Dumme Frage: Sind wir frei?

Nein, die Frage ist nur deshalb dumm, weil sie dafür gehalten wird. Es ist nicht lange her, da haben führende deutsche Neurologen wie Roth und Singer ihre Mitmenschen expressis verbis für naiv, wenn nicht gerade für dumm gehalten, wenn sie nicht einsehen wollten, dass der Mensch selbstverständlich – nämlich aus wissenschaftlicher Sicht, wie sie glaubten – keine Willensfreiheit besitze.*1*  Sie können sich dafür auf eine lange Reihe von Autoritäten verlassen. Die Babylonier wähnten menschliches Geschick ganz und gar von den Sternen bestimmt. Kirchenväter wie Augustin, Luther und Calvin begründeten ihre Ablehnung menschlicher Freiheit mit der Allwisssenheit Gottes. Für diesen stehe daher die ganze Zukunft und damit auch alles Denken und Wollen seit Beginn der Schöpfung fest. Ergo könne es Freiheit nicht geben. Zu den entschiedenen Leugnern der Freiheit zählen auch Philosophen wie Demokrit, Spinoza, Voltaire, Schopenhauer bis hin zu Bertrand Russell. Ihnen stehen Denker wie Gottlieb Fichte und Martin Heidegger entgegen, die umgekehrt ein Pathos der Freiheit verkünden. In der Mitte zwischen den beiden Lagern steht wohl überall auf der Welt, der unbefangene Laie, der von jeher wusste, dass er zugleich frei und und vielfachen Zwängen ausgesetzt. Zu den großen Philosophen, die diesen Standpunkt überzeugend vertreten haben, zählen William James, Karl Jaspers und Karl Popper.*2*

Der Widerspruch der beiden Positionen

manifestiert sich nicht nur in der Geschichte von Religion und Philosophie, er ist in jedem von uns sozusagen in nuce angelegt. Wenn wir andere Menschen beobachten, fragen wir intuitiv nach den Beweggründen ihres Verhaltens, d.h. nach den Grenzen ihrer Freiheit und Willkür, um darauf in angemessener Art zu reagieren. Bei gefürchteten Gegnern ist das ohnehin der Fall, aber selbst bei Menschen, die wir lieben. Je besser wir ihre jeweiligen Vorlieben und Abneigungen kennen, umso eher sehen wir ihre Reaktionen voraus, umso weniger wird es zu Reibungen im Umgang mit ihnen kommen. Diese Objektperspektive wird auf gleiche Weise in jedem Roman von einem Schriftsteller bezogen, der uns begreiflich zu machen sucht, warum seine Protagonisten gerade so und nicht anders handeln (er beschreibt die eingestandenen oder unbewussten Zwängen, denen sein Handeln gehorcht).

Dagegen nehmen wir mit gleicher Selbstverständlichkeit die Subjektperspektive ein, sobald wir unser eigenes Handeln analysieren. Wenn ich mich spontan dazu entschließe, an einem schönen Herbstmorgen – und nicht etwa erst in zwei Wochen – einen Ausflug auf den Kulm, einen naheliegenden Berg, zu machen, so bewerte ich diese Entscheidung natürlich als frei. Sie ist mir von niemandem aufgezwungen – nicht einmal von eigenen liebgewordenen Gewohnheiten, denn ich bin mir bewusst, sie jederzeit widerrufen zu können. Ja, dieses Bewusstsein der eigenen Denk- und Handlungsfreiheit geht so weit, dass manche Menschen mit voller Absicht das Gegenteil von dem tun, was andere von ihnen oder sogar, was sie von sich selbst erwarten. 

Diese doppelte Perspektive

hat ihren Grund in zwei einander entgegensetzten Bedürfnissen, die für jeden einzelnen Menschen wie für jede Gesellschaft grundlegend sind. Sicherheit im Umgang mit der Natur und mit anderen Menschen erlangen wir nur, wenn wir ihre Regel- und Gesetzmäßigkeiten immer tiefer und weiter erkunden. Im Hinblick auf die Natur ist uns das so gut gelungen, dass wir mittlerweile imstande sind, die Geschichte des Kosmos bis zum Urknall zurück und bis zum Erlöschen der Sonne vorhersagen zu können. Aber Sicherheit war nie das einzige menschliche Bedürfnis. Für das Kind und für den bis in Alter neugierigen Menschen bilden gerade das Unvorhergesehene, die Überraschung, das Geheimnis jene Herausforderung, die dem Leben überhaupt erst seinen Reiz und seine Farbe gibt. Völlige Sicherheit, d.h. Vorhersehbarkeit, würde uns wie mit einer jede Spontaneität erstickenden Zwangsjacke umschließen. Solange wir leben, suchen wir beständig den Reiz des Noch-Nicht-Erkannten, noch nicht Gewussten.*3* Eine Welt, in der wir alles wüssten, wäre eine Welt als Maschine, in der es nichts Neues, d.h. keine Freiheit gibt. Für unseren Geist wie unser Erleben wäre sie tot und erstarrt. Das Bedürfnis nach Sicherheit einerseits und nach dem Geheimnis andererseits, also nach der Herausforderung des Unbekannten und des Neuen – diese beiden Erwartungen beherrschen uns seit frühester Zeit gleichermaßen. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als die beiden konstituierenden Merkmale der Conditio humana.

Das Paradox dieser condition humana besteht darin,

dass wir abwechselnd – und zwar mit einer Art von innerer Notwendigkeit – nach Sicherheit, welche aus der Entdeckung von Ordnung resultiert, und nach Freiheit streben, wobei diese beiden elementaren Bedürfnisse eng mit dem Gegensatz von Objekt- bzw. Subjektperspektive verbunden sind. Seine extreme Ausprägung erfährt dieser Gegensatz, sobald der Mensch als Forschender in Erscheinung tritt, d.h. die Natur und sich selbst nicht nur intuitiv wie jeder Laie sondern mit System befragt und untersucht. Psychologie als Wissenschaft ergäbe keinen Sinn, wenn jede emotionale oder intellektuelle Regung des Menschen allein dem Zufall gehorchen würde, sodass der Forscher statt auf erkennbare Regelmäßigkeiten nur auf ein Chaos stößt. Dieselbe Feststellung gilt ebenso für die Soziologie. Und natürlich lohnt es sich nur deshalb für die neurologische Wissenschaft, die biologischen Grundlagen der menschlichen Konstitution zu erforschen, weil sich ihr eine Fülle solcher Regelmäßigkeiten (teilweise von gesetzhafter Art) offenbaren.

Gerade an dieser Stelle tritt das Paradox

besonders scharf zutage. Derselbe Neurologe, der den Menschen als Objekt betrachtet, das ihm eine Fülle von Regelmäßigkeiten bis hin zu Gesetzen offenbart, ist als deren Beobachter und Entdecker zur gleichen Zeit notwendig auch Subjekt. In dieser Rolle aber fühlt er sich nicht nur frei – er muss es sogar sein, weil sein Vorgehen andernfalls an einem unüberwindbaren Widerspruch scheitern würde. Wäre der Mensch als Objekt für ihn durchgehend von Gesetzen bestimmt, wäre er also vollständig berechenbar – unfrei in populärer Diktion -, dann muss das für den beobachtenden Forscher natürlich genauso gelten. Mit anderen Worten, würde er selbst dazu verdammen, nur wie ein von unpersönlichen Gesetzen gesteuerter, willenloser Automat zu handeln, dessen Ergebnisse und Aussagen nur mechanisch-notwendige Produkte sein können – und zwar sämtliche Aussagen und Ergebnisse, auch die falschen, denn alle wären gleichermaßen durch Gesetze bedingt und daher notwendig. Schon die Unterscheidung von wissenschaftlich wahren im Gegensatz zu falschen Aussagen würde ihren Sinn verlieren.

Solange die Wissenschaft davon ausgeht,

dass grundsätzlich alles menschliche Denken und Handeln sich gesetzhaft deuten lässt (vorausgesetzt, wir würden unsere Forschung nur lange genug betreiben), ist dieses Paradox unauflösbar, weil der ihm zugrundeliegende Widerspruch logisch unüberwindbar ist. In unserer Zeit ist es modern, rein logischen Überlegungen die Beweiskraft abzusprechen. Lieber stellt man physiologische Experimente nach Benjamin Libet an oder wendet sich der Quantenphysik zu, um das Problem auf sehr aufwändige und kostspielige Weise zu klären.  Aber die elementaren Regeln der Logik und der wissenschaftlichen Wahrheit liegen aller Forschung zugrunde, deswegen ist das hier besprochene Paradox letztlich ausschlaggebend, auch wenn uns seine Erkenntnis nicht mehr kostet und abverlangt als etwas mehr als die durchschnittliche Denkfähigkeit.

Diese Erkenntnis ist unzweideutig: Wir mögen noch so viele Regeln oder sogar Gesetzmäßigkeiten im Denken und Handeln des Menschen entdecken, dennoch ist evident, dass ihn diese Regeln und Gesetzmäßigkeiten nie restlos bestimmen können. Neben der Bedingtheit unseres Denkens und Handelns durch Regeln oder Gesetze ergibt sich unsere Freiheit als ein elementares Faktum des Gegenübers von Subjekt- und Objektperspektive, die beide in jedem von uns angelegt sind.

Bezeichnend sind aber die Gegensätze von Temperament

und Neigung, die sich im Einzelnen zwischen den Forschern ergeben, und zwar vor allem, wenn es um die Deutung menschlichen Verhaltens in Geschichte (Historie), Politik (Politikwissenschaft), Gesellschaft (Soziologie) und zwischenmenschlichen Beziehungen geht (Psychologie). Seit dem 19. Jahrhundert bis in unsere Tage entfaltet sich hier ein Gegensatz, der sich vor allem in der Bereitschaft oder dem Widerstreben bekundet, die Methoden der exakten Naturwissenschaften auf die Sphäre des Menschen zu übertragen. Auch wenn in diesem Zusammenhang nicht explizit die Freiheit des Menschen verfochten wird, bzw. die gegenteilige Auffassung, wonach er genauso den Naturgesetzen unterworfen sei wie die Natur insgesamt, bleibt dieser Hintergrund immer spürbar. Er führt sogar zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, was unter seriöser Wissenschaft denn eigentlich zu verstehen sei. Ich halte diese Auseinandersetzung für ebenso irreführend wie den uralten Hahnenkampf zwischen den Vertretern von Freiheit und Notwendigkeit.

Wenden wir uns einem konkreten Beispiel zu:

der Auseinandersetzung über Joseph Henrich, einem unter Anthropologen sehr einflussreichen Harvardprofessor. Wie kein anderer vor ihm, hat dieser den Menschen und seine Geschichte im Hinblick auf wenige Merkmale zu erklären versucht, und zwar vor allem in Bezug auf die Dichte der biologischen Verwandtschaftsbeziehungen. Demnach verdanke Europa seinen geschichtlichen Sonderweg vor allem der Tatsache, dass die überall sonst auf der Welt das soziale Leben beherrschenden Clans seit dem vierten Jahrhundert durch die Heirats- und Familienpolitik der Kirche unterdrückt worden seien.*4*

Die Reaktion auf diese Thesen des Harvardanthropologen besteht in einem Aha-Erlebnis bei jenen, die sie für richtig erachten, dagegen halten seine Gegner sie für simplistisch – die komplexe historische Realität erlaube es nicht, menschliches Handeln (einschließlich menschlicher Psychologie) auf so einfache Art zu erklären.

Dieser Einwand geht, wie ich meine, an der Zielsetzung der Wissenschaften

vorbei. Alle Wissenschaft sucht die Wirklichkeit – gleichgültig ob die der äußeren Natur oder die des Menschen – mit so wenig Prinzipien und Faktoren wie möglich zu erklären. Albert Einstein hat in seiner berühmten „Weltformel“ nur drei Größen in Beziehung zueinander gesetzt, nämlich Energie, Masse und Lichtgeschwindigkeit. Jared Diamond hat einem einzigen Faktor, nämlich der durch enge Kohabitation mit Haustieren erworbene Keimresistenz der Europäer einen maßgeblichen Einfluss auf den Sieg der Europäer über die Großreiche der Azteken und Incas zuerkannt. Michael Mitterauer hat ebenfalls einem einzigen Faktor, nämlich der Verbreitung von Roggen (und Hafer für die Pferde) im Nordwesten Europas eine wesentliche Rolle für dessen Aufschwung nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs zugeschrieben.*5*

Wenn Joseph Henrichs stattdessen ein biologisches Faktum, die enge der Verwandtschaftsbeziehungen, als vorrangig für die besondere Entwicklung Europas betrachtet, so ist das ebenso legitim. Nicht die Frage, ob man komplexe historische Entwicklungen mit einem oder mit einer Vielzahl von Faktoren erklärt oder nur mit einem einzigen (monokausale Erklärung), ist entscheidend für die wissenschaftliche Seriosität, sondern ob die Erklärung richtig ist oder falsch(auch im Hinblick auf die ihr zugeschriebene Reichweite).

Eindimensionale Erklärungen komplexer Verhältnisse sind sehr oft falsch – das macht sie von vornherein verdächtig, aber wenn sie sich als richtig erweisen, dann werden sie dem Ideal wissenschaftlicher Erklärung (der Forderung nach größtmöglicher Einfachheit) eben auch in besonderem Maße gerecht. Henrich behauptet z.B., auf folgende statistische Korrelation gestoßen zu sein: „Je höher die Heiratsrate von Cousins und Cousinen in einer Provinz, desto höher ist auch die Korruptionsrate und die Mafiaaktivität.“ Diese Feststellung ist sensationell, weil sie zwei anscheinend völlig unterschiedliche kulturelle Dimensionen miteinander in Beziehung setzt: die Dichte biologischer Beziehungen einerseits, Verbrechen auf der anderen Seite. Nach Überprüfung der Zahlen in verschiedenen Teilen der Erde wird man Henrichs These entweder als zutreffend akzeptieren oder sie als falsch ablehnen müssen. Über die Ursache für diesen erstaunlichen Zusammenhang ist damit natürlich noch gar nichts gesagt. Einer der beiden Beziehungsgrößen könnte die Ursache der anderen sein oder ein Faktor, der außerhalb beider liegt. Für Henrich selbst liegt die Ursache in der besonderen Clan-Mentalität, die sich aus so engen Verwandtschaftsbeziehungen ergibt.

Die Freiheit des Menschen,

seine Komplexität und Vieldimensionalität, bleibt erhalten, auch wenn die Grenzen von Freiheit bisweilen durch ganz einfache Faktoren bestimmt sind. Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt die entscheidene Frage immer ein und dieselbe: halten die betreffenden Aussagen der Überprüfung stand, sind sie richtig oder falsch? Zum Beispiel hat der Mensch während seiner ganzen Geschichte die aberwitzigsten Theorien über Seuchen aufgestellt. Hexerei und Magie, der Zorn der Götter oder persönlicher Feinde wurde dafür verantwortlich gemacht und eine Unzahl unschuldiger Menschen aufgrund solcher imaginärer Ursachen verfolgt. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Existenz von Bakterien und noch später die von Viren entdeckt. Da hat diese richtige monokausale Erklärung dann augenlicklich die falschen höchst komplexen multikausalen Begründungen früherer Zeiten hinweggefegt. Menschliche Freiheit findet eben manchmal auch an einer einzigen Ursache wie Bakterien oder Viren ihre Begrenzung.

*1* . Hierzu sein Fachkollege Lüder Deecke (2012, Pos. 1458): „Gerhard Roth, who worked predominantly on salamanders, is trying to persuade us to give up responsibility… Another neuroscientist, Wolf Singer, an expert of the visual system… is of the opinion that the principle of responsibility of man is untenable, for in the brain there is no leadership… Wolf Singer draws extensive conclusions for our legal system from his dubious premises, he pleads for the abolition of responsibility.“

*2* . In meinem Buch „Schöpferische Vernunft“ habe ich diese Argumente um mehrere Stränge erweitert.

*3* . Sehr schön drückt dies der polnische Philosoph Leszek Kolakowski aus:

Die unbekannte Welt kann Quelle der Angst sein, aber Quelle derselben kann die übermäßig vertraute Welt mit einem wohlbekannten weil von uns selbst geplanten Lauf sein… In den Dingen, die wir uns dank der Jahrhunderte dramatischer Anstrengung untertan gemacht haben, vermögen wir keine mythische Organisation mehr zu entdecken noch ernsthaft an sie zu glauben. Eben weil sie gebändigt sind, gewissermaßen vor den Karren gespannt, den wir zu lenken verstehen, erscheinen die physischen Energien unserem Blick hundertfach „entmenschlichter“, gleichgültiger, in der Fülle der Sinnlosigkeit, obwohl wir sie gerade sinnvoll in unsere Vorhaben integrierten. Wir sehnen uns erneut nach der aufgegeben Unvorhersehbarkeit der Dinge…, wir sehnen uns danach seit dem 18. Jahrhundert, von dem Augenblick an, in dem die mechanisierte Industrie die Erdoberfläche zu verändern begann.“ (Leszek Kolakowski 1973; S. 98)

… die völlige Vorhersehbarkeit /ist/ eine Qualität, die sich grundsätzlich von dem unterscheidet, was uns aus den Beziehungen zu anderen Menschen.. bekannt ist. In den Begegnungen mit anderen Menschen, in denen es uns gelingt, die Regeln des sachlichen Austausches zu lockern und die auf beiden Seiten pulsierende Spontaneität zu Worte kommen zu lassen, stellt die Unfähigkeit zur Vorhersage sowie deren Überflüssigkeit einen spezifisch menschlichen Wert für uns dar; die Vorhersehbarkeit des anderen Menschen ist eine Eigenschaft der verdinglichten Beziehungen zwischen uns: jede Spontaneität ist schöpferisch.. (Leszek Kolakowski 1973; S. 97).

*4*  In meinem voraufgehenden Aufsatz habe ich Henrich’s Thesen eingehender beleuchtet.

*5* . Wobei im Gefolge dieses Wechsels zu neuen Getreidearten die Integration von Ackerbau und Großviehaltung, ein tieferes Durchpflügen der Böden, die Nutzung von Wassermühlen und anderes mehr verbunden war.

Dies ist mein Begleitschreiben an Herrn Mitterauer:

Lieber Herr Mitterauer,

Ihre beiden Aufsätze – der eine zum Sonderweg Europa, der andere über endogame Verwandtschaftsbeziehungen – habe ich nicht nur mit Gewinn sondern zusätzlich auch mit Vergnügen gelesen, weil sie für mich jene Art von Geschichtsschreibung verkörpern, welche akribische Sorgfalt im Umgang mit dem konkreten Geschehen mit dem Bestreben verbindet, die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge zu erkennen. Aufgefallen ist mir natürlich, dass Sie mit Ihren Forschungen über den Einfluss der Papstkirche auf die Entwicklung der Verwandtschaftsbeziehungen das empirische Fundament gelegt haben, auf dem Henrich dann sein luftiges Gebäude türmen konnte (immerhin zitiert er Sie 35 Male). Von den Vorbehalten und Einschränkungen, die man bei Ihnen findet, ist bei ihm allerdings nichts mehr zu bemerken.

Ich verstehe Ihre Kritik an Joseph Henrich und kann mir Ihre Überraschung vorstellen, dass ich darauf mit einem Aufsatz antworte, in dem zunächst sehr allgemein von Freiheit und Notwendigkeit die Rede ist. Lassen Sie mich dieses Vorgehen in diesem Begleitschreiben begründen.

Ich sehe in unserer Zeit zwei Tendenzen wirken, welche die bisherige Geschichtsschreibung grundlegend verändern. Während die klassische Art darin bestand, sich an großen Vorbildern (vor allem an großen Männern) auszurichten und in diesen die eigentlichen Demiurgen geschichtlicher Transformationen zu suchen, wird spätestens seit Marx die Tendenz vorherrschend, unpersönliche Mechanismen sozialer, psychologischer, politischer Art an deren Stelle zu setzen. Das demokratische Pathos wehrt sich schließlich auch noch dagegen, dass man Gestalten der Vergangenheit für glaubwürdiger hält als den Normalmenschen unserer Zeit (da wir doch alle grundsätzlich gleich sind). Diese Entwicklung gipfelt dann logischerweise darin, so wie Henrich vorzugehen: Zu allem und jedem werden heute lebende Menschen befragt und ihre Antworten statistisch ausgewertet, um auf diese Weise auch die weit hinter uns liegende Geschichte zu deuten. 

Auf die zweite Tendenz komme ich zu sprechen, wenn ich über den Umweg von Freiheit und Notwendigkeit auf Ihren Einwand eingehe, dass Sie das Vorgehen von Henrich nicht als wissenschaftlich seriös akzeptieren. Hier bin ich nicht ganz einverstanden. Sicher ist sein Vorgehen unseriös, wenn seine Fachkollegen ihm nachweisen können, dass seine Verallgemeinerungen empirisch nicht gerechtfertigt sind – also falsch. Aber gegen Verallgemeinerungen an sich – selbst die gewagtesten – ist aus wissenschaftlicher Sicht – so meine These – nichts einzuwenden. Genauer gesagt, nichts, außer dass dann von der bisherigen Geschichtsschreibung wenig übrigbleibt. Denn was uns in Henrichs Buch vor Augen steht, ist eine höchst bedenkliche Angleichung der Human- an die Naturwissenschaften. Letztere können sich erlauben, das gesamte Naturgeschehen in einer einzigen Formel wie E = m*c2 zusammenzufassen, weil die Regelmäßigkeiten der Natur Gesetze sind, die für menschliche Begriffe ewig in Geltung sind. Aber das trifft offensichtlich nicht auf die Sphäre des Menschen und seiner Institutionen zu.

Nun gibt es das Bestreben, die Methoden der Naturwissenschaften auch auf die des Geistes zu übertragen, schon seit dem 17. Jahrhundert – die deutsche Romantik aber hat es nur zeitweise mit Erfolg abgewehrt. Damit es jetzt wohl vorbei: Bei Henrich bricht diese Tendenz in voller Stärke neuerlich durch. Seine Arbeit (schwer lesbar aufgrund dauernder Wiederholungen) lässt sich ebenfalls in einer einzigen Formel zusammenfassen: Fortschritt = Zerstörung enger Verwandtschaftsbeziehungen + psychische Faktoren A, B, C…

Wie gesagt, dieses Bestreben an sich, halte ich nicht für unwissenschaftlich. Das wird es nur, wenn man glaubt, solche Formeln ebenso anwenden zu können wie die der Naturwissenschaften. Was diese damit bezwecken, liegt ja offen zutage. Einsteins Weltformel verschafft uns Macht. Mit ihrer Hilfe haben wir uns die nuklearen Kräfte der Natur dienstbar gemacht.

Aber gesetzt einmal den Fall Henrichs Formel wäre empirisch richtig. Würde man sie dann auf die gleiche Art verwenden können, um damit Macht über Mensch und Gesellschaft auszuüben? Konkret gesprochen man einer Regierung damit ein Rezept von der Art an die Hand geben: Achtet darauf, keine Heirat zwischen Cousins und Cousinen zuzulassen, dann entwickelt sich eine Gesellschaft nämlich in Richtung von Demokratie, Innovation etc.?

Genauso wie Sie, lieber Herr Mitterauer, habe ich gegen diese neue Art der Geschichtsverwertung (oder besser der Abschaffung von Geschichte, denn darauf läuft es hinaus) die größten Vorbehalte. Bis in die neuere Zeit haben Menschen sich an großen Vorbildern orientiert. Mit ungeheurem Vergnügen habe ich Will Durant gelesen, einen Meister dieser empathischen Art der Geschichtsdarstellung. Ich kenne aber einen professoralen Banausen, der – um mit Nietzsche zu reden – zwar nie mehr als ein, zwei philologische Regenwürmer entdeckte, aber sich dennoch erlaubt, diesen enzyklopädisch gebildeten Mann von oben herab als bloßen Popularisator abzuwerten. Der Banause ist doppelt im Unrecht. Durant ist längst nicht mehr populär. Heute liest ihn niemand mehr, obwohl er von uns nur durch eine einzige Generation getrennt ist.

Nun aber mein eigentlicher Vorbehalt gegen Henrich, den ich in meinem ersten Aufsatz noch unterschlug. Selbst wenn seine Verallgemeinerungen nicht als empirisch falsch entkräftet werden, lassen sich die darauf begründeten Formeln niemals wie die der Naturwissenschaften zu praktischen Zwecken verwenden. Denn hier kommt die menschliche Freiheit abermals mächtig ins Spiel. Wenn der Mensch unter Ordnung erstickt, sehnt er sich nach dem Chaos (siehe mein Zitat aus Kolakowski), wenn um ihn die Welt im Chaos zerfällt, sehnt er sich umgekehrt nach nichts so sehr wie nach Ordnung. Um es in den Worten von Paul Valéry zu sagen: Zwei Dinge bedrohen ständig die Welt: die Ordnung und die Unordnung. Er lebt also mit und in Gegensätzen, die einander bedingen.

Deswegen führt eine Formel von der Art „Fortschritt = Zerstörung enger Verwandtschaftsbeziehungen“ ganz in die Irre. Wir sehen ja gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass Amerika kein Schmelztiegel mehr ist sondern in seine Ethnien zu zerfallen droht. Aber nicht nur dort, überall auf der Welt scheint der ethnische Nationalismus auf dem Vormarsch zu sein. Wohin die Lockerung aller engen zwischenmenschlichen Bindungen führt, sehen wir weiterhin darin, dass sie nun auch die älteste Institution der Menschheit überhaupt zu zersetzen droht, nämlich die Ehe. Könnte man nicht die These vertreten, dass die Auflösung der endogamen Bindungen nur solange kein Problem darstellte, wie die Ehe dem einzelnen eine ausreichende emotionale Verankerung gewährte?

Von der Bedingtheit der Gegensätze weiß Henrich nichts und ebenso wenig wissen es jene seiner Nachfolger, welche die Geisteswissenschaft dadurch vernichten, dass sie aus ihnen eine Naturwissenschaft machen wollen (denn sie überschneidet sich nur teilweise mit ihnen).

Mit herzlichen Grüßen

Gero Jenner