Mücken- und Männerfallen

Ich gebe zu, dass ich Gesine K., diese inzwischen bei einigen berühmte, bei anderen berüchtigte Person, anfangs für sympathisch hielt, sympathisch im Hinblick auf ihre zweifellos sehr anziehende physische Erscheinung. Jedenfalls bringt sie alle Voraussetzungen mit, um auf eine bekanntermaßen für oberflächliche physische Reize überaus empfängliche Männerwelt wie ein Magnet zu wirken. Ihr Busen ist von ausladender, um nicht zu sagen einladender Gestalt, ihre Haare machen mit einem strahlenden Hellblond schon aus der Entfernung von sich reden, und ihr helles Lachen, das zugegeben manchmal recht spöttisch klingt, stellt eine Herausforderung für jeden brunstgetriebenen Vertreter unseres in dieser Hinsicht leider sehr anfälligen, ja, überhaupt schwachen Geschlechtes dar. Anders gesagt ist Gesine K. ein natürlicher Anziehungspunkt für abenteuernde Männer – und davon gibt es bekanntlich eine unabsehbare Menge zumal in unseren unübersichtlichen Städten, wo die Jagd auf paarungswillige Vertreter des fremden und heute sogar selbst des eigenen Geschlechts immer schon zu den beliebtesten Sportarten gehört.

Der Verteidiger der dreizehn Männer – klägliche Klumpen, die da auf der Anklagebank mit hängenden Köpfen vor dem Richter sitzen, nur zwei von ihnen halten den Rücken gestreckt, was auf Aufsässigkeit schließen lässt – der Verteidiger dieser Männer hat gleich zu Beginn den tieferen Grund für die gleichbleibende Hingabe an den urbanen Sport benannt. „Herr Vorsitzender, Ihnen und den beisitzenden Schöffen, von dem anwesenden gebildeten Publikum ganz zu schweigen, brauche ich nicht zu erklären, dass die armen Männer zu meiner Rechten, die den körperlichen Reizen der angeblich Geschädigten leider zum Opfer fielen, bei ihrem Vorgehen keineswegs der kühlen, abwägenden Ratio folgten. Im traulichen Umgang zwischen Mann und Frau, dürfte das, wenn einmal die Hüllen bei beiden gefallen sind, wohl kaum jemals möglich sein. Jeder, der die Natur mit den Augen des unparteiischen Wissenschaftlers studiert, weiß, dass der natürliche Fortpflanzungstrieb die Männer in solchen Momenten herrisch und unbezwingbar an seinem Gängelband führt. Aus wissenschaftlicher Sicht können wir meinen Mandanten daher auch keinerlei moralische Schuld zuschreiben. In Momenten der elementaren und naturverhängten Erregung ist der Mann nicht mehr zurechnungsfähig, blindlings folgt er nur dem in seinen Genen verankerten und von der Evolution ihm aufgeprägten Programm. Die klagende Partei, Frau Gesine Kuddel, macht ja nicht einmal ein Hehl daraus, dass sie die biologische Schwäche meiner Mandanten bewusst und erbarmungslos ausgenutzt hat. Es bereitete ihr offenbar ein Vergnügen – ich möchte, Herr Vorsitzender, von einem unerhörten und geradezu teuflischen Vergnügen sprechen – die Männer mit ihren Reizen erst einmal anzulocken, um sie anschließend als Straftäter zu denunzieren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang einen drastischen Vergleich. Sie alle kennen die Geräte mit bläulichem Licht, die wir an heißen Tagen aufstellen, um uns vor den Gelsen und ihren Stichen zu schützen. Diese Geräte bezeichnen wir ihrem Zwecke gemäß als Mückenfallen. Was hat die Klägerin getan? Mit ihrem ganzen bösartigen Treiben hat sie danach getrachtet, zu einer wandelnden Männerfalle zu werden. Im Namen meiner vor Ihnen sitzenden, gedemütigten, verspotteten und völlig zu Unrecht verfolgten Klienten rufe ich dazu auf, die Anklage fallen zu lassen. Nein, ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und fordere das Gericht dazu auf, die Klägerin selbst wegen bewusster Irreführung vor ein Tribunal zu stellen.

Natürlich bestand die Reaktion auf diese unerhörte Aufforderung in einem Sturm des Protestes. Nicht nur das in der Mehrzahl weibliche Publikum, sondern auch viele Männer zeigten sich empört über die Einlassung der Verteidigung. Was mich betrifft, so wohne ich dieser Verhandlung von Anfang an mit gemischten Gefühlen bei. Ich sagte schon, die Frau ist auch mir auf Anhieb sympathisch. Diesen ausladenden Kurven, diesem strahlende Haar und – als der Richter sie in den Zeugenstand rief – diesem hell aufklingenden und dazu noch ziemlich dreisten und spöttischen Lachen war nur schwer zu widerstehen. Ich bin mir nicht so sicher, dass ich nicht auch unter den armen Teufeln da auf der Bank vor dem Richter hätte enden können. Der Fortpflanzungstrieb, da hat der Verteidiger aus wissenschaftlicher Sicht doch vollkommen recht, verdunkelt die kühle Ratio sozusagen im Handumdrehen. Angenommen der Würfel spielende Knabe dort oben hinter den Wolken hätte es so gewollt, ja, dann wäre vielleicht dasselbe Unglück vielleicht auch mir zugestoßen. Auch der etwas drastische Vergleich des Verteidigers leuchtet mir ein, obwohl er natürlich etwas weit hergeholt ist. Aber meine Gedanken sind dann gleich bei den Gelsen hängengeblieben. Ich stelle mir vor, dass auch sie sich nur deswegen in die auf sie harrende Flamme stürzen, vielleicht sogar mit einem Halleluja stürzen, weil der Trieb nach dem Licht ihnen nun einmal in die Gene eingepflanzt ist. Wenn sie blindlings auf die Strahlen zusteuern, dann tun sie es vermutlich, weil ihr kleines, armes Gelsenhirn von der boshaften Evolution falsch programmiert worden ist. Während sie der Wahn umfängt, in diesem vor ihnen aufflammenden Augenblick das Paradies zu erlangen: Erleuchtung und endgültige Erlösung, erwartet sie in Wahrheit der Tod auf einem menschenersonnenen Scheiterhaufen. Und, bitte schön, hat die Klägerin Gesine K. mit den Männern nicht ganz dasselbe angestellt? Den männlichen Teil der am höchsten entwickelten Spezies auf dem Globus, den homo sapiens, hat sie mit boshaftem Bedacht zu ihrer Beute erwählt, indem sie den eigenen Körper zu einer verzehrenden Flamme macht.

Nun, die Gelsen gehen uns hier weiter nichts an, da hält sich unsere Sympathie in Grenzen, aber die vielen jungen Männer da vorn auf der Anklagebank, die gehen uns schon etwas an. Selbst dieser, zweifellos etwas drastische und vielleicht sogar weit hergeholte Vergleich geht noch immer zu Gunsten der Gelsen aus. Diese, so wissen wir, stillen immerhin den eigenen Nahrungsbedarf, wenn sie uns gierig umsummen und schließlich stechen. So wenig wir ihre Neigung schätzen, vorzugsweise unsere Art zu ihrer Beute zu machen, können wir ihr Vorgehen doch nicht wirklich verdammen, ich meine aus objektiv-wissenschaftlicher Sicht. Jeder Einwohner unseres Globus hat schließlich das gleiche Recht, seinen Hunger zu stillen. Aber Gesine K. hat eben durchaus keinen Hunger gestillt. Diese Frau kann sich zu ihrer Entschuldigung nicht einmal auf die Befriedigung ihres Sexualdrangs berufen. Sie war keine Hungrige, keine Genießende, die man um das Recht eines legitimen Genusses betrogen hat. Frau K. hat die Männer nur bei sich empfangen, um sie von einer in einem Winkel der Decke verborgenen Videokamera ablichten und als Vergewaltiger überführen zu lassen. Sie ist kein Opfer, sondern eine eiskalte Täterin.

So jedenfalls hört man es aus dem Munde des Verteidigers. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, obwohl ihm aus dem Publikum ein unwilliges Murmeln und manchmal sogar empörte Zwischenrufe entgegenschallen. Der Staatsanwalt ist bei diesen Worten sogar von seinem Sitz aufgesprungen, um einen Einspruch vorzubringen.

Herr Vorsitzender, mit aller Schärfe protestiere ich gegen eine so unverfrorene Verdrehung von Recht und Unrecht, obwohl und gerade, weil ich sie mir aus dem Munde eines Kollegen anhören muss. Frau K. ist eine unbescholtene junge Frau, die wie jede andere das Bedürfnis nach Freundschaft und menschlicher Wärme hat. Wer von uns darf sich anmaßen, ihr dieses Menschenrecht abzusprechen? Müssen wir in ihr nicht ein Vorbild für alle Frauen sehen, da sie sich auch noch in dem intimen Zusammentreffen mit dem männlichen Geschlecht als gleichberechtigte Partnerin sieht, deren Willen ein Mann zu achten und zu respektieren hat? Wer darf es heute noch wagen, in unserer endlich aufgeklärten Zeit, sich so unbeherrscht zu verhalten wie sonst nur die uns weit untergeordneten Kreaturen: Katzen, Hunde und Schweine? Sprechen wir es doch ohne jede Beschönigung aus: diese Männer hier auf der Anklagebank, sind Schmach und Schande für Sapiens, da sie sich unter Anwendung von brutaler Gewalt über den erklärten Willen einer ehrbaren jungen Frau hinweggesetzt haben. Haben sich etwa anders verhalten als Katzen, Hunde und Schweine? Der heutige Prozess, verehrter Herr Vorsitzender, muss die Weichen stellen, damit es solchen Fehlexemplaren unserer Art in Zukunft nie wieder einfallen wird, die offen bekundeten Rechte einer Frau mit Füßen zu treten.

Bei diesen Worten weht ein Murmeln der Zustimmung durch die Reihen des Publikums. Der reichlich dürre, aber sehr agile Verteidiger springt nun aber voller Erregung von seinem Sitz. Er verbeugt sich vor dem Richter, dann sagt er mit auffallend leiser, aber umso eindringlicherer Stimme.

Der Herr Staatsanwalt gefällt sich darin, alle ihm liebgewordenen Eulen wieder einmal nach Athen zu tragen. Wer von uns lebt denn noch im Mittelalter, als man die Rechte der Frau noch mit Füßen treten durfte? Begreift er denn nicht, dass uns der vorliegende Fall mit einer völlig veränderten Situation konfrontiert? Hier werden die Rechte meiner Mandanten, die Rechte des Mannes, auf unerhörte Weise geschmälert. Der Mann und nicht die Frau ist hier das wirkliche Opfer. Doch davor schließt mein werter Kollege, der Vertreter des Staates, beflissen die Augen. Für ihn ist Frau K. eine wiedergeborene Jeanne d’Arc, die aufs Neue gekommen ist, aber diesmal, um die Frauen vor den sie angeblich brutal verfolgenden Männern zu schützen. Hier wird #Metoo zelebriert, aber in pervertierter Form, denn Frau K. hat die hier sitzenden Männer bewusst und absichtlich in eine Falle gelockt, um sie vor der Öffentlichkeit als Narren und Gewalttäter hinzustellen. Frau K. hat die Männer, alle Männer ohne Unterschied, hat zu ihren Feinden erklärt.

Bitte, zähmen sie ihr Murren und ihre Missfallensäußerungen,“ wehrt der Verteidiger die Stimmen aus dem Publikum ab. „Es kann dem hohen Gericht unmöglich entgangen sein, dass die Männer, Männer an und für sich, für diese Frau nicht nur Gegenstand der Abneigung, sondern der Verachtung und einer kaum verhehlten Rachsucht sind. Mein verehrter Amtskollege neigt zu philosophischen Abstraktionen, da fallen ihm die „Kleinigkeiten“ ihres Vorgehens offenbar nicht auf. Aber, bitte, gehen wir doch jetzt einmal bewusst ins Detail, auch wenn dieses leider reichlich abgeschmackt ist und auch nur einem erwachsenen Publikum zumutbar. Dieses Detail hat mein philosophierender Amtsbruder mit großem Bedacht ausgespart, vermutlich weil es zu tief unter seinem Niveau liegt, aber das Vorgehen der Frau K. ist ja an und für sich schon unter allem Niveau. Das sollten wir uns bei dieser Gelegenheit einmal eingestehen. Sie wissen, dass das besagte Detail aus einer Tätowierung besteht, die sich auf ihrem Bauch befindet, und zwar nur wenige Zentimeter oberhalb jener Körperöffnung der Dame, welche in Kreisen des Rotlichtmilieus als „Freudentor“ oder „Himmelspforte“ bezeichnet wird. Tätowierungen sind, wie wir alle wissen, inzwischen zu einer wild wuchernden Mode geworden, die wie ein Aussatz oder Schimmel alle Teile des humanen Körpers befällt. Man kann unsere Strände und Ufer in der Sommerzeit schon nicht mehr besuchen, weil die durch Tätowierung verhunzten Körper sie optisch genauso entstellen wie es die meisten unserer immer hässlicheren Städte mit der Landschaft tun. Sehr selten, dass unter all diesen abgeschmackten Kitschbildern oder widerwärtigen Kritzeleien auf der menschlichen Körperhaut hier und da auch einmal ein gelungenes Bild unseren Beifall findet – so wie unter den Städten leuchtende Ausnahmen in der Art von Rom oder Venedig. Meist erleben wir nur, wie der Selbsthass des modernen Menschen auf diese Weise gegen den eigenen Körper tobt und die Menschen, die sich früher einmal als Ebenbild Gottes sahen, zu Karikaturen des Teufels macht.

Da fällt der Richter dem allzu eifrigen Verteidiger ins Wort. „Ich möchte den Herrn Kollegen dringend ersuchen, streng bei der Sache zu bleiben. Ich sehe nicht, welchen Beitrag seine persönliche Einstellung zu einer heute beliebten Praxis der Körpergestaltung zu dem vorliegenden Prozess liefern kann.“

Sehr wohl, sehr wohl, Herr Vorsitzender, beeilt sich der Verteidiger zu versichern. Aber die Frage muss doch wohl erlaubt sein, ob eine Frau zu einer lebenden Falle für nichtsahnende Männer werden darf, zu einer wandelnden Mückenfalle, wie man auch sagen kann, an der sich die Männer heillos verbrennen, weil man sie hier unschuldig vor den Kadi zerrt?

Ich bitte darum, dass wir uns endlich dem entscheidenden Detail zuwenden, nämlich dem inkriminierenden Foto, damit über diesen Punkt keine Unklarheiten bestehen. Wie dem Gerichte bekannt, kursiert es längst in den sozialen Medien, und zwar wurde es von Frau Gesine K. selbst veröffentlicht, offenbar weil sie damit eine Gefolgschaft von gleichgesinnten Frauen um sich scharen will. Aha, gut so, es wurde gerade an die Wand geworfen.“

Natürlich, dieses Foto kennen die meisten Leute aus dem Publikum vermutlich genauso wie ich. Der Verteidiger hat ja Recht. Dieses angebliche Detail bleibt doch das Alpha und Omega des Skandals. Nun also wird es auch in diesem hohen Haus präsentiert und erhält damit den Status eines offiziellen Dokuments. Das Bild ist an und für sich verwirrend. Der Anblick eines nackten oder doch beinahe vollständig nackten weiblichen Körpers in einem wohl nicht aus bloßem Jux „ordentlich“ genannten Gericht ist an sich schon eine moralische Zumutung, da es den Ernst des Hauses infragestellt. Wie zu erwarten, wurde dagegen schon vorher von kirchlicher Seite Einspruch erhoben, aber auch von den Medien, die zwar gewöhnlich keine moralischen Hemmungen kennen, aber diese immer dann gerne für sich entdecken, wenn sich ihre Missachtung in eine Anklage ummünzen lässt. Das Publikum war jedenfalls schockiert, als dieses Foto in den sozialen Medien kursierte. In kirchlichen Kreisen sprach man von einem Rückfall in spätrömische Dekadenz.

Was also bekam man zuvor auf Facebook und was bekommt das Publikum hier im Gerichtssaal zu sehen, ein Publikum, das dem aufsehenerregenden Prozess entweder aus unstillbarer Neugierde beiwohnt oder – wie die Vertreter der Medien – aus professioneller Sensationslüsternheit? Sie bekommen dasselbe zu sehen wie die jungen Männer, welche in der netten und abgeschiedenen Dachwohnung von Gesine K. in die „Mückenfalle“ getappt sind und keinen Moment auch nur ahnten, dass sie sich darin furchtbar verbrennen würden. Nein, ein kleiner, aber unscheinbarer Unterschied zu dem originalen Erlebnis ist doch zu vermerken. Der Bikini, den die junge Frau auf dem Foto wohlweislich wählt, um mit dem Recht nicht in Konflikt zu geraten, ist so gemacht, dass er oben lediglich die Brustwarzen bedeckt, am Unterleib aber nur Eingang und Ausgang notdürftig verhüllt, also eigentlich gar nichts. Der Körper der jungen Gesine, ein durchaus schöner und Appetit anregender junger Leib, bietet sich dem Auge des Publikums fast, aber eben nur fast, hüllenlos dar. So ist die Wirkung denn auch unmittelbar spürbar. Nach dem ersten Aufscheinen des Bildes auf der großen Leinwand im Rücken des Richters tritt sekundenlang eine Art von ehrfürchtigem, beinahe sakral zu nennendem Schweigen ein. Ich glaube – aber das bilde ich mir vielleicht auch nur ein – irgendwo aus den hinteren Rängen sogar ein bewunderndes Ah! erlauscht zu haben. Jedenfalls hege ich den Verdacht, dass die wenigsten der im Publikum verstreuten Männer, von denen ja jeder unter dem stets lauernden Fortpflanzungstrieb zu leiden hat, sich ernsthaft der magnetischen Anziehungskraft dieser schönen Nacktheit widersetzt haben würden.

Oder wie würdet ihr dieses momentane Schweigen, dieses unmerkliche Schlucken und diese seltsame Andacht sonst verstehen? Tatsache ist, dass ein solcher Anblick den Homo sapiens, der angeblich nur der kühlen Vernunft vertraut, für einen Augenblick in einen Homo concupitans verwandelt, d.h. in ein Wesen, das sich nur zu bereitwillig von seinen niedrigen Begierden überwältigen lässt. Nein, nicht überwältigen. Das wäre zu viel gesagt. Die Männer im Publikum schluckten zwar, aber sie bewahrten doch äußerlich den Anstand, gaben sich jedenfalls alle Mühe, etwaige unerlaubte Regungen zu unterdrücken. Einige der anwesenden Frauen aber haben, da sie ja viel feinfühliger sind als wir, die seelisch so grob konstruierten Männer, sehr wohl erkannt, was da in dem Inneren der Männer gerade passiert. Man hört ein lautes Schwatzen von ihrer Seite. Sie wollen die Männer gewaltsam dem Bann entreißen, Frauen fürchten spontan die Faszination vonseiten einer Konkurrentin, zumal wenn sie derart verlockend ist. Angesichts des weiblichen Stimmengewirrs sieht sich der Richter sogar gezwungen, zur Stille zu mahnen.

Was mich betrifft, so gebe ich zu, mich manchmal nicht nur für mich selbst, sondern für alle meine Geschlechtsgenossen zu schämen. Es gibt doch Tausende von Beschäftigungen, die uns den kühlen Kopf nicht erhitzen, geschweige denn ihn derart verdrehen, dass wir dabei unversehens auf derselben Stufe wie Hund, Schwein oder Katze stehen. Dass Kater und Rüden keinem Weibchen über den Weg laufen können, ohne dass die in ihrem Hirn zirkulierenden Geschlechtshormone dort wilde Tänze auslösen, das ist ebenso bekannt wie begreiflich, aber wir Menschen – auch wir Männer – haben doch so viele Beschäftigungen der edelsten Art für uns erfunden, um damit meilenweit über die archaische Ebene der elementaren Triebbefriedigung hinauszugelangen. Ich denke zum Beispiel an die Lösung mathematischer Gleichungen, die das menschliche Hirn in eine Art von Nirvana versetzt, weit entfernt von den primitiven Regungen des Gefühls, aber es muss nicht gleich so hochintellektuell und intelligent sein, was wir da tun. Auch ein brotbackender Bäcker, ein postliefernder Beamter, ja selbst ein Polizist, der pflichtbewusst seinen Amtes waltet, befindet sich auf einer höheren Ebene menschlicher Existenz weit jenseits der elementaren Triebe. Und zu alledem kommt noch die inzwischen wissenschaftlich erwiesene Wahrheit, dass der niedere Trieb unserer Geschlechtsorgane inzwischen zu einer Bedrohung für den gesamten Globus geworden ist. Der heillose Zeugungswille des maskulinen Teils unserer Art hat uns eine überschießende Produktion der eigenen Gattung beschert, die eben deshalb in kürzester Zeit auf den erdrückenden und längst nicht mehr nachhaltigen Wert von acht Milliarden in die Höhe schoss. So gesehen, halte ich dieses andächtige Schlucken der Männer angesichts des beinahe vollständig nackten Körpers von Frau K. für eine Gefahr – und nicht etwa nur für eine an sich begreifliche und entschuldbare Reaktion. Wir sollten uns, so meine ich, ernsthaft die Frage stellen, ob der Geschlechtstrieb nicht einfach heillos altmodisch und unzeitgemäß ist. Leider wurde diese gewichtige Frage in dem Prozess vollständig ausgeklammert. Stattdessen haben sich Verteidiger und Staatsanwalt nur mit der Tätowierung eben über dem „Eingang“ der Gesine K. beschäftigt und mit der darin enthaltenen Botschaft, wohlgemerkt einer Botschaft. Denn wir wissen ja, es ist kein Bild, das sich den liebestollen Männer dort offenbarte, sondern eine aus fünf Worten bestehende Warnung.

Manche behaupten – und der Herr Verteidiger hat aus begreiflichem Interesse auch genau diese Auffassung in aller Schärfe vertreten – dass Frau K. die bewusste Tätowierung zwischen Bauchnabel und dem darunterliegenden, durch das kaum fingerdicke Band des Bikinis nur eben verdeckten „Freudentor“, dass also dieser bewusste Schriftzug, der bekanntlich den eigentlichen Skandal des ganzen Prozesses ausmacht und aufgrund seiner Veröffentlichung in den sozialen Medien schon zuvor einen begreiflichen Tumult in der Öffentlichkeit erregte, dass diese Tätowierung von der jungen Frau mit unverhohlen tückischer Absicht erdacht und auf die aprikosenweiche Haut aufgetragen worden sei. Ich neige dieser Ansicht gleichfalls zu, auch das Schöffengericht war offenbar dieser Ansicht – genau hier liegt für mich der Grund, warum mir diese Frau trotz ihrer offenkundigen körperlichen Reize doch am Ende sehr unsympathisch geworden ist.

Aber das ist meine ganz persönliche Meinung, ich hüte mich, auch nur ein einziges persönliches Wort über den Fall K. hinzuzufügen, denn jeder weiß ja, wie hoch die Wogen des öffentlichen Streits inzwischen schlagen. Auf der extrem-rechten Seite schreit man Zeter und Mordio, es herrscht Empörung, dass Frau K. nur zu einem einzigen Jahr, und noch dazu auf Bewährung, verurteilt wurde. Sie hätte, so die Vertreter aus dem rechtsäußeren Milieu, nicht weniger als ein „lebenslänglich“ verdient, da sie den weißen Mann in seinem naturgewollten Drang nach Vermehrung beschädigt und damit in seiner Würde und Ehre beleidigt habe. Gesine K. sei eine Schande für die eigene »Rasse“, so drückt man sich dort wörtlich aus. Diese Ausbrüche und Parolen des Hasses konnten ihre Wirkung nicht verfehlen. Inzwischen wurde die junge Frau unter Polizeischutz gestellt, da sie von kahlköpfigen Schlägern mehrfach auf offener Straße verfolgt und angepöbelt wurde. Es wird gemunkelt, dass sie sich gerade freiwillig einer Gesichtsoperation unterzieht, um unter neuem Namen irgendwo auf der Welt eine ebenso neue und dann auch völlig unbekannte Existenz zu beginnen. Was dabei aus der so berühmt-berüchtigten Inschrift auf ihrem Bauche wird, diese Frage beschäftigt die Leute so sehr, dass sie mittlerweile sogar in der sogenannten Qualitätspresse den Gegenstand erregter Diskussionen abgibt. Ein Gesicht kann man zur Not durch ein anderes ersetzen, so heißt es, aber was macht man mit einem ganzen Bauch?

Ich sagte gerade, aber ohne mich selbst in dieser heiklen Angelegenheit zu exponieren – Polizeischutz ist wahrlich das Letzte, wonach ich suche – dass die Inschrift über die Grenzen unseres Landes hinaus, zu einem berühmt-berüchtigten Slogan wurde. Berüchtigt bei den Vertretern des rechten Lagers, wurde sie umgekehrt berühmt und tausendfach nachgebetet im Lager der Linken, die darin nicht weniger als das Kennwort und den Auftakt für eine neue Ära erblickt. Bei ihnen hat die besagte Inschrift sozusagen Flügel bekommen; ursprünglich nur sichtbar auf dem aprikosenweichen Bauch einer Frau mit gefälligen Kurven, hellblondem Haar und spöttischem Lachen, findet man diese mahnenden Worte jetzt überall, wo linke Gesinnung sich öffentlich manifestiert, also über privaten Schulen, Parteilokalen, karitativen Organisationen und einer Reihe von philanthropischen Organisationen. Dabei hat die Inschrift in kurzer Zeit einen bemerkenswerten Prozess der Sublimierung durchlaufen – sehr bemerkenswert zweifellos, aber vielleicht nicht weiter verwunderlich. Pinseln nicht selbst Frauen aus den höchsten Kreisen ihre Lippen unbekümmert in grellen Farben, obwohl dies einmal ein Vorrecht ihrer damals verachteten Geschlechtsgenossinnen, der sogenannten Freudenweiber, war? Da braucht es nicht zu überraschen, dass die ursprünglich so verfängliche Bedeutung des Wortes „Eintritt“ aus der besagten Inschrift inzwischen nur noch den Kennern bewusst ist. Du betrittst beispielsweise ein Versammlungslokal von linker Gesinnung und wirfst dabei einen flüchtigen Blick auf die nachts hell erleuchteten Neonlettern, wo jene Botschaft zu lesen ist: „Eintritt nur nach Erlaubnis in schriftlicher Form“.

Das ist fades Amtsdeutsch, nichts weiter und noch dazu absolut jugendfrei. Dem intellektuell unbedarften oder wenig informierten Durchschnittsbürger unserer Tage fällt dazu nichts weiter ein, als dass er bei seinem Eintritt ein Ticket kaufen soll oder eine Bescheinigung vonseiten des Türstehers braucht. Nur die Kenner wissen, dass diese Worte einst auf dem Bauche einer jungen Frau prangten, die körperlich so anziehend war, dass eine Reihe von Männern dem elementaren Druck des ihnen angeborenen Fortpflanzungstriebs im Beisein der nackten Frau nicht widerstehen konnten. Statt ordnungsgemäß eine schriftliche Erlaubnis vor Vollziehung des Aktes einzuholen, wie da deutlich genug in unmissverständlichem Bürodeutsch von ihnen verlangt, haben sie sich besinnungslos auf ihr Opfer gestürzt. War der Verteidiger nicht im Recht, wenn er bemerkte, dass diese Besinnungslosigkeit von Frau K. auf eine geradezu heimtückische Art noch dadurch gefördert wurde, dass die Tätowierung üppigen Gebrauch von den farbfrohen Lichtern des Regenbogens macht? Da folgt ein azurblauer, auf einen karmesinroten und dieser auf einen Buchstaben in hellem Sonnengelb. Wer wird eine Mahnung beherzigen, die so bunt, ja geradezu verlockend in Erscheinung tritt? Frau K. sei, so der Verteidiger, das Urbild aller Männerfallen.

Was soll ich, ein einfacher Berichterstatter, dazu sagen? All den bedrängenden und vielfach verworrenen Herausforderungen unserer modernen Epoche fühle ich mich kaum noch gewachsen. Der Fall Gesine K. hat bei mir am Ende nur Ratlosigkeit hinterlassen. Ist der Verteidiger im Recht, wenn er sein Plädoyer für die dreizehn kümmerlichen Gestalten auf der Anklagebank mit der Vision zu krönen versuchte, dass unsere Zeit reif dafür sei, den unseligen Sexualtrieb als das zu erkennen, was er in Wahrheit ist: ein Relikt aus unserer tierischen Vergangenheit, dessen man sich endlich einmal ganz entledigen soll? Dann würden, so sagte er, die Männer nicht länger zu Opfern werden und Frauen zu lebenden Fallen. Die uns in vieler Hinsicht weit vorauseilenden Amerikaner hätten uns längst die einzuschlagende Richtung angezeigt. Jeden Geschäftsabschluss würden sie, so schloss er seine zukunftsweisende Rede, mit seitenlangen Verträgen und riesigen Massen an höchst verfänglichem Kleingedruckten absichern. Sollte es da nicht eine Selbstverständlichkeit sein, auch das größte Geschäft überhaupt, die intime Beziehung zwischen den Geschlechtern, mit noch viel größerer Sorgfalt und Akribie bis in kleinste Detail zu planen, um den furchtbaren Verwicklungen vorzubeugen, die immer noch dadurch entstehen, dass Männer sich besinnungslos auf die Frauen stürzen, während Frauen ihrerseits die Männer mit keckem Lachen, hellblonden Haaren und wogendem Busen derart um Vernunft und Beherrschung bringen, dass selbst eine Inschrift in strengem Bürodeutsch sie nicht von ihrem verbrecherischen Tun abzuhalten vermag?

Der Verteidiger hatte an diesem Punkt eine Pause eingelegt, eine Kunstpause sozusagen, wobei er sein Gesicht nicht dem Richter, sondern ganz kurz dem Kollegen zuwandte. Natürlich ging es ihm darum, den Richter und nicht zuletzt auch das Publikum für seine Darstellung des Falls zu gewinnen. So erkläre ich mir, dass er jetzt, am Ende seines Plädoyers, in einen schwärmerischen Ton verfiel. An dieser Stelle, so fuhr er fort, aber auch wirklich nur hier, müsse er ausnahmsweise sogar seinem Kollegen, dem Vertreter der Anklage, aufrichtigen Beifall zollen. Ja, die Inschrift auf dem Bauche der Gesine K. sei eine Botschaft, aber anders als der Herr Staatsanwalt sie versteht. Er, als Vertreter der Opfer, könne sich eine Zukunft vorstellen, wo es keine unschuldig Angeklagten und keine schuldigen Kläger mehr geben wird. „Ich habe die kommende Generation vor Augen. Schon der junge Erdenbürger wird vollständig aufgeklärt sein und bereits in der Schule einen Notizblock mit sich tragen, um vor jedem verliebten Blick und natürlich vor jedem Kuss die verehrte Person um schriftliche Erlaubnis zu erbitten. #Metoo gehört dann endgültig der Vergangenheit an und die Geschlechter werden in Harmonie und Frieden leben.“ Mit diesem hoffnungsfrohen Blick auf die Zukunft beendete der Verteidiger seine Rede.

Darüber sinne ich nach, während ich das Gerichtsgebäude verlassen. Da sehe ich mich plötzlich auf dem Rückweg von der Schule, die rothaarige Susi an meiner Seite. Gleich kommt die Hecke, die uns vor neugierigen Blicken schützt. Das ist die Gelegenheit. Ich habe mir fest vorgenommen, sie gleich hinter der Hecke zu küssen, aber nun ziehe ich natürlich erst einmal meinen kleinen Block aus der Tasche. Er trägt eine Goldumrandung, die einzelnen Seiten sind sehr schön hellgrün gefärbt. Meine Eltern haben das schönste Exemplar für mich ausgesucht. Ich mag die rothaarige Susi wirklich sehr, flüsternd und bebend bitte ich sie um ihre Unterschrift. Da schaut sie mich aus ihren großen Augen an. Dann prustet sie los und mir unbeherrscht direkt ins Gesicht. „Du Feigling“ zischt sie, und mein Herz plumpst mir im selben Moment in die Hosen, weil ich weiß, dass mich am nächsten Morgen die ganze Klasse verspotten wird.

Ist das die Zukunft, die man uns jetzt verspricht? O tempores, o mores, es wird mit jedem Tag schwerer, ein Mensch zu sein.