größer als ihr eigenes war (7).

Ähnlich in den Vereinigten Staaten

Auch in den Vereinigten Staaten ist der Prozess der Marginalisierung immer größerer Bevölkerungsteile inzwischen ziemlich weit fortgeschritten. Bis zum Beginn der 80er Jahre herrschte dort nahezu Vollbeschäftigung, ein starker und selbstbewusster Mittelstand war entstanden, die Stütze einer lebendigen Demokratie. Doch ganz wie in Rom die Arbeit den freien Bürgern genommen und auf die billigeren Sklaven verlagert wurde, haben die USA seit Ronald Reagan den eigenen Bürgern einen wachsenden Teil der Arbeit entzogen und ihn ins weit kostengünstigere Asien verlagert. Die Verlagerung erstreckte sich zunächst auf die einfachsten Tätigkeiten. Schuhmacher, Textilarbeiter und ähnliche Berufe waren davon betroffen. Inzwischen aber wird auch Hochtechnologie, z.B. die Flugzeuge von Boeing, weitgehend in China erzeugt. Die Verlagerung der bestehenden Arbeit hat in den USA selbst keine neue Arbeit erzeugt und konnte sie nicht erzeugen, weil überall in der Welt die Intelligenz verschiedener Bevölkerungsschichten der Gaußschen Normalverteilung gehorcht. Nimmt man den weniger Begabten jene Tätigkeiten, für die sie bestens geeignet sind, dann zerstört man ihren bisherigen Lebensstandard. Wenn sie nicht überhaupt arbeitslos werden, müssen sie sich mit fallenden Löhnen bescheiden. Es ist nun einmal eine unumstößliche Tatsache der Biologie, dass sich die ganze Bevölkerung unmöglich zu Genies, Professoren oder Erfindern ummodeln lässt!

Demokratie als bloßer Formalprozess

Die zunehmende Wahlenthaltung der US-Amerikaner ist eine Reaktion auf ihre Ausgrenzung und Entwertung. Die Menschen sind sich bewusst, dass die Auslagerung von beiden Großparteien getragen wird. Ihr eigentlicher Theoretiker gehört sogar zum Lager der demokratischen Partei. Robert Reich, ehemaliger Arbeitsminister unter Präsident Clinton, hatte in seinem Buch „Die Neue Weltwirtschaft“ dezidiert die Forderung aufgestellt, dass Waren und Güter in Zukunft überall dort hergestellt sollten, wo dies am billigsten möglich ist (8). Ob der Kostenvorteil auf technischer Überlegenheit oder schlicht auf billiger Arbeit, fehlenden Umweltstandards etc. beruhe, spielte für ihn keine Rolle. Das führende Mitglied einer Partei, die in den Vereinigten Staaten eher dem linken Lager zugezählt wird, hat sich damit zum Sprachrohr der Lobbys von Industrie und Banken gemacht, den eigentlichen Profiteuren des outsourcing.

Das Programm Robert Reichs brachte in den Vereinigten Staaten denn auch ähnliche Wirkungen hervor wie die Politik jener Handvoll führender römischer Familien, welche die freien Bürger der Arbeit beraubten, um sie auf die Sklaven zu übertragen. Sie sahen sich nun zwar gezwungen, die ersteren mit Almosen abzuspeisen, um sie nicht schlicht verhungern zu lassen, doch lag für sie darin das geringere Übel, da sie in diesem Prozess ihre eigene Macht außerordentlich zu steigern vermochten. Mehr und mehr geriet Rom in die Hände einer Plutokratie (der Herrschaft der Reichsten).

Eine ähnliche Entwicklung hat sich in unserer Zeit seit dem Aufkommen des Neoliberalismus vollzogen. Der angesehene US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky sieht in der tatsächlichen Machtstruktur der Vereinigten Staaten eine Herrschaft der Reichen: eben eine Plutokratie (9). Wir stoßen hier auf eine verblüffende, aber keinesfalls überraschende Parallele. In den USA – bis in die 70er Jahre ein Vorbild demokratischer Selbstbestimmung mit weltweiter Ausstrahlung – ist Demokratie in Gefahr zur bloßen Formalität zu erstarren. Mehr und mehr Bürger werden von der Gesellschaft nicht länger gebraucht und kehren dieser und ihren Repräsentanten desillusioniert den Rücken. In ihrer Stimmabgabe sehen sie längst keinen Sinn mehr, weil sie sich von keiner der bestehenden Parteien vertreten fühlen. Sobald amerikanische Präsidenten nur noch ein Viertel der Stimmen aller wahlberechtigten Bürger auf sich vereinen, ist aus einer lebendigen Demokratie eine bloße Hülle geworden.

Die Agenda 2010 war ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Schwächung demokratischer Selbstbestimmung

Wir sollten nicht glauben, dass Europa sich dieser Entwicklung entzogen hätte. Das sanfte Sterben der Demokratie kennzeichnet inzwischen auch die politischen Verhältnisse in Deutschland. Mit der Agenda 2010, welche die Selbstbestimmung durch die Fremdbestimmung der Märkte ablöste, hat dieser Prozess sich deutlich beschleunigt. Deutsche Löhne, Renten, Arbeitsbedingungen und überhaupt das deutsche Sozialniveau werden inzwischen weitgehend von außen diktiert (10). Wenn die Wettbewerber, vor allem die erfolgreichen asiatischen Billiganbieter, bei gleicher Qualität der Produkte die Leistungen ihres Standorts (Arbeit, Sozialausgaben etc.) zu einem Bruchteil der bei uns üblichen Kosten anbieten, muss Deutschland nachziehen, und zwar umso mehr, je stärker sein jetzt noch bestehender technologischer und innovativer Vorsprung zusammenschrumpft. Die erste Agenda zieht dann zwangsläufig eine zweite, eine dritte etc. nach sich, und zugleich zwingt Deutschland seine europäischen Nachbarn, bei dieser Politik des „race to the bottom“ Schritt zu halten, da andernfalls ihre Produkte und Industrien auf dem Weltmarkt keine Chance haben.

Kuriose Koinzidenz. Wie in den USA die Demokraten mit ihrem Cheftheoretiker Robert Reich die demokratische Selbstbestimmung durch Globalisierung ausgehöhlt haben, hat in Deutschland ein sozialdemokratischer Kanzler dieselbe Entwicklung vorangetrieben. Beide Male beruht diese Entwicklung keinesfalls auf naturgegebenen Zwängen. Die USA sind ein Kontinent, der über die besten Voraussetzungen verfügt, um mit erneuerbaren Energien autark zu werden (11) und seine Wirtschaft in Produktion und Konsum weitgehend unabhängig von der übrigen Welt zu betreiben, so wie dies zwischen dem Bürgerkrieg um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. tatsächlich der Fall war. Einzig die Gier einer kleinen Schicht von Plutokraten (in den Worten von Noam Chomsky) hat seit Beginn der 80er Jahre die amerikanische Wirtschaft in eine andere Richtung gedrängt.

Diese Feststellung trifft auch auf Europa zu. Ein vereintes Europa ist groß, reich und technologisch fortgeschritten genug, um die Bedürfnisse seiner Bürger nach dem Übergang zu erneuerbarer Energieversorgung weitgehend aus eigener Kraft zu befriedigen. Es braucht sich keiner äußeren Abhängigkeit auszuliefern und dabei die demokratische Selbstbestimmung zu opfern. Keine objektiven äußeren Zwänge haben diesen Prozess der Selbstaufgabe bewirkt, sondern einzig der Egoismus einer vom Gemeinwohl abgekoppelten ökonomischen und politischen „Elite“.

Mit dem „Fiskalpakt“ wird die Aushöhlung der Demokratie aktiv auch in Europa betrieben

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Kräfte, die diese Entwicklung so energisch befördert haben und dies auch weiterhin tun, im Kern die gleichen Motive verfolgen wie jene Handvoll Familien des antiken Rom, die in einem ähnlichen Prozess immer mehr Macht in ihren Händen vereinigten und dabei alle Selbstbestimmung der Bürger durch ihre eigene Herrschaft ersetzten. Es ist eine traurige Tatsache, dass gerade Deutschland – einst der wichtigste Fürsprecher für ein auch politisch vereintes Europa – mit seiner Politik wachsender Weltmarktabhängigkeit den auf Europa ausgehenden Druck der großen Konzerne, des großen Geldes und seiner Vertreter (der Rating-Agenturen) überhaupt erst ermöglicht hat. Durch die äußere Abhängigkeit ist eine kleine Schicht zu schwindelerregendem Reichtum und zu unverhältnismäßigem Einfluss gelangt.

Das ist inzwischen in so starkem Maße der Fall, dass Demokratie und Wohlstand der Bürger durch die neoliberale Politik der Abhängigkeit in ganz Europa gefährdet sind. Zunächst vor allem in Südeuropa, das stranguliert wird, weil ihm der Euro keine Möglichkeit zur Abwertung und damit zu einer relativ schmerzfreien Reduktion seiner Kosten gewährt. Die Strangulation wird den Südeuropäern von den Eliten verordnet, die inzwischen nichts so sehr fürchten wie das demokratische Votum in diesen Ländern. Schon in den Abstimmungen über den Vertrag von Lissabon war das Misstrauen der Eliten gegen das eigene Volk zu erkennen. Abstimmungen wurden solange abgehalten, bis man – nach gehöriger Propaganda – das zuvor beschlossene Ziel endlich erreichte. Auf dem Weg zu dieser Missachtung des demokratischen Willens stellt der sogenannte Fiskalpakt nun einen neuen Höhepunkt dar. Der Fiskalpakt ist nicht mehr und nicht weniger als eine Frontalattacke gegen die demokratische Selbstbestimmung: Er ist deren ganz und gar unsanfte Euthanasie. Doch das ist eine neue Geschichte, und diese wurde bereits auf vorzügliche Weise geschrieben (12).

Und dennoch: die Idee der Demokratie ist unausrottbar

Die Demontage der Demokratie ist eine unbestreitbare Tatsache, und sie wird sich mit Sicherheit in der näheren Zukunft noch verstärken. In weiterer Perspektive bin und bleibe ich dennoch ein Optimist. Denn, wie zu Anfang gesagt, gehört die demokratische Selbstbestimmung zu jenen Ideen, denen eine Art Unsterblichkeit eignet. Einmal in die Welt gesetzt, sind sie so unausrottbar wie die elementaren physischen Errungenschaften Feuer, Rad, Elektrizität. Irgendwann, vielleicht schon in den kommenden Jahren, vielleicht auch erst in einigen Jahrzehnten, werden sich die Menschen wieder auf ihre Rechte besinnen und sie, wenn es sein muss, erkämpfen.

1 Eine Frage, die vor dem Dogma der Ungleichheit erst ihre ganze Brisanz erhält. Es war, wie Norbert Elias sagt „die natürliche und selbstverständliche Ordnung der Welt, dass die Krieger, die Edlen Muße haben, sich zu vergnügen, und dass die anderen für sie arbeiten. Es fehlt die Identifizierung von Mensch und Mensch. Es gibt nicht einmal am Horizont dieses Lebens /im christlichen Mittelalter/ die Vorstellung, alle Menschen seien »gleich«.“ Denn „so hat Gott die Welt geschaffen, die einen sind Herren, die anderen sind Knechte“ (Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 289, 294).

2 Als Antwort auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte schrieb Pius VI. am 10. März 1791: „Kann man etwas Unsinnigeres ausdenken als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?“.

3 Zu diesen Ausnahmen gehören Lykophron und Alkidamas. In Messeniakos, einer Rede für die von Epameinondas in Messenien angesiedelten spartanischen Heloten, sagt Alkidamas „Gott hat alle Menschen freigelassen; die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht.“ Alkidamas Ausspruch ist aber nur über eine Randbemerkung, ein so genanntes Scholion, zu Aristoteles` Rhetorik (I 13 S. 1373b 18) überliefert. Hierzu auch Brockmeyer, Sklaverei, S. 6.

4 Attika war um 431 v. Chr. von etwa 315 000 Menschen besiedelt (Fernand Braudel, Mémoires, S. 398). Von diesen gehörten nur etwas mehr als der zehnte Teil (40 000) zu den freien Bürgern, die übrigen neun Zehntel waren in Attika selbst angesiedelte, weitgehend rechtlose Ausländer oder Sklaven, wobei die Zahl der letzteren mindestens 200 000 betragen hat (hier handelt es sich um Schätzungen, vgl. Brockmeyer, Sklaverei, S. 115). Ähnliche Zustände treffen in unserer Zeit auf die Vereinigten Emirate zu, auch wenn es dort in formalem Sinn natürlich keine Sklaven gibt..

5 Hier sind die Arbeiten Max Webers immer noch grundlegend (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie).

6 Hierzu mein Aufsatz Uns geht die Arbeit aus!! Geht uns die Arbeit aus?

7 Die theoretisch allzu blauäugigen, geschichtlich allzu blinden Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens sollten sich genau überlegen, ob sie wirklich eine Gesellschaft wollen, die sie zum entbehrlichen Spielmaterial einer Oligarchie degradiert.

8 Robert Reich: The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st Century Capitalism.

9 Noam Chomsky, The Prosperous Few and the Restless Many, 1993; S. 67. Vgl. auch Michael Lind, The Next American Nation. S. 312. „The American campaign finance system could not work better if it had been deliberately designed to ensure government of the rich, by the rich, and for the rich.“ Hierzu Der Spiegel (09/48. S. 83): „Wenn man die USA mit der gleichen analytischen Kühle wie Russland betrachten würde“, so der amerikanische Ökonom James Galbraith, „würde man nicht umhin kommen, von der Herrschaft eines Oligopols aus Politikern und Bankern zu sprechen. Die Mächtigen an der Wall Street und in Washington seien nicht weniger eng verflochten als Premier Wladimir Putin und die Magnaten des russischen Rohstoffimperiums.“

10 Hierzu vgl. mein Buch: Von der Krise ins Chaos.

11 Die »Union of Concerned Scientists«, eine Vereinigung von mehr als 100 000 amerikanischen Wissenschaftlern, darunter vielen Nobelpreisträgern, hatte schon 1979 eine Studie veröffentlicht, in der die vollständige Umstellung der US-amerikanischen Energieversorgung auf erneuerbare Quellen bis zum Jahr 2050 empfohlen und im Detail dargestellt wurde (Kendall u.a., Energy Strategies).

12 Vgl. Lukas Oberndorfer, Fiskalpakt – ein weiterer Schritt in Richtung Entdemokratisierung. Vgl. auch den am 25. März 2012 in der Welt anonym erschienenen, besonders aufschlussreichen Artikel: Ein Staat ohne Legitimation.