Erzwungener Verrat – die Illusion von europäischer Macht und Größe

Die USA haben den Vertrag mit Iran mutwillig nur deshalb außer Kraft gesetzt, weil der neue Präsident Trump alles rückgängig machen wollte, was der alte Präsident Obama ihm als Erbe hinterlassen hatte. Aber ebenso wie Russland und China hat die Europäische Union bis zuletzt an dem Vertrag festgehalten. Jetzt aber hat sie den Iran von einem Moment auf den anderen verraten: nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie dazu gezwungen wurde. Natürlich sitzen in Teheran keine Heiligen, sondern Machtpolitiker, welche nicht einzusehen vermögen, warum ihre Nachbarn, Indien und Pakistan – von Engländern, Franzosen, Amerikanern, Israelis, Russen, Chinesen oder dem kleinen Nordkorea gar nicht zu reden – die Bombe besitzen dürfen, während man sie ihnen verwehrt. Das eher finster-mittelalterliche Regime der Ayatollahs strebte schon die letzten Jahrzehnte danach, aber dem diplomatischen Geschick eines Barack Obama war es zu danken, dass 2015 ein Abkommen mit dem Iran getroffen wurde, das beiden Seiten erträglich schien. Der Iran verzichtete auf die Bombe, dafür würden die USA und ihre Verbündeten die bestehenden Sanktionen aufheben und dem Iran bei seinem wirtschaftlichen Aufbau helfen.

Die ganze Welt und vor allem auch die Europäer

waren sich bewusst, dass der Vertragsbruch Trumps durch nichts zu rechtfertigen war. Dennoch haben sich die drei führenden europäischen Mächte England, Deutschland und Frankreich am 14. Januar in Paris gegen besseres Wissen und gegen die eigene Überzeugung dazu entschlossen, ihrerseits den Mechanismus der Vertragskündigung einzuleiten. Aufgrund eines Lecks aus Washington wissen wir auch, warum das geschah, nämlich nach einem Anruf vonseiten der amerikanischen Regierung, genauer gesagt: nach einer massiven Drohung. „Entweder kündigt ihr Iran eure Unterstützung auf oder wir belasten eure Autoexporte mit Zöllen – 25% oder auch mehr.“

Die Drohung hätte nicht wirksamer ausfallen können

Würden die USA ihren Markt für europäische Waren sperren oder auch nur durch Zölle wesentlich abschotten, dann hätte das einen Wohlstandseinbruch in Deutschland und ganz Europa zur Folge, den keine Regierung überleben würde. Das ist der aufrechten deutschen Kanzlerin natürlich deutlich bewusst. Aber sie weiß auch, wie wenig es nützte, dass sie zuvor nach Moskau zu Putin gepilgert ist, um sich Rückenstärkung gegenüber dem amerikanischen Druck zu verschaffen. Das ökonomisch schwache Russland kann allenfalls im Alleingang die North­stream-Pipeline zu Ende bauen, für den deutschen Export aber kann es absolut gar nichts tun. Ein einfacher Anruf aus Washington genügte, um den Deutschen diese schlichte Wahrheit und ihre fundamentale Abhängigkeit ins Bewusstsein zu rufen. Und sie haben auch begriffen, dass es sich dabei um eine ganz und gar einseitige Abhängigkeit handelt, denn die Amerikaner brauchen nichts von einem Anruf aus Berlin zu fürchten. Zur Not könnten sie den Handel mit der übrigen Welt auch völlig zum Stillstand bringen. Zwar würde dann auch bei ihnen der Lebensstandard sinken, aber die Lichter in den Städten würden nicht erlöschen und die Autos bei ihnen weiter fahren. Die USA und Kanada sind seit kurzem energieautark. Für Russland gilt das schon lange.

Deutschland befindet sich in einer völlig anderen Situation

Sein Lebensstandard ist auf doppelte Weise bedroht. Einerseits beruht er auf der Ausfuhr von industriellen Fertigwaren, vor allem Autos; andererseits auf der Einfuhr von Energie, vor allem von Öl und Gas. Wird auch nur eine dieser beiden Lebensadern durchtrennt, ist es mit Deutschlands bisheriger Stärke schlagartig vorbei.

Aus historischer Sicht ist das eine durchaus neue Entwicklung. Erst seit Ende des 19ten Jahrhunderts hängt der Wohlstand Deutschlands wesentlich am Export, und erst seit Mitte des 20ten ist es von der im eigenen Land vorhandenen Kohle auf die Versorgung mit Öl und Gas umgestiegen. Seitdem haben sich Deutschland – und in geringerem Maße die gesamte EU – immer mehr von den beiden Großmächten abhängig gemacht: von den USA (inzwischen zunehmend auch von China) durch den Export, von Russland durch den Energieimport.

Die Öffentlichkeit hat diese Entwicklung

kaum wahrgenommen. Der freie Handel schien ja ein in Stein gemeißelter Glaubensartikel zu sein, an dem kein Staat jemals rütteln würde. In Europa schien es niemandem in den Sinn zu kommen, dass jedes Land sich in eine gefährliche Abhängigkeit begibt, wenn es sich für den eigenen Lebensstandard oder gar das eigene Überleben auf den guten Willen fremder Staaten verlässt. Die Industriemacht Deutschland hängt am russischen Tropf, sowohl was die Versorgung mit Öl wie mit Gas betrifft. Wenn Putin es so wollte, gehen bei uns die Lichter aus und die Heizungen frieren ein. Aber Deutschland ist ganz genauso auch auf den guten Willen der USA (und mittlerweile auch Chinas) angewiesen, der Destination für den größten Teil seiner außereuropäischen Exporte.

Vollständig überrascht, man darf ruhig sagen, fassungslos aber registrieren die Deutschen, dass es gerade die verbündeten USA sind, welche ihnen ihre fundamentale Abhängigkeit schlagartig ins Bewusstsein rufen. Aber war dieser Umschwung wirklich so unvorhersehbar? Mit ein wenig Voraussicht hätten wir ihn längst erkennen können, denn die Vereinigten Staaten von heute sind längst nicht mehr die von gestern (hierzu vgl. „Frieden, Krieg und Klimawandel„).

Die USA konnten sich den freien Handel

und die damit verbundene Großzügigkeit bis vor zwei, drei Jahrzehnten noch leisten. Unbestritten waren sie der reichste und mächtigste Staat der Erde und konnten ihren Bürgern daher gestatten, viele Produkte aus dem Ausland zu erwerben, wenn diese in Qualität oder Preis die eigenen in den Schatten stellten. Mit dieser Großzügigkeit ist es vorbei; gegenüber China hat Trump die Bremse zum ersten Mal brutal angezogen. Denn die USA sind zwar immer noch der mächtigste Staat der Erde, aber der Reichtum hat nur bei wenigen oberen Prozent zugenommen, die Masse der Bevölkerung ist von Armut bedroht. Mit ihren etwa tausend Militärbasen überall auf der Welt haben die USA sich so überdehnt wie vor ihnen nur das römische, das habsburgische oder das britische Weltreich, die ebenso an solcher Überdehnung zugrunde gingen. Führende Kreise in den USA sind von der Angst besessen, dass sie denselben Weg des Niedergangs gehen könnten, wenn ihre Schulden weiter und weiter wachsen. Das ist der durchaus rationale Grund für das Vorgehen des derzeitigen Präsidenten. Zweifellos wäre es auch ohne Trump zu diesem Umschwung gekommen. Dieser kam nur deshalb so überraschend und erscheint allen so schwer erträglich, weil der neue Präsident seine Politik mit unglaublicher Grobschlächtigkeit verbindet. Bis zu Obama betrieb das großzügige Amerika zumindest dem alten Kontinent gegenüber eine halbwegs anständige Großmachtpolitik. Jeder politisch wache Beobachter wusste zwar, dass die Europäer die Vasallen Amerikas waren, aber dafür durften sie nahezu gleichberechtigt am gemeinsamen westlichen Wohlstand partizipieren und genossen überdies – weitgehend gratis – den Schutz der Supermacht. Auch heute würde wohl niemand in Frage stellen, dass es Westeuropa während des Kalten Kriegs unvergleichlich viel besser ging als den russischen Vasallen im damals sowjetisch beherrschten Osteuropa jenseits des Eisernen Vorhangs. Doch mittlerweile hat sich die Lage grundlegend verändert. Die USA sind ein total verschuldeter Staat (verschuldet noch dazu hauptsächlich bei dem Rivalen China), es geht ihnen nicht länger gut – mit ihrer Großzügigkeit ist es vorbei.

Die deutsche Regierung weiß,

dass der Iran keine Schuld an dem Vertragsbruch trägt, aber sie weiß ebenso, dass keine deutsche Firma mit dem Iran Geschäftsbeziehungen eingehen wird, wenn sie dabei den Ausschluss vom amerikanischen Markt riskiert. De facto hatte Europa den Vertrag schon gebrochen, bevor der Iran seine Zentrifugen zur Urananreicherung neuerlich in Bewegung setzte. Warum sollten die Ayatollahs an diesem Vertrag festhalten, wenn nicht nur die USA, sondern ebenso auch Europa den Handel schon ausgesetzt und damit ihren Teil der Verpflichtungen bereits gekündigt hatten?

Ebenso wie Europa ist auch China

auf den Export angewiesen, da es über vergleichsweise wenig eigene Ressourcen verfügt. Auch dem fernöstlichen Riesen gegenüber lässt Trump die Muskeln spielen. Dennoch ist China viel weniger gefährdet als Europa. Einerseits greift der fernöstliche Gigant inzwischen wie ein unersättlicher Krake mit tausend Armen über den ganzen Globus aus, um überall Zugriff auf Ressourcen zu bekommen und seine industrielle Produktion in der ganzen Welt abzusetzen. Andererseits ist das Land sich seiner Verwundbarkeit viel deutlicher bewusst als die Europäer und hat sich aus diesem Grunde zu einer konventionell wie atomar hochgerüsteten Großmacht emporgerüstet. Selbst von Amerika kann China nicht länger schikaniert werden.

Dagegen ist Europa militärisch nahezu unbedeutend. Während Putins Russland gerade in den beiden letzten Jahrzehnten erneut zu einer militärischen Supermacht aufgerückt ist – wenn auch schwach in wirtschaftlicher Hinsicht –, wobei es einige der früheren Satellitenstaaten wieder fest an sich bindet; während Trump den Militäretat und die Staatsverschuldung in neue astronomische Höhen schraubt, lebt Europa von seiner hohen Moral, die allerdings – wie wir jetzt einsehen mussten – durch einen einzigen Telefonanruf aus Washington fatal zu erschüttern ist

Moral ist das Trostpflaster schwacher Staaten

Führende Mächte machen sich nur dann etwas aus ihr, solange sie sich Großzügigkeit leisten können. Man kann das sehr gut am Verhältnis der Supermächte zum Klimawandel ablesen. Es waren amerikanische Wissenschaftler des MIT, die als erste die „Grenzen des Wachstums“ erkannten; eine der bedeutendsten Umweltorganisationen, nämlich Greenpeace, wurde in Kanada gegründet, und es war Jimmy Carter, der als erster Politiker Solarpanele auf seinem Amtssitz installieren ließ. Kalifornier waren noch dazu die ersten Umweltpioniere – man darf also behaupten, dass grünes Bewusstsein zuerst in Amerika zu Einfluss gelangte. Doch nun ist es wiederum ein Amerikaner, noch dazu ein amerikanischer Präsident, der alle klimarelevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse gleichmütig zu „fake“ deklariert, wenn sie ihm nicht passen – oder genauer gesagt, wenn sie im Widerspruch zu den Zielen des militärisch-industriellen Machtkomplexes geraten. In Trumps Amerika spielt der Klimawandel so wenig eine Rolle wie die ganze grüne Bewegung.

Was Russland betrifft, so hat Präsident Putin zunächst sogar Befriedigung über die zunehmende Klimaerwärmung geäußert, weil damit der Schifffahrt die bisher vereiste Nordroute eröffnet werde. Im Übrigen ist der Klimawandel für beide, den amerikanischen wie den russischen Präsidenten, nicht menschengemacht – weshalb die Politik auch nichts dagegen tun könne oder solle. Sowohl Trump wie Putin sind überzeugt, es besser als die Wissenschaftler zu wissen (erst in letzter Zeit und angesichts überwältigender Evidenz haben sich beide zu minimalen Zugeständnissen durchgerungen).

Wie fast immer, geht China auch in diesem Fall viel geschickter und diplomatischer vor. Während es seinen ungeheuren Energiebedarf mit dem Zubau immer neuer Kohle- und Atomkraftwerke befriedigt, legt es nach außen hin besonderen Wert darauf, seine gewaltigen Solar- und Windkraftanlagen in den Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. China – der größte Umweltsünder der Welt – bringt es auf diese Weise fertig, mit einem leuchtend grünen Mäntelchen aufzutreten und damit das eigene Bewusstsein wie auch das der Weltöffentlichkeit zu täuschen.

Leider ist es keine Panikmache,

sondern beklemmende Realität, dass die Menschheit des 21ten Jahrhunderts gerade damit beschäftigt ist, die Welt durch den „Fortschritt“ zu ruinieren. Nichts wäre daher so sehr vonnöten wie eine entschlossene Reduktion nicht allein des Energieverbrauchs, sondern überhaupt sämtlicher Ressourcen, denn wir verwandeln sie ja fortwährend in Müll – d.h. in einen Ausstoß von Schadstoffen, die in stetig steigendem Umfang die Luft, das Wasser und den Boden auf dem ganzen Globus vergiften (in erster Linie durch CO2, Plastik, Kunstdünger und Pestizide). Die Initiative der Europäischen Union, die ersten entschlossenen Schritte in dieser Richtung zu setzen, ist so gesehen nicht nur begrüßenswert, sondern sie ist in Wahrheit viel mehr: ein für die Rettung des Planeten schlechterdings notwendiger Schritt.

Doch die führenden Mächte, die USA, Russland und China

denken gar nicht daran, Europa auf diesem Wege zu folgen. Seit nicht nur China und Indien, sondern auch Afrika und die ganze übrige Welt denselben Lebensstandard wie der Westen genießen wollen, hat die kollektive Plünderung des Planeten eingesetzt. Nur wer dabei militärisch die Oberhand behält und auch sonst über genügend Druckmittel verfügt, wird aus diesem Wettrennen der Nationen als Sieger übrigbleiben. Ich glaube, die Situation richtig einzuschätzen, wenn ich behaupte, dass die großen Nationen, also die USA, Russland und China, eher den Ruin des Globus in Kauf nehmen werden als die Schwächung der eigenen Stellung: Besser der erste im Hades als der zweite im Paradies zu sein (um einen Julius Cäsar von Plutarch zugeschriebenen Ausspruch leicht abzuwandeln).

Mit dem Verrat am Iran

haben Deutschland, Frankreich und England der Welt bewiesen, wie die Moral zuschanden wird, wenn es ums Fressen geht (die Unterstützung des europäischen Exports und damit des bisherigen Lebensstandards). Eingekeilt zwischen zwei Supermächten, den USA und Russland, hatte dieser unser kleiner westlicher Wurmfortsatz der großen eurasischen Platte schon während des Kalten Kriegs seinen hohen Lebensstandard nur dadurch bewahren können, dass es in einen engen Handel mit den Vereinigten Staaten trat, sich von ihnen abhängig machte, aber im Gegenzug vor Übergriffen der ideologisch und militärisch expansiven Sowjetunion dadurch eben auch geschützt werden konnte. Dieser Schutz wurde als selbstverständlich hingenommen. Mit seinem gar zu erfolgreichen (Auto-) Export hat Deutschland sogar viele US-Konzerne auf dem amerikanischen Markt überflügelt und dadurch zur Schwächung der Supermacht beigetragen.

Die USA haben Deutschland mit einem einzigen Anruf gezeigt,

dass die Zeiten der Großzügigkeit endgültig vorbei sind. Für seinen Schutz wird Europa von nun an zahlen müssen, entweder an die USA oder an Russland (wobei ich persönlich immer noch die USA vorziehe, obwohl der derzeitige russische Präsident sowohl sympathischer wie auch klüger ist). Europa ist gut beraten, diese Drohungen sehr ernst zu nehmen – wie ernst, dass scheint den wenigsten bisher bewusst zu sein. Bis zu dem gebildeten Präsidenten Franklin D. Roosevelt, aber selbst noch bis zu Carter und Clinton waren sich die Amerikaner bewusst, dass ihre Wurzeln in Europa lagen, zu dessen Schutz sie sich daher auch moralisch verpflichtet fühlten. Heute wird Europa nur noch als ein Konkurrent unter anderen wahrgenommen. Ein Präsident, der dem Iran damit droht, sein kulturelles Erbe zu vernichten, würde, so fürchte ich, auch einem Krieg in Europa tatenlos zusehen, zumal die NATO in seinen Augen alle Bedeutung für Amerika eingebüßt hat. Den derzeit amtierenden Mann im Weißen Haus interessiert das kulturelle Erbe Europas genauso wenig wie das des Iran.