Entweder Kapitalismus oder Sozialismus – ein politisches Spiel mit falschen Alternativen

von Friedrich Müller-Reißmann (Februar 2012)

NIEDER MIT DEM KAPITALISMUS. ES LEBE DER SOZIALISMUS“ stand auf dem Spruchband. „Nein“, dachte ich, als ich das las, „der Kapitalismus soll verschwinden und der Sozialismus bleiben, wo er ist: in unbelehrbaren Köpfen!“

In den „gesellschaftswissenschaftlichen“ Seminaren, die ich seinerzeit als Student der Physik an der Universität Leipzig besuchen musste, wurde mir unablässig eingehämmert, dass der „Hauptinhalt unserer Epoche“ im „Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ bestünde. Den Studenten der anderen Fachrichtungen ging es zu DDR- Zeiten nicht besser. – Nun, die Geschichte folgte nicht der marxistischen Geschichtsideologie. Indes, die Propagandamühlen haben nicht vergebens geklappert. Noch immer sehen viele keine andere Alternative zum Kapitalismus, wenn er doch eines Tages sein Ende findet, als den „Sozialismus“.

Wenn ich wählen müsste, entweder auf einer Parkbank inmitten einer umtriebigen Weltstadt zu verenden oder in einem Gulag am Rand der Welt, würde ich die Parkbank vorziehen. Andererseits: Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Welt ohne Elend und ohne Glamour und einer Welt mit Glamour und mit Elend, würde ich die Welt ohne Elend vorziehen und gern auf den Glamour verzichten. Doch glücklicherweise stehe ich nicht vor solchen absurden Alternativen. Man könnte noch viele Wahlsituationen dieser unsinnigen Art konstruieren. Sie sind nicht unsinniger als die geläufige Gegenüberstellung von „Kapitalismus“ und „Sozialismus“. Doch hier scheint marxistische wie antimarxistische Propaganda den Verstand bei vielen derart vernebelt zu haben, dass sie nicht aus diesem Entweder-oder-Klischee herausfinden.

Wir haben hier ein Musterbeispiel für das beliebte Verwirrungsspiel mit „falschen Alternativen“. Sie gehören zu den wirkungsvollsten Methoden der politischen Irreführung. Warum um alles in der Welt muss ich den Sozialismus lieben und anstreben, wenn ich den Kapitalismus hasse und zu überwinden trachte?! Und warum darf ich den Kapitalismus nicht antasten, wenn ich den Sozialismus verabscheue?! Wieso „kommt“ nach dem Kapitalismus der Sozialismus?? Wieso muss ich mir die marxistische Mythologie von einer festen historischen Abfolge vorgegebener „Gesellschaftsordnungen“ zueigen machen, anstatt mir selbst das Leitbild einer wünschenswerten Zukunft zu entwerfen und dafür einzutreten? Wie kann man nur meinen, neben dem „Kapitalismus“ gäbe es nur den „Sozialismus“ und umgekehrt, sodass man jeden Kapitalismuskritiker der Sympathie mit dem Sozialismus verdächtigen und jeden Sozialismuskritiker vor den Karren des Kapitalismus spannen darf? In den USA nehmen gegenwärtig dieses Entweder-oder-Klischee und die darauf fußenden Grabenkriege geradezu skurrile Formen an, indem selbst schon eine allgemeine Krankenversicherung als „Socialism“ diffamiert wird. In der alten Sowjetunion war jeder, der auch nur einen Hauch von Kritik am System zu äußern wagte, ein „Agent des Klassenfeindes“.

Es gibt nicht den geringsten Grund, zu glauben, dass das Ende des Kapitalismus der Anfang vom Sozialismus sei. Das ist eine moderne Variante des Mythos vom Ungeheuer, das sich, wenn man ihm den Kopf abschlägt, automatisch in ein neues Wesen verwandelt: in eine wohltätige, liebenswerte Idealgestalt sagen die einen, in ein noch viel schrecklicheres Ungeheuer, sagen die anderen. Ich behaupte, solange man an diesen Mythos glaubt, dient man der Zementierung des herrschenden kapitalistischen Systems, ganz egal, ob man meint, „nach dem Kapitalismus“ käme bzw. „neben dem Kapitalismus“ existiere nur eine gute, wunderbare Welt oder eine noch schrecklichere. Wer letzteres glaubt, ist von vornherein kein Reformer: Wer wird ernsthaft an der Überwindung des Kapitalismus arbeiten, wenn er befürchten muss, damit dem sich bisher wenig verlockend gezeigten Sozialismus in die Hände zu spielen?

Doch auch die, die zum Kampf gegen den Kapitalismus antreten und Bundesgenossen für diesen Kampf zu gewinnen hoffen, indem sie den Sozialismus schmackhaft zu machen versuchen, erweisen in Wahrheit der Kapitalismuskritik einen Bärendienst. Denn sie bestätigen und festigen damit jene Vorstellung, die dem Kapitalismus am allermeisten nützt: die Vorstellung, dass es zu ihm nur die eine Alternative gäbe: den (sich bisher wenig verlockend gezeigten) Sozialismus.

Aus der Idee einer „neuen Ordnung“, jenem „Gespenst“ aus Karl Marx’ „Kommunistischen Manifest“, das im 19. Jahrhundert die herrschenden Kräften, die Ausbeuter und Unterdrücker das Fürchten lehrte, hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts einen Buhmann gemacht, mit dem man die Unterdrückten und Ausgebeuteten nach Bedarf schrecken und bei der Stange halten kann. Ja, der Sozialismus ist. gewissermaßen zum besten Verbündeten des Kapitalismus geworden.

Ich frage mich, warum heute gewissen Kapitalismuskritikern kein besseres Stichwort einfällt als das des „Sozialismus“. Müssen sie den herrschenden Kräften die Munition auch noch frei Haus liefern?? Sie machen sich unsinnigerweise zu Mitspielern im Betrugsspiel mit den „falschen Alternativen“. Wobei es nicht viel nützt, wenn man mit der Hinzufügung wohlklingender Adjektive wie „demokratisch“ oder „menschlich“ den erstrebten Sozialismus von dem abzuheben versucht, was man in der Realität bisher von ihm gesehen hat. Die geschichtlichen Erfahrungen, die konkrete Menschen mit dem „Sozialismus“ gemacht haben, sind viel wirkungsmächtiger als alle theoretischen Definitionen, Belehrungen, Klarstellungen, Absichtserklärungen. Die zusammen können nicht aus der Welt schaffen, dass sich für lange Zeit mit dem Wort „Sozialismus“ Vorstellungen von Mauer und Grenzkontrollen, Stasi, kleinkarierter Funktionärsmentalität, geistiger Gängelung, ineffizienter Planwirtschaft und Schlimmerem verbinden. So leicht lassen sich die real erlebten Schrecken dieser Realität nicht vergessen machen. Diese Kapitalismuskritiker tragen daher Wasser auf die Mühlen des kapitalistischen Systems, dem nach dem Desaster des „Sozialismus“ nichts so nützlich ist wie das Entweder-oder-Klischee: dass Kapitalismuskritik der sicherste Weg (wieder) zum Sozialismus sei.

 

Wenn ich mich nicht irre, so steckt für alle, die die weltweiten Verheerungen durch den Kapitalismus mit wachsendem Zorn erleben, hinter der „unsäglich“ enttäuschenden Bemerkung von Joachim Gauck, unserem wahrscheinlich nächsten Präsidenten, zur Occupy-Bewegung“ auch das Entweder-oder-Klischee. Wie ist sonst zu erklären, dass aus einer kritischen Verteidigung von Freiheit gegen die Vorherrschaft des Staates über das Leben eine unkritische Verherrlichung von Freiheit wird, die blind ist gegenüber der Vorherrschaft des Geldes und des „Geldmachens“ über das Leben? Ist es so schwer zu begreifen, dass die Freiheit des Bürgers von staatlicher Willkür, Bevormundung und Bespitzelung die eine Sache ist und die Freiheit einer Minderheit zur Bereicherung auf Kosten der Mehrheit und gegen die gesellschaftlichen Interessen eine völlig andere? Freiheit ist nicht immer und unter allen Umständen das, was die Menschen frei macht. „Zwischen den Starken und den Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“ (J.J. Rousseau).

Das Entweder-oder-Klischee blockiert den Zugang zur eigentlichen Aufgabe in allen Lebenssituationen: die Lösung des Mehr-oder-weniger-Problems. Denn es gibt kaum einen Wert, der nicht durch sein Übermaß zum Unwert wird. Und es gibt kaum einen Wert, den man ungestraft ganz und gar vernachlässigen darf.

 

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war die Parole der Französischen Revolution. Soll ich heute zwischen zwei Gesellschaftsmodellen wählen, die beide gemessen an der Trias der Französischen Revolution mangelhaft sind? Die eine verwirklicht ein Zerrbild von Freiheit und vergisst Brüderlichkeit und Gleichheit, die andere verwirklicht ein Zerrbild von Gleichheit und vergisst Brüderlichkeit und Freiheit. Selbst die ganze Trias der Französischen Revolution ist als Leitparole und Wertekanon unvollständig und weist eklatante Defizite auf. Es fehlen vor allem die elementaren Wertedimensionen SICHERHEIT und EFFIZIENZ. Was ist z.B. die Gesellschaft der Gleichheit wert, in der alle auf gleiche Weise vor staatlicher Willkür nicht sicher sind, sowie alle auf die gleiche Weise an der Entfaltung ihre Kreativität gehindert und von bornierten Bürokraten gegängelt werden? Und was ist eine Gesellschaft der Freiheit wert, die die Schwächeren schutzlos der Freiheit der Stärkeren aussetzt und die Freiheit auch die Freiheit zur sinnlosen Verschwendung knapper Ressourcen einschließt?

Der „Sozialismus“ als Alternative zum „Kapitalismus“ ist kläglich gescheitert. Das ist eine offenkundige Tatsache. Darüber muss man nicht streiten. Wieso das ein Argument für den „Kapitalismus“ sein soll, wird mir immer rätselhaft sein. Es ist lediglich ein Argument gegen den „Sozialismus“. Wenn die Therapie eines kranken Systems scheitert, wird doch dadurch das System nicht gesund.

Ich fürchte, unsere Gesellschaft wird dieser historischen Aufgabe nicht gerecht werden. Den kritischen Reformkräften stehen zu viele unkritische Kräfte der Trägheit und Selbstgefälligkeit gegenüber. Da ist einmal die leider große Menge derer, die keine Meinung haben und sich für Zukunftsfragen nicht interessieren. Da sind zum anderen diejenigen, die die Entwicklung grundsätzlich nicht für steuerbar und gesellschaftliche Strukturen nicht für verbesserbar halten. Und da sind ferner diejenigen, die das herrschende System für das beste aller möglichen Systeme und von daher eine Therapie für überflüssig, ja abwegig halten. Und schließlich sind da noch die, die die Suche nach einer Therapie für überflüssig halten weil sie schon die beste aller möglichen Therapien gefunden zu haben meinen. Für sie besteht das Übel darin, dass die Gesellschaft die Therapie verschmäht, obwohl – und darin haben sie ja durchaus recht – die Krankheit immer offensichtlicher wird. Es ist kaum noch zu bestreiten: der gegenwärtige Kapitalismus entfesselt und heizt einen privaten Egoismus an, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht, das Zusammenleben der Menschen vergiftet und die natürlichen, kulturellen und sozialen Lebensgrundlagen der Menschheit in Gefahr bringt. Die Verbrechen und die Zerstörungskraft des kapitalistischen Systems nehmen lokal und global immer mehr zu. Also lasst es uns noch einmal mit dem Sozialismus versuchen, ehe es zu spät ist! Doch so wenig wie ein krankes System durch das Scheitern einer Therapie gesund wird, wird eine verheerende Therapie dadurch zu einer guten, dass die Krankheit offensichtlicher wird. Was allein richtig ist: Wenn die Krankheit immer offensichtlicher ist, wird die Suche nach einer geeigneten Therapie zum Gebot der Stunde.