In Rom ging die Freiheit unter. Wie steht es um die Freiheit in den USA?

Ihren Aufstieg verdankte die Weltmacht Rom einer frugal lebenden, opferbereiten Bauernschaft, die außer dem Ältesten, der den Hof übernahm, die anderen Söhne in den Heerdienst schickte. Zu Beginn seiner Entwicklung konnte Rom sich eines großen Kinderreichtums rühmen. Der war die demographische Grundlage für seine erstaunliche Expansion. Doch die imperialen Erfolge, zumal der Sieg über Karthago, der den Römern den Norden Afrikas als Kornkammer erschloss, schwächte den italischen Bauernstand. Gegen die ausländische Billigkonkurrenz vermochte sich dieser schon bald nicht mehr zu behaupten. Dagegen verdankten die etwa zweihundert führenden römischen Familien ihre schwindelhaften Reichtümer gerade der Tatsache, dass sie die Versorgungsbasis auf Kosten ihrer Landsleute ausgelagert hatten. Zur gleichen Zeit errichteten sie einen militärisch-industriellen Komplex, um ihre Herrschaft nicht nur in den eroberten Gebieten dauerhaft zu befestigen sondern auch gegenüber den zunehmend entrechteten und ihrer ökonomischen Basis beraubten Massen in Italien selbst, denn aufgrund dieses Verrats der Eliten waren die einst hochgeachteten bäurischen „Proles“ (wörtlich: Nachkommen), welche die demographische Grundlage für den Aufstieg Roms geschaffen hatten, zu besitzlosen „Proleten“ herabgesunken – in anderen Worten, zu überflüssigem Menschenmaterial.

Angesichts dieser sozialen Spaltung

blieb es in Rom nicht bei einer Bewegung wie Occupy Wallstreet. Es kam zu einem Bürgerkrieg zwischen der Elite und den entrechteten Massen. Das Problem bestand in der ungeheuren Konzentration von Reichtum und Macht in wenigen Händen und der Machtlosigkeit und Verarmung der breiten Bevölkerung. In den Bürgerkriegen, welche Rom vor der endgültigen Abdankung der Republik verwüsteten, wurde diese Konzentration vorübergehend äußerst drastisch bekämpft. Im Zuge der sogenannten „Proskriptionen“ wurde nicht nur der Reichtum konfisziert, sondern vorsichtshalber schlug man gleich noch die Köpfe seiner Eigentümer ab. Doch selbst dieses drastische Vorgehen vermochte die Republik nicht vor den Kapitalisten und der Vernichtung der erworbenen Freiheiten zu retten. Die Auslagerung der Produktion und die Sklavenwirtschaft waren nun einmal objektiv billiger und der militärisch-industrielle Komplex erwies sich nun einmal als das wirksamste Mittel, um das Riesenreich zusammenzuhalten.

Wir wissen, wie der Bürgerkrieg

ausgegangen ist – er führte von der Republik in das römische Kaiserreich. Die Massen verhalfen einer Diktatur zur Macht, welche sich göttliche Attribute zulegte, um bürgerliche Freiheiten umso sicherer zu vernichten. Aber für deren Verlust und damit für die weitere Dauer des kapitalistischen Systems wurde ein Preis bezahlt, der den Aufruhr beschwichtigte. Er bestand in einem (fast) bedingungslosen Grundeinkommen und einem auf Staatskosten vorgenommenen Tittytainment für die entrechteten Massen. Sie hatten nichts mehr mitzureden, aber sie wurden staatlich durchgefüttert und auf die berüchtigte römische Art blutig unterhalten und eingeschüchtert.

Im zweiten Jahrhundert funktionierte dieses Arrangement so gut, dass Edward Gibbon diese Periode sogar als eine der glücklicheren Zeiten der menschlichen Geschichte bezeichnen konnte – ein Glück, das sich freilich von Anfang an als brüchig erweisen sollte. Der Fixierung auf individuellen Reichtum und persönliche Macht opferte die Elite zuerst die Solidarität mit den eigenen Landsleuten, danach auch Werte und Moral. Die Sitten gerade der höchsten Kreise erschienen vielen Menschen so skandalös, dass religiöse Gemeinschaften wie die der Christen darin den Grund aller Verderbnis sahen. Die Abkehr von allen früher geltenden Werten betraf auch die Fortpflanzung. Gerade in den reichsten Familien wurde Kinderarmut zur Regel, weil das Familienerbe in den Händen von Sklaven, die man jederzeit durch andere ersetzen konnte, besser aufgehoben war als bei der eigenen, in der Regel eher aufsässigen Nachkommenschaft. Das war aber längst nicht alles. Wenn Werte dem Mammon geopfert werden, pflegt auch die Wahrheit nichts mehr zu gelten. Gegen Ende der Republik kamen die Fake News auf – einen großen Staatsmann und Denker wie Cicero, der die Wahrheit verteidigte, ließ Antonius ermorden.

Die Parallele zu den Vorgängen in den Vereinigten Staaten

erscheint evident. Seit die Wählerschaft sich nur noch zwischen Kandidaten entscheiden kann, die für die außerordentlich kostspieligen Wahlauftritte vom Kapital gesponsert werden, ist es die einprozent Geld- und Machtelite, welche  die Vorentscheidung für die Präsidentschaftskandidaten trifft. Demokratie ist weitgehend zur Fassade geworden. Absichtlich gebrauche ich allerdings das Wort „weitgehend“, denn Demokratie war immer ein fließender Begriff. Sieht man einmal von sehr kleinen Gemeinschaften oder religiösen Sekten ab, so ist sie noch niemals und nirgendwo in reiner Form verwirklicht worden, aber das hindert natürlich nicht, dass es große Unterschiede zwischen den Staaten gibt, die sich selbst „demokratisch“ nennen. Zweifellos erlauben die heutigen USA ihren Bürgern ein weit größeres Mitspracherecht und mehr an Meinungsfreiheit als etwa die Volksrepublik China oder Putins Russland – in diesem Sinne sind sie jedenfalls demokratisch-er.

Trotzdem sehe ich die heutigen USA

an einem Punkt angelangt, der dem Abschied Roms von der Republik auf beklemmende Weise entspricht. Donald Trump hat ebenso wenig ein Hehl aus seiner Verachtung für die Demokratie und für die Wahrheit wie aus seiner Bewunderung für Diktatoren von der Art eines Kim Jong Un oder für Autokraten wie Wladimir Putin gemacht. Dieser unselige Präsident hatte durchaus den Willen, einen Staatstreich zu inszenieren – nur fehlen ihm dazu die erforderlichen intellektuellen und charakterlichen Voraussetzungen. Hätte er seine Gefolgschaft nicht nur aufgehetzt sondern außerdem auch noch das nötige Organisationstalent und die (seiner erratischen Natur durchaus fehlende) Beharrlichkeit eingesetzt, dann hätte der 6. Januar für ihn zum Erfolg werden können. Wenn vierzig Prozent der Wähler der herrschenden Staatsform und deren Repräsentanten nicht länger trauen, dann ist das jedenfalls mehr als genug, um deren Abschaffung zu ermöglichen.

Denn wir sollten uns keine Illusionen machen:

Die Massen der Vereinigten Staaten begehren aus demselben Grund wie die Massen Roms am Ende der Republik gegen die bestehenden Verhältnisse auf. Ihre Arbeit wurde ausgelagert, weil im Ausland billiger produziert werden kann – auf diese Weise konnte es geschehen, dass ein wachsender Teil der amerikanischen Bevölkerung auf Drittweltniveau herabsank. Für den Wohlstand der eigenen Bevölkerung – ihre Ausbildung, Gesundheit und Arbeitsplätze – unternimmt die „Elite“ der Einprozent immer weniger, und genauso hält sie es mit der verrottenden Infrastruktur des eigenen Landes. Da zu investieren, lohnt sich für die Reichen nicht länger, weil das Geld, das sie in China anlegen, ihnen weit höhere Renditen beschert. So ist es dazu gekommen, dass sich phantastischer Reichtum bei einer Geld- und Macht-„Elite“ aus wenigen Familien konzentriert, während zur gleichen Zeit der Lebensstandard bei der Mehrheit im Schwinden ist und der  Gesamtzustand des Landes sich immer mehr verschlechtert. Es ist der grelle Gegensatz zwischen öffentlicher Armut und konzentriertem privaten Reichtum, der einen Trump ermöglichte und den instabilen Zustand der heutigen USA.

Wäre es theoretisch denkbar, dass Joe Biden

oder seine späteren Nachfolger das Ruder herumreißen, indem sie entscheidende Maßnahmen gegen die zunehmende soziale Ungleichheit und die Unzufriedenheit der Massen ergreifen? Die Rezepte dazu sind im linken ebenso wie im rechten Lager – und natürlich in der Wissenschaft – in reichem Maße vorhanden. Die Tatsache, dass ein Mann wie Trump überhaupt Präsident werden konnte, verdankt er ja vor allem dem Umstand, dass er sich die Unzufriedenheit der Massen zunutze machte. Beide Lager sind sich auch weitgehend darin einig, von welcher Art die zu ergreifenden Maßnahmen sind. Zunächst einmal müsste die ausgelagerte Arbeit (aus China und anderen Staaten) wieder ins eigene Land zurückgeholt werden; die Reichen müssten in den USA statt in China investieren; die vielen Kriege, welche die USA im Ausland führen, müssen beendet werden und die geldfressenden Militärbasen reduziert. Das war nicht nur die Absicht von Donald Trump, sondern das will auch Bernie Sanders, und wollen all jene, welche das Land am liebsten nach außen abschließen würden, um seiner kostspieligen globalen Verwicklung ein Ende zu bereiten. Kein Wunder, dass die verarmten Massen und die stolpernde Mittelschicht mit der Losung „America First“ durchaus zufrieden waren. Wer seinen bisherigen Lebensstandard schwinden sieht, dem geht es um Sicherheit vor der Verarmung, ganz gleich ob die Regierung, die ihm dies garantiert, dies Ziel auf demokratische Art erreicht oder nicht.

Wir wissen, dass im alten Rom

keines dieser Projekte verwirklicht wurde, obwohl die Alternativen den Intellektuellen der damaligen Zeit genauso deutlich vor Augen standen wie ihren heutigen Nachfolgern. Das Reich ging an seinen unüberbrückbaren sozialen Gegensätzen schließlich zugrunde. Demographisch ausgeblutet wurde es im fünften Jahrhundert von den kinderreichen Horden der sogenannten Barbaren überrannt und erobert.

Ist eine ähnliche Entwicklung auch für die Vereinigten Staaten zu erwarten,

wenn sich das Weltreich aufzulösen beginnt? Diese Frage beschäftigt die Welt. Ich denke aber, dass kein Beispiel, auch nicht das römische, uns die Antwort aufzwingen kann. Geschichte reimt sich, aber sie muss sich nicht wiederholen.

Andererseits hängt der Lauf der Geschichte nicht allein von den guten Absichten der sie gestaltenden Menschen ab, denn es gibt äußere Bedingungen, die menschliches Handeln vor unüberschreitbare Barrieren stellen. Es sind diese Grenzen, welche es sehr wahrscheinlich machen, dass Joe Biden die Demontage der amerikanischen Demokratie nicht aufhalten wird. Ja, selbst wenn ein Bernie Sanders an die Regierung käme, würde er dazu meines Erachtens nicht fähig sein.

Die Grenzen, von denen hier die Rede ist,

bestehen in den Absichten konkurrierender Nationen – vor allem ihrer militärischen Präsenz – verbunden mit einer immer schnelleren Abnahme jener Rohstoffe, auf die kein Staat verzichten kann, wenn er den technologischen Entwicklungsstand seiner Bevölkerung garantieren will. Die Entwicklung der modernen Technik im militärischen wie im zivilen Bereich kommt heute in keinem Staat der Erde – nicht einmal in dem mit Rohstoffen reich gesegneten Riesenreich Wladimir Putins – ohne die Rohstoffe aus anderen Regionen der Erde aus. Der Wettbewerb um die Ausbeutung der verbliebenen Ressourcen genießt daher dieselbe hohe Priorität bei den Supermächten wie bei den wirtschaftlich aufstrebenden Nationen. Entschieden wird das Rennen um die schwindenden Rohstoffe auf wirtschaftliche Weise (wer mehr zahlt, bekommt auch mehr) und durch militärische Macht – oft auf beide Arten zugleich. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt der Kampf um die Ressourcen mehr und mehr zu, da ganze Kontinente (Afrika und weite Teile Asiens), die bisher einen weitgehend autarken, wenn auch armen Lebensstil pflegten, inzwischen denselben zivilisatorischen Wohlstand für sich verlangen wie die Staaten des Westens. An Abschottung ist in diesem weltweiten Rennen nicht mehr zu denken, da sie nur noch um den Preis möglich ist, die eigene Entwicklung einzufrieren, während die anderen technologisch vorüberziehen. Aus genau diesem Grund fürchten sich die USA so sehr vor China.

Wenn aber Abschottung für die USA nicht in Frage kommt,

und der militärisch-industrielle Komplex unverzichtbar ist, um die USA weiterhin als Supermacht zu erhalten; wenn sich außerdem die kapitalistischen Großbetriebe weiterhin als ökonomisch so effizient erweisen wie im alten Rom und die technischen Geräte des täglichen Bedarfs in anderen Regionen (wie zum Beispiel in China) um vieles billiger erzeugt werden können, sodass eine großangelegte Wiederbelebung der eigenen Industrien keine Chance hat, dann spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Vereinigten Staaten auch darin Rom folgen werden, dass sie Freiheit und Demokratie (die ja schon jetzt mehr Fassade als Wirklichkeit sind) der ökonomischen Effizienz immer mehr opfern werden. Die materiellen Voraussetzungen und ideologischen Begründungen sind dafür jedenfalls jetzt schon vorhanden. Statt ihnen Arbeit und Selbstwert zu geben, wird man die für den ökonomischen Prozess überflüssigen Massen – wie schon vor zweitausend Jahren – mit einem (mehr oder weniger bedingungslosen) Grundeinkommen und Tittytainment zufrieden stellen. Autokraten von der Art eines Donald Trump werden dann eine Art von modernem Kaisertum errichten, wie es unter Xi Jinping in China und unter Putin in Russland ja bereits existiert.

Also wird hier TINA das Wort geredet –

there is no alternative? Ja und nein. Solange die Welt sich im Wettrennen der Nationen verzehrt, wo die großen Mächte sich gegenseitig und noch dazu der ganzen übrigen Welt die Gesetze des Handelns aufzwingen, wird und kann es keinen Durchbruch geben. An einen Abschied vom Kapitalismus, an eine Verhinderung des Klimawandels, an eine bessere Gesellschaft ist nicht zu denken, weil jeder der sich erkühnt, den anderen voranzugehen, das mit wirtschaftlicher Selbstschwächung und daher mit Abhängigkeit bis hin zum Vasallentum bezahlt. Europa braucht da nur in die eigene Geschichte zurückzublicken. Keiner der vielen militärisch unterlegenen Staaten wurde christlich dafür belohnt, dass er auch noch die linke Backe präsentierte, nachdem er auf der rechten geschlagen wurde.