Die Pfingstheuchler

(auch erschienen in: "scharf-links")

(Angeregt durch eine Gruppe österreichischer Pfingstvisionäre, spricht dieser Essay eine Warnung aus: eine Warnung vor dem oberflächlichen Denken bis hin zu moralischer Unredlichkeit der religiös allzu Bewegten und spirituell gar zu Beschwingten)

Sie wissen genau, wie viele Kinder pro Tag weltweit an Unterernährung sterben, sie wissen, dass die Flüchtlinge aus Afrika an die Küsten Europas drängen und sie beschwören die Not der syrischen Immigranten, die an die Tore Deutschlands und Österreichs pochen. Sie wissen um das ganze Elend der Welt und predigen es bei jeder Gelegenheit mit bebender Stimme, so als hätten sie selbst darunter zu leiden. Vor allem aber wissen sie genau, wer die Verantwortung für dieses Elend trägt, nämlich die anderen: stets die anderen. Der Innenminister zum Beispiel, der die Asylanten an den Grenzen auffangen lässt und sie postwendend wieder abschiebt. Die Regierung natürlich, weil ihr der Sinn für Menschlichkeit fehlt. Die Bundesländer, weil sie viel mehr Auffanglager errichten könnten. Die Reichen, die keinerlei Empathie mit den Armen aufbringen. Kurz, die anderen sind schuldig, niemals aber sie selbst, die uns ihre Empörung so wortreich und so gekonnt aufzutischen verstehen.

Auch die Wissenschaft wird natürlich schuldig gesprochen, weil sie uns angeblich das Märchen von der Begrenztheit der Ressourcen erzählt, obwohl doch die Eingeweihten schon immer wüssten, dass alles nur ein Problem der Verteilung sei: Der Globus könne mindestens noch die doppelte Zahl an Menschen ernähren. Nur Verteilung? Ja, aber wenn es wirklich nur ein Problem der Verteilung ist, warum verteilen sie denn gar nichts? Überall stehen doch Klöster leer, Pfarr- und Bischofssitze sind oft weit und großzügig ausgelegt (man braucht da keineswegs erst an Tebartz-van Elst zu denken), aufgelassene Kirchen würden Raum genug bieten, und rechnet man noch die große Zahl jener hinzu, die den Worten der Empörten ergriffen lauschen, dann stehen überall in Deutschland und Österreich Zehntausende von Wohnungen zur Verfügung, von denen jede in Afrika wenigstens einem Dutzend, in Indien mehreren Dutzend Menschen Unterkunft bieten würde. Warum führen sie immer nur schöne Reden, statt ihre Wohnungen und Räume den Elenden und Flüchtlingen zu öffnen? Von diesen gibt es ja wirklich genug, wenn nicht aus Syrien oder Afrika, die kommen ja gar nicht erst über die Grenze, sondern aus Teilen Europas selbst, z.B. Rumänien, wo die Ärmsten der Armen, die Roma, unter unsäglichen Bedingungen existieren. Also bitte, warum öffnet nicht ihr – nicht irgendwer, sondern allererst ihr – eure üppigen Wohnungen diesen Menschen, teilt mit ihnen euren weit überdurchschnittlichen Lebensstandard. Verstehen wir anderen denn die Bibel so völlig falsch oder ist bei Lukas nicht wörtlich zu lesen, dass der Samariter mit eigener Hand Hilfe leistet?

Aber schade, selbst wenn ihr, die religiös Beamteten und spirituell Empörten, einmal euer Eigenes gebt, opfert ihr kein Gut aus eigener Arbeit, denn ihr werdet ja vom Staat, d.h. von der Allgemeinheit erhalten. Gewöhnlich aber begnügt ihr euch überhaupt mit der Empörung: Die geht zu Herzen, aber sie kostet nichts – bezahlen, das sollen immer die anderen. Vom Staat, genauer gesagt, von der arbeitenden Bevölkerung, die den Staat mit ihren Steuern erhält, verlangt ihr, dass er die Immigranten ins Land strömen lässt, sie kleidet, ernährt, ihnen Unterkünfte und möglichst auch Arbeit bietet. Alles andere sei ungerecht, unmenschlich und unmoralisch: ihr wisst das so schön mit bebender Stimme oder in (an)klagendem Ton vorzutragen.

Dabei seid ihr sogar im Recht: Es ist ungerecht, unmenschlich und unmoralisch. Nur leider wäre ein konsequent gegenteiliges Handeln um nichts weniger ungerecht, unmenschlich und unmoralisch. Diese Kehrseite der Medaille kommt euch natürlich nicht in den Sinn – die blendet ihr im Gegenteil sorgfältig aus. Denn nicht ihr würdet ja eure gut gesicherten Arbeitsplätze verlieren, wenn man all die Elenden wirklich bei uns aufnehmen würde, betroffen wäre wiederum der hart arbeitende und jetzt schon am schlechtesten bezahlte Teil der Bevölkerung. Deshalb gibt es ja einen Zerberus, genannt Innenminister, der den weitaus undankbarsten Posten in jeder Regierung besetzt, weil er im Dienst dieser hart arbeitenden und am schlechtesten bezahlten Mehrheit gegenüber den Elenden da draußen unmenschlich und unmoralisch vorgehen muss, damit er nicht die eigene Bevölkerung unmenschlich und unmoralisch behandelt. Innenminister zu sein, ist wahrlich kein Spaß, man hat nur die Wahl zwischen verschiedenen Arten der Unmenschlichkeit.

Das alles seht ihr, die Allzuempörten, nicht, denn ihr kennt nur eine einzige Wahrheit und noch dazu eine, die sich im schönen Gerede erschöpft. Wer zu euch gehören will, der muss zuallererst einmal die hohe Kunst beherrschen, nur auf einem Auge zu sehen und nur mit einem Ohr zu hören – vor allem anderen muss er die Augen und Ohren verschließen: Selbstsicher, selbstgerecht und selbstgefällig. Nirgendwo blühen Scheinheiligkeit und Heuchelei so üppig wie unter den religiös allzu Bewegten und den spirituell gar zu Beschwingten!

Immer müsst ihr herunterbeten, dass alles nur ein Problem der Verteilung sei und die Menschheit sich deshalb nach Belieben vermehren dürfe: Keine Sünde sei so groß, wie dieser Vermehrung des Lebens eine Grenze zu setzen – selbst um den Preis, dass das entstehende Leben dann nur noch unter unsäglichen Bedingungen dahinvegetiert. Wiederum sind dann die anderen schuld, die sich nicht an eure heuchlerischen Ratschläge halten. Zum Beispiel die Chinesen mit ihrer von oben erzwungenen Einkind-Politik. Sie war grausam gegen die Menschen und ist es immer noch, aber sie hat dazu beigetragen, noch viel größeres und grausameres Leid zu verhindern: ohne diesen Eingriff des Staates wäre die Bevölkerung dort auf mindesten zwei Milliarden gewachsen, und diese Menschenflut würde auch heute noch im tiefsten Elend dahinvegetieren – so wie sie es bis noch vor einem halben Jahrhundert tat.

Alles nur ein Problem der Verteilung? Eben nicht. Selbst mit dieser Einkind-Politik kann das Land seine Menschen nicht mehr aus eigener Kraft ernähren, deswegen kauft China in Afrika und Südamerika gewaltige Landflächen auf und untergräbt die Nahrungsbasis der dort heimischen Bevölkerungen. Gewiss, zur Zeit vermag der Globus die etwa sieben Milliarden Menschen noch zu ernähren, aber nur deswegen – hört ihr! – allein deswegen, weil wir alle auf Pump wirtschaften: zu Lasten künftiger Generationen, denn wir ernähren uns im wörtlichen Sinn von Öl, wie jeder weiß, eine versiegende Quelle. Die grüne Revolution, mit der es gelang, den Ernteertrag auf gleicher Fläche auf das Vierfache zu steigern, ist ohne den andauernden Einsatz petrochemischer Ressourcen nicht zu denken.

All das brauchen die religiös Empörten und spirituell Bewegten nicht zu wissen. Sie hören ja eine innere Stimme: Die sagt ihnen, dass der Globus ganz bestimmt vierzehn Milliarden zu tragen vermag. Diese Wahrheit brauchen sie nicht wie andere Menschen aus der profanen Wissenschaft zu beziehen, sondern nehmen sie von einer höheren Stelle entgegen. Daher der Glanz in ihren Augen, daher ihre unerschütterliche Selbstgerechtigkeit und -gewissheit, daher auch ihre Überzeugung, dass sie schon das Aussprechen ihrer halbblinden, halbtauben Wahrheit zu einer besonderen Klasse von Menschen macht.

Aber bitte, dieser Glanz ist verräterisch. Noch bis vor zweihundert Jahren hat sich in euren Augen das Feuer der Scheiterhaufen gespiegelt, auf denen ihr Ketzer, Hexen, Heiden, Zweifler, Sodomiten (also vor allem Homosexuelle) und überhaupt all jene Widersacher verbranntet, die ihr des Umgangs mit dem Teufel bezichtigt habt, nur weil sie eure Wahrheiten nicht teilten. Das darf man nicht sagen? Ihr schüttelt empört den Kopf und weist einen derartigen Blick in die Geschichte als dreist und anachronistisch zurück, weil ihr die damals Verfemten doch längst mit rituellen Umarmungen in euer Alltagsprogramm integriert?

Gewiss, ihr gebt euch beflissen Mühe, die Erinnerung an eine mehr als tausendjährige Verfolgung Andersdenkender aus eurem und aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Die Absolution habt ihr einfach von oben eingefordert. Aber stellt euch doch bitte vor, dass einige von den Hunderttausenden, die ihr aus dem Leben gebrannt und gefoltert habt, dieses Leuchten in euren Augen auch heute noch sehen und davor ein zweites Mal zu Tode erstarren. Es waren eure Selbstgerechtigkeit, eure Selbstgewissheit, eure Selbstgefälligkeit, euer angebliches Monopol auf DIE Wahrheit, womit ihre eine blutige Spur durch die Geschichte zogt. Habt ihr diese Vergangenheit jemals bewältigt, wollt ich auch nur etwas von ihr wissen?

Nein, ihr habt die Vergangenheit niemals bewältigt, ihr habt sie verdrängt! Denn ihr gesteht euch nicht einmal ein, dass nicht ihr es wart, die religiös Bewegten und spirituell Empörten, ihr, die Monopolisten der Wahrheit, die die Wandlung zu Toleranz gegenüber Andersdenkenden aus eigener Kraft und innerer Überzeugung vollbrachtet. Seid doch wenigstens hier einmal ehrlich! Die Wandlung zur Toleranz wurde euch von den Zweiflern und Ungläubigen, kurz den Humanisten der Aufklärung, abgerungen und aufgezwungen. Erst Voltaire, Diderot, Hume und Kant haben aus Europa einen Kontinent der vielen koexistierenden Wahrheiten und Lebensweisen gemacht, nachdem sich die Menschen auf euer Geheiß noch ein Jahrhundert zuvor in blutigen Religionskriegen zerfleischten. Allein die Zweifler und Ungläubigen sind es gewesen, die die Menschen das friedliche Zusammenleben lehrten.

Dennoch, bei aller Empörung über eure Art der allzu wohlfeilen Empörung, sollten wir nicht vergessen, dass es auch noch eine andere Geschichte gab und dass es auch diese Geschichte weiterhin gibt. Es ist kaum zu glauben, aber auch die wirklichen Heiligen existieren, jene, die wie der biblische Samariter tatsächlich das Eigene an die Leidenden verschenkten. Sie allerdings leben meist nicht in Luxusquartieren, und in der Regel geht es ihnen verdammt schlecht, auch wenn sie nicht gerade gekreuzigt werden. In einer Stadt von 100 000 findet man selten mehr als einen einzigen aus ihren Reihen. Auf den großen Versammlungen, wo ihr, die religiös Bewegten, eure großartigen Auftritte feiert und eure Krokodilstränen reichlich vergießt, sind sie jedenfalls nie zu sehen, das schöne Reden liegt ihnen nicht besonders. Denn sie sind ja den Heuchlern stets ein Dorn im Auge gewesen, durch ihre bloße Gegenwart fühlen diese sich überführt und entlarvt. Sie müssen tot und unschädlich sein, bevor man sie selig spricht.

Nun aber zu uns, der großen Mehrheit der Ungläubigen und Zweifler, die weder zu den Heiligen zählt noch sich im Besitze der einzigen Wahrheit wähnt. Was machen denn wir? Seien wir ehrlich: Keiner von uns ist bereit, mehr als seine ausgedienten Hemden und Geräte zu verschenken, niemand tritt auch nur einen einzigen Raum seiner eigenen Wohnung an Asylanten und Roma ab. Hin und wieder überweisen wir anonym einen Betrag, um unser Gewissen ruhig zu stellen. Das ist alles. Es stimmt, wir sind um keinen Deut besser als die Heuchler, aber wir predigen auch nicht den anderen, was wir selbst nicht fertig bringen und außer ein, zwei Heiligen auch sonst niemand fertig bringt.

Aber bitte, das heißt keineswegs, dass wir nicht eine bessere Welt für möglich halten und dass es viele unter uns gibt, die dazu einen mehr oder weniger bedeutenden Beitrag leisten. Gegen den immer noch wachsenden Bevölkerungsdruck, der den Planeten ökologisch zu ruinieren droht, hat niemand mehr getan und noch dazu auf eine für den Menschen so leidlose Weise als ein Wissenschaftler: Carl Djerassi – für alle Dunkelmänner gleichwohl ein Feind des Lebens. Für die Energiewende hat sich eine Politikerin eingesetzt, Angela Merkel. Für die bessere Nutzung der Ressourcen und eine sinnvolle Reduzierung ihres Verbrauchs setzen sich überall auf der Welt Tausende von Aktionsgruppen ein. Eine vernünftige Einwanderungspolitik ist das gemeinsame Anliegen aller, die nicht nur das Elend der anderen, sondern auch die Auswirkungen auf die eigene Bevölkerung im Auge haben. Für diese Ziele wird keine Spiritualität benötigt, schon gar keine exklusive Wahrheit, keine spirituelle Empörungs- oder religiöse Gesinnungsethik, sondern lediglich das, was Max Weber einmal schlicht und knapp die ‚Verantwortungsethik’ nannte.

Allerdings ist das nicht alles – nein es gibt noch eine ganz andere Seite, die unser Sein, unsere Gefühle berührt. Jedes Mal, wenn ich in Wien bin und eintauche in das geheimnisvolle Dunkel des Stephansdoms, wird mir das mit Erschauern bewusst. Da ist wirklich noch etwas anderes – kein Gott im Himmel, mag er nun Jehova, Vishnu oder Allah heißen, denn den hat noch niemand von uns gesehen – aber ein Gott, der in jedem menschlichen Herz aufersteht, ein gewaltiger, rätselhafter, unbekannter, Gott, der all die Künstler, Bildner, Denker bewegte, die dieses unvergleichliche Bauwerk geschaffen haben, ein Bauwerk, das niemandem gehört, sondern allen, weil es wie eine Utopie in den Alltag ragt. An diese Spiritualität im Menschen, an diese Utopie mitten im Alltag glaube ich, aber sie hat niemals jener bedurft, die vorgeben, sie für sich ganz allein zu pachten.