Der Schweizer Psychiater C. G. Jung sah die Welt des Menschen zweigeteilt: neben ihrer für alle sichtbaren und offiziellen Erscheinung gebe es immer auch einen sie begleitenden, oft ins Unbewusste verdrängten Schatten. Der Schatten der Aufklärung mit ihrer Verherrlichung der Vernunft war das Bestreben der Romantik, die dunklen und unbewussten Triebkräfte auszuloten. Der Schatten der Chemie war eine europaweit wuchernde Alchemie. Der Schatten der von der französischen Revolution eingeforderten Gleichheit der Menschen war die Diktatur Robespierres.
I Globalisierung und Nationalismus
Der Schatten einer Globalisierung, welche eine gemeinsame technische und wissenschaftliche Zivilisation über den Planeten verbreitet und selbst auf pazifischen Inseln keine Abgeschiedenheit mehr ermöglicht – dieser Schatten ist ein wütender, virulenter, militanter Nationalismus, der aber durchaus nicht ins Unbewusste verdrängt wird, sondern in jüngster Zeit die Welt mit der Wucht einer Epidemie befällt. Dabei scheinen die dabei verfolgten Ziele einander diametral entgegengesetzt. Während Globalisierung die Angleichung der Lebensverhältnisse und damit zunehmende Einheitlichkeit bewirkt, ist es dem Nationalismus um größtmögliche Eigenständigkeit zu tun – bis hin zur völligen Abschließung nach außen.
Dieses Bestreben leuchtet auf den ersten Blick ein, da es im kleinen und privaten Bereich überall auf der Welt akzeptiert und vollzogen wird. Jeder will Herr im eigenen Haus und auf dem eigenen Grundstück sein – my home is my castle! Die Streitereien zwischen Nachbarn aufgrund von realen oder fiktiven Übergriffen sind Legion und werden meist auch mit dem besten Gewissen ausgeübt. Psychologie und Philosophie sprechen zudem jedem Menschen das Recht auf „Selbstverwirklichung“ zu, also auf die bewusste Hervorkehrung persönlicher Eigenheiten. Die Gleichschaltung, wie sie von totalitären Systemen verordnet wird, erscheint da als schlimmste Verletzung dieses Grundrechtes auf Eigenständigkeit.
So gesehen, ist das Streben nach größtmöglicher Eigenständigkeit auf nationaler Ebene nichts anderes als die Extension eines Rechts, das jeder Einzelne für die eigene Person und den Umgang mit seinem Eigentum in der Regel herrisch für sich in Anspruch nimmt. Auch wenn der Nationalist sich nicht ausdrücklich auf dieses individualpsychologische Recht beruft, liegt es doch seinem Protest zugrunde, wenn er zum Beispiel in der Europäischen Union eine Instanz erblickt, welche die Handlungsfreiheit (Souveränität) der sie konstituierenden Einzelstaaten beschränkt und er sie aus diesem Grund bekämpft.
Wer das eben Gesagte ernst nimmt, müsste folgerichtigerweise der Meinung sein, dass politische Zusammenschlüsse grundsätzlich ein Übel sind, da sie eine Einschränkung von Freiheit bedeuten. Warum finden sie aber dennoch statt, und zwar soweit wir in die Geschichte zurückblicken können? Warum haben sich im Laufe der Geschichte Familien zu Sippen, Sippen zu Stämmen, Stämme zu Städten, Städte zu Ländern, Länder zu Staatenbünden usw. zusammengeschlossen? Und warum gibt es überaus gescheite Leute wie etwa Albert Einstein und den großen Historiker Arnold Toynbee, für die der zwangsläufige Abschluss dieser Entwicklung in der politischen Union der Menschheit unter einer Weltregierung besteht? Anders gefragt, warum glauben diese – falschen oder vielleicht besonders hellsichtigen? – Propheten, dass die Globalisierung irgendwann alle Nationalismen für immer besiegen wird?
II Neue Erfindungen erzwingen neue Formen der Organisation
Jäger und Sammler konnten sich allenfalls dann zu größeren Gruppen zusammenschließen, wenn ihre Beute lokal besonders reichlich vorhanden war (diesem seltenen Fall begegnen wir z.B. bei den Kwakiutl an der nordwestlichen Küste der Vereinigten Staaten). Andernfalls musste es ihr Bestreben sein, einander möglichst aus dem Weg zu gehen, weil die Nahrung am selben Ort immer nur für wenige Menschen reichte. Selten umfassten ihre Gruppen daher mehr als ein bis zwei Dutzend Menschen, die auf der Suche nach Wild und essbaren Früchten Savannen und Wälder durchstreiften. Erst die sogenannte neolithische Revolution, bestehend in der aktiven Erzeugung von Nahrung durch den Anbau von Feldfrüchten und der Aufzucht von Vieh, machte Sesshaftigkeit möglich, weil das Angebot von Nahrung durch die landwirtschaftliche Technik vervielfältigt wurde. Diese erste und wahrhaft revolutionäre Umwälzung der Lebensbedingungen schuf aber neue, bis dahin unbekannte Probleme. Sesshafte Bauern waren besonders verwundbar. Die weiterhin existierenden Jäger und Sammler, also bewaffnete Nomaden, konnten sie jederzeit um die Früchte ihrer Arbeit bringen. Die Bauern mussten sich daher zu politischen Gruppen zusammenschließen, die ihnen Schutz gewährten. Außer in abgelegenen Gartenkulturen oder auf schwer erreichbaren Inseln konnte sich die neue agrarische Lebensweise, wo sesshafte Bauern die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildeten, nur in großen organisatorischen Einheiten behaupten: also in befriedeten und bewaffneten Staaten.
Doch auch diese schon bald sehr reichen und bevölkerten Staaten konnten sich niemals sicher fühlen. Zwar hatten sie keine Mühe, sich gegen die noch bestehenden klassischen Jäger und Sammler zu behaupten, nicht aber gegen eine neue Erfindung, die den Nomaden schlagartig zu welthistorischer Überlegenheit verhalf. Das war die „Erfindung“ des berittenen Nomaden mit Kompositbogen auf einem mit Steigbügel versehenen Pferd. Ein so ausgerüsteter Reiter konnte auf eine Distanz bis zu 150 Metern Feinde vom galoppierenden Pferd aus töten. Die Hunnen bedienten sich zuerst dieser neuen Waffe und brachten den reichsten und mächtigsten Staat jener Zeit, die römische Weltmacht, ins Wanken. Im dreizehnten Jahrhundert folgten ihnen die Mongolen und schufen das erste den Globus umspannende Weltreich, indem sie den größten Teil des eurasischen Kontinents zu einer vorübergehenden Einheit zusammenfügten.
Immer waren und sind es besondere Erfindungen, die solche Zusammenschlüsse nicht nur ermöglichten, sondern sie gegen jeden Widerstand erzwingen. Die großen politischen Reiche im Zweistromland, in Ägypten, in China und im Industal waren aufgrund der neuen Erfindung der agrarischen Nahrungsproduktion entstanden. Die Eroberungen durch Hunnen und Mongolen verdankten ihren spektakulären Erfolg dem berittenen Kämpfer mit Kompositbogen. Keine der großen politischen Zusammenschlüsse, die durch diese Erfindungen ermöglicht wurden, war zuvor beabsichtigt, geplant oder auch nur vorausgesehen worden. Sie ergaben sich als das erzwungene Resultat solcher Erfindungen.
Dabei sollte es bleiben. Nach dem Übergang zur Sesshaftigkeit und der damit einhergehenden explosionsartigen Vermehrung des verfügbaren Reichtums wurden die verschiedensten Neuerungen in stark beschleunigtem Tempo hervorgebracht. Kein Pochen auf Isolation und dauerhafte nationale Eigenständigkeit konnte sich auf Dauer dagegen behaupten. Nach der Erfindung von Landwirtschaft und Viehzucht wurden die wenigen noch verbliebenen Jäger und Sammler in die menschenfeindlichsten Rückzugsgebiete verdrängt. Nach Aufkommen der Städte, wo sich der Luxus entfalten konnte, breitete sich diese verdichtete Siedlungsform über den gesamten Planeten aus.
III Die Nationalisten werden zu den eifrigsten Nachahmern des Fremden, wenn es um die Instrumente des Todes geht
Am schnellsten verbreiteten und verbreiten sich bis heute die jeweils wirksamsten, also die tödlichsten Waffen. Gerade der kämpferische Nationalismus hat sich dagegen niemals gewehrt, selbst wenn deren Erfinder die verhassten „Erbfeinde“ waren. So zieht sich denn auch ein Paradox durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Zwar will jeder Herr im eigenen Hause sein, aber gerade deswegen übernimmt er auch von den Feinden alles, was die eigene Bevölkerung wehrhafter und reicher macht. Auf diese Weise haben sich nach Pfeil und Bogen, Axt und Schwert, danach Kanonen und Dynamit, schließlich Giftgase und in unserer Zeit Atombomben ausgebreitet. Der aggressive russische Nationalismus, der das Land am liebsten von der ganzen übrigen Welt abschließen will, hat de facto alles aufgesogen, was er vom Westen an Waffentechnik nur übernehmen kann und natürlich auch an zivilisatorischen Errungenschaften, angefangen von Eisenbahnen über Banken bis zur Altersversicherung. Die Hauptstadt Moskau ist eine moderne Großstadt wie jede andere. Von wenigen Erbstücken aus der Geschichte einmal abgesehen, dem Kreml zum Beispiel und einigen orthodoxen Kirchen, könnte sie ebenso in jedem anderen modernen Staat beheimatet sein. Die nationale Besonderheit Russlands besteht in unserer Zeit einzig darin, dass ein Diktator Land und Leute für seine Zwecke mit gleicher Brutalität missbraucht wie vor ihm Stalin oder Hitler. Die heutige russische Elite, vom Diktator mit allen Mitteln des totalitären Staats programmiert, sieht sich selbst und ihre zur Hörigkeit abgerichteten Untertanen als erwählte Nation, der das Recht auf Herrschaft über andere Völker gebührt. Hitler hatte die Deutschen zur führenden Rasse erklärt, Stalin redete den Russen ein, dass sie als Kommunisten an der Spitze der Menschheit stehen, Putin macht sie zu heldenhaften Antifaschisten, obwohl seine Politik ein Lehrstück in eroberungssüchtigem Faschismus ist. Anders gesagt, besteht die Essenz des aggressiven Nationalismus in ideologischer Selbstprogrammierung. Die statuierte Besonderheit wuchert nur in den Köpfen als eine von der Politik dort eingepflanzte App – äußerlich ist das Leben des städtischen Russen kaum von jenem zu unterscheiden, welches die Menschen in Europa oder den Vereinigten Staaten in vergleichbaren urbanen Zentren führen. Der Unterschied liegt einzig in dieser App in den Köpfen, in diesem militanten Nationalismus, der eine akute psychische Krankheit ist, weil das Bestreben nach nationaler „Selbstverwirklichung“ sich mit dem Hass gegen alles Fremde verbündet.
IV Wahre Patrioten sind niemals Nationalisten – sie sind aufgeklärte Kosmopoliten
In der Betonung nationaler Eigenständigkeit liegt kein Fehler, solange damit nichts anderes verlangt wird, als was jeder Einzelne auch für sich selbst einfordert, nämlich Herr im eigenen Hause zu sein. Dass er dieses Haus mit allem ausstatten will, was die äußere Welt ihm zu bieten hat, versteht sich dabei von selbst. Wir haben es hier mit dem gleichen Bestreben zu tun, welches aus einem gebildeten Menschen fast zwangsläufig einen Kosmopoliten macht, denn natürlich blickt dieser über die Grenzen des eigenen Staates und seiner jeweiligen geschichtlichen Gegenwart hinaus, um das eigene Leben zu bereichern, indem er sich Kenntnisse von Geschichte und Leben fremder Menschen jenseits der Grenzen verschafft. Diese Bereicherung des eigenen Hauses, des eigenen Staates, der eigenen Gegenwart durch das Wissen, das wir vom Leben und den Errungenschaften anderer Menschen – auch der uns Fremdesten – erwerben, ist letztlich Ziel und Zweck allen auf andere Kulturen und Zeiten bezogenen Wissens. Wir bewundern jeden, der aus dem eigenen Garten ein Muster von Schönheit und aus dem eigenen Haus ein Wunder an Wohnlichkeit macht und dabei von einem reichen Wissen aus aller Welt profitiert. Patriotismus, die Liebe zum jeweils eigenen, verträgt sich nicht nur, sie fordert sogar einen Kosmopolitismus, der diese Bereicherung für die eigene Stadt, die eigene Region, den eigenen Staat bezweckt, um diesen zu verschönern und wohnlicher zu machen.
Für diese Haltung ist daher niemand zu tadeln. Sie führt einerseits zu Offenheit allem Fremden gegenüber, verliert dabei aber niemals den Zweck dieser Offenheit aus den Augen, der eben darin besteht, das jeweils Eigene zu bereichern. Diese im besten Sinne humanistische Sicht war allerdings niemals selbstverständlich. Immer musste sie gegen den Rückfall in die Barbarei ankämpfen – gegen einen oft kriegerischen Nationalismus, den Hass auf alles Fremde predigte, weil dieses nicht als eine Bereicherung, sondern im Gegenteil als Bedrohung gesehen wurde. Denn auch diese Möglichkeit war in der menschlichen Geschichte immer schon präsent. Niemand von uns will gezwungen werden, andere Menschen im eigenen Haus zu beherbergen. Völkerwanderungen und ähnliche große Migrationsbewegungen haben aber nicht selten das Haus ganzer Staaten belagert oder sogar im Sturm genommen, ohne dass die ansässige Bevölkerung nach ihrer Einwilligung zu dieser Art der Globalisierung gefragt worden ist.
Bis vor dreihundert Jahren blieb der Kampf zwischen Globalisierung und ihren nationalistischen Gegnern weitgehend unentschieden. Die großen Weltkulturen China, Indien, Europa und Vorderer Orient hatten ihre maximale Ausdehnung unter den gegebenen geographischen und technischen Voraussetzungen erreicht und waren durch Meere, Wüsten und Gebirge auf natürliche Art voneinander getrennt. Bis zu dieser Zeit glich der Planet einem Paradiesesgarten, in dem die verschiedensten Früchte reiften. In China, Indien, in den afrikanischen Staaten oder auf einigen pazifischen Inseln lebte, liebte, wohnte, feierte, trauerte und starb der Mensch jeweils auf völlig andere Art als überall sonst auf dem Planeten. Selbst im kleinen Europa – diesem westlichen Zipfel des großen eurasischen Kontinents – unterschieden sich die Staaten Europas in menschengestalteter Landschaft, Kleidung, Aussehen der Städte und bis hin zu den Gesten und Umgangsformen des Alltags. Heute sind von der einstigen Vielfalt nur die verschiedenen Sprachen und die historischen Kerne einiger Städte übriggeblieben – und selbst diese gleichen sich mehr und mehr an. Was aber die Menschen betrifft, so hat die neue Spezies Homo Handyensis alle historischen Vorläufer auf dem gesamten Planeten verdrängt. Über ein kleines Leuchtdisplay gebeugt, hat Handyensis das eigene Gehirn weitgehend durch einen programmierten Chip ersetzt…
Der historisch Gebildete wird diese Entwicklung als großen Verlust bedauern, aber als Realist muss er sie dennoch begrüßen, denn er weiß, dass die heutige Menschheit sich einer völlig neuen Situation gegenübersieht. Das immer schnellere Karussell lebensverändernder Erfindungen treibt sie unerbittlich voran – und zwar in Richtung Abgrund.
V Das Wettrennen der Nationen und Staaten um das bequemere Leben
Wie sahen, dass es bahnbrechende Erfindungen waren, welche in der Vergangenheit den Zusammenschluss von kleinen zu größeren Einheiten erzwangen – von Familien zu Sippen, Sippen zu Stämmen, Stämmen zu Städten, Städten zu Ländern, Ländern zu Staatenbünden – die Globalisierung schritt beharrlich voran, gleichgültig ob die handelnden Akteure dies beabsichtigten oder nicht. Heute ist die Übernahme der jeweils neuesten Errungenschaften von Technik und Organisation zu einem Wettrennen um Macht und Wohlstand geworden, dem sich alle Staaten entziehen wollen, aber kein Staat mehr zu entziehen vermag. Die Globalisierung ist zu einer Walze geworden, die alle gewachsene Eigenständigkeit gewaltsam unter sich begräbt, dabei aber zur gleichen Zeit ihren Schatten hervorbringt: einen zunehmend schrillen und militanten Nationalismus.
Der Zwang zur Uniformierung beherrscht menschliche Geschichte seit der neolithischen Revolution, weil die Ursachen bis heute dieselben blieben. Diese Ursachen waren schon damals die Furcht einerseits und das Streben nach einem leichteren Leben auf der anderen Seite. Reden wir zunächst über die unwiderstehlichen Verlockungen des bequemeren Lebens. Es genügt ein einziges Beispiel aus der heutigen Zeit, um die Unwiderstehlichkeit zu belegen: das Auto. Selbst die hartnäckigsten Verteidiger der Tradition, seien es nun indische Gurus, chinesische Konfuzianer oder schamanistische Naturanbeter – haben keine Barriere gegen diese Erfindung errichtet, obwohl deren unmittelbare Wirkung aus einem Spinnengewebe aus geradlinigen Asphaltfäden besteht, die mittlerweile den ganzen Globus überziehen und überall die größten Veränderungen und Verwüstungen in der Landschaft und der Lebensweise der Menschen erzwingen. Autos oder Flugzeuge als moderne Mittel beschleunigter Fortbewegung sind aber nur die hervorstechendsten Symbole jener von Europa ausgegangenen Industriellen Revolution, deren Folgen das Antlitz des Planeten im Guten wie im Bösen bis zur Unkenntlichkeit verändern und teilweise entstellen. Einerseits wurde der Menschheit ein geschichtlich einmaliger Reichtum beschert, andererseits besteht der hässliche und gar nicht mehr zu verdrängende Schatten dieser Entwicklung in einer progressiven Vermüllung und Vergiftung des Globus durch CO2, Pestizide, Nanoplastik etc., wodurch dann eine weitere Folge ausgelöst wird: ein Artensterben, dem wir selbst am Ende zum Opfer zu fallen drohen. Das Bedürfnis nach einem bequemeren Leben schlägt an diesem Punkt in sein genaues Gegenteil um – in eine Klimakrise und Ökokatastrophe, die wie alle ihr vorausgegangenen Umwälzungen von niemandem vorhergesehen, geschweige denn geplant worden sind.
VI Das Wettrennen der Nationen um die militärische Macht
Neben dem Bestreben nach dem bequemeren Leben, das offenbar allen Menschen gemeinsam ist und daher auch mühelos allen Widerstand der Traditionen hinwegfegt, steht als zweite, noch mächtigere Triebkraft die Furcht. Sie hat mittlerweile eine existenzbedrohende Kulisse vor uns errichtet: die Selbstvernichtung mit nuklear bestückten Raketen, die überschallschnell jeden Punkt der Erde erreichen, und zwar innerhalb weniger Minuten, sodass Regierungen darauf nicht mehr zu reagieren vermögen. Jetzt sehen sich die Militärstrategen an der Spitze des Staates gezwungen, die Antwort auf einen gegnerischen Nuklearschlag an Maschinen zu delegieren, d.h. an Sensoren und automatische Abwehrsysteme, gefüttert mit künstlicher Intelligenz. Das ist eine erschütternde Konsequenz! Dank unseres Fortschritts und unseres überragenden wissenschaftlich-technischen Könnens sind wir an den Punkt der Selbstentmündigung gelangt. Wir müssen unser Schicksal in die Hände von Computern und Maschinen legen. In Zukunft sind sie es, die über Leben und Tod des Homo insapiens entscheiden. Nichts davon war geplant, nicht einmal vorausgesehen, die überragende Intelligenz unserer Art ist zu einem Fallstrick für das eigene Überleben geworden.
VII Globale Probleme nur noch global zu lösen
Manche schreiben diese Entwicklung dem „Kapitalismus“ zu, aber dieser ist nur eine Technik, die sich im Wettrennen der Nationen als besonders erfolgreich erwies, erfolgreich allerdings nur in kurzfristiger Perspektive. Während das Wettrennen der Nationen um ein materiell bequemeres Leben den Planeten mit dem ökologischen Kollaps bedroht, verheißt das Wettrennen um die tödlichsten Waffen Armageddon. In beiden Fällen handeln die Nationen nicht mehr aus selbstbestimmter Freiheit, sondern erlegen sich gegenseitig einen radikalen Verzicht auf eigene Freiheit auf. Russland und China rüsten auf, weil die USA gerade ein neues Waffensystem entwickeln (z.B. Trumps Golden Dome). Die USA rüsten auf, weil China immer mehr Geld in die eigene Waffenproduktion steckt und Russland überhaupt regelmäßig mit einem Atomschlag droht. Und alle drei rüsten auf, weil das Rennen eben immer so weiter geht. Denn nie war ein System unverwundbar: für jedes Schloss ersinnt menschliche Intelligenz einen neuen Schlüssel. Europa muss jetzt seinerseits massiv für die eigene Verteidigung zahlen, weil die USA unseren Schutz nicht mehr übernehmen wollen und wir aus der Geschichte wissen, dass die großen Fische stets auf der Lauer liegen, um die schwachen und kleinen zu schlucken.
Freiheitsberaubung im Wettrennen der Nationen läuft aber ebenso darauf hinaus, dass jeder Staat die eigene Bevölkerung beständig zu wissenschaftlich-technischen Höchstleistungen anspornen muss, will sie den errungenen Reichtum auch nur bewahren. Der Staat, der dabei am rücksichtslosesten verfährt, gibt dabei Tempo und Ausmaß vor. Dass dabei der eigentliche Sinn des wissenschaftlich-technischen Fortschritt, nämlich ein erfüllteres Leben, sehr bald auf der Strecke bleibt, versteht sich da schon von selbst. Jene zehn Prozent der am besten ausgebildeten Führungskräfte in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die den Motor der Ökonomie am Laufen halten, rennen hechelnd durchs Leben. Für Kultur und Genuss bleibt da wenig oder gar nichts mehr übrig. Da findet ein beständiger Hundertmeterlauf statt, aber das Ziel auf das er gerichtet ist, wird nie erreicht werden.
Denn dieser Wettkampf wird zu keinem Ende gelangen, solange die Menschheit weiterhin aus unabhängigen, um Reichtum und Macht kämpfenden Nationen und Staaten besteht. In unserem, dem 21. Jahrhundert, sind wir so nahe an den Punkt der Selbstvernichtung und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gelangt, dass wir endlich zu der Einsicht gelangen müssen, dass uns nur noch ein einziger Weg aus der Gefahr führen kann. Wir müssen dem Hobbeschen Chaos, wir müssen dem Wettrennen der um den Vorrang streitenden Nationen ein Ende setzen. Globale Probleme sind nur noch von einer globalen Instanz zu regeln, welche allen die gleichen Verpflichtungen im Sinne des Friedens mit Mensch und Natur auferlegt.
VIII Letztes Aufbäumen des Nationalismus
Das Paradox der heutigen Situation besteht darin, dass uns die eigene Intelligenz – verkörpert vor allem in den Erfindungen einer zunehmend apokalyptischen Waffentechnik – dazu zwingt, eine solche globale Instanz als ein im Vergleich zur absehbaren Selbstvernichtung viel kleineres Übel in Kauf zu nehmen. Vorläufig allerdings wächst mit der Herausforderung auch sein Schatten. Alle Staaten bäumen sich gegen die damit verbundenen Einschränkungen auf. Niemand will eine solche Regierung, manche sehen in ihr ein Monster, einen Leviathan, jeder pocht auf die eigene Macht und Eigenständigkeit. Jeder will Herr im eigenen Hause bleiben. Die USA, China oder Russland, also die größten Mächte, wollen zudem jeder die führende Stellung einnehmen oder halten, bis zuletzt wollen und werden sie um die Vormacht kämpfen. So stehen einander zwei mächtige Tendenzen unversöhnt und bisher auch unversöhnbar entgegen. Während Globalisierung – die wissenschaftlich-technische wie ökonomische Vereinheitlichung der Welt und der Lebensformen – de facto rapider verläuft als jemals zuvor, spielt sich in den Köpfen das genaue Gegenteil ab. Sie geraten ideologisch in Weißglut, halten die eigene Nation für einzigartig und allen anderen haushoch überlegen. Daher wehren sie sich mit letzter Kraft gegen jenen Verzicht an Souveränität, der ihnen das Überleben ermöglichen wird, nur um ein Wettrennen fortzusetzen, das alle von ihnen in Richtung Abgrund treibt und sie tatsächlich schon jetzt aller Selbstbestimmung beraubt. In den Köpfen – nicht in der materiellen Wirklichkeit – erscheint die Welt den Nationalisten der verschiedenen Staaten jeweils radikal unterschieden. Der derzeitige Präsident aller Russen, Wladimir Putin, verbirgt hinter einem sympathischen Lächeln gnadenlose Brutalität, der er die eigenen Menschen ebenso rücksichtslos opfert wie den Rest der Welt, wenn sich dieser seinem totalitären Herrschaftswahn widersetzt. China strebt zielgerecht darauf hin, die USA als führende Weltmacht abzulösen und hat sich zu diesem Zweck mit seinem Vasallen Russland verbündet. Aber das Reich der Mitte geht dabei taktisch und strategisch viel umsichtiger und raffinierter vor als die USA – von Russland ganz zu schweigen. Offiziell gibt sich das mächtige und inzwischen auch reiche Land immer noch als Entwicklungsstaat aus. Diese Strategie erlaubt den Chinesen sich zu Verbündeten und zum Sprachrohr des globalen Südens gegen die USA zu deklarieren. Solange es Peking nützt, stützt das fernöstliche Land auch die UNO, die WTO und andere supranationale Organisationen. Scheinbar vertritt es damit die Ansprüche der großen Weltgemeinschaft gegenüber den USA. Aber eben nur scheinbar, denn es weist die Schiedssprüche internationaler Organisationen mit größter Entschiedenheit zurück, sobald sie seinen Ambitionen entgegenstehen, was zum Beispiel auf die Gebietsansprüche über das Südchinesische Meer zutrifft, die von dem Internationalen Schiedsgericht in Den Haag als ungültig abgelehnt wurden. Die USA als militärisch immer noch führende, aber relativ zum Rest der Welt zurückfallende Weltmacht haben inzwischen erkannt, dass ihre Vorherrschaft allseits bedroht ist. Als Antwort darauf haben sie einen Präsidenten an ihre Spitze gewählt, der einen neuen, einen unerhörten, vor kurzem noch undenkbaren Weg einschlägt, indem er alles mit Füßen tritt, was einst die Größe, das Ansehen und die Macht der Vereinigten Staaten begründet hatte. Freiheit und Demokratie, ganz zu schweigen von Bildung und Ehrlichkeit, stehen unter diesem Präsidenten zur Disposition oder werden von ihm offen und ungeniert abgelehnt. Probleme wie der Klimawandel und die großflächige Zerstörung der Lebensgrundlagen beseitigt der neue Präsident auf die denkbar einfachste Art, indem er ihr Vorhandensein schlichtweg leugnet. Dreist-dumme Inkompetenz verbunden mit unglaublicher Selbstglorifizierung haben es so erstmalig bis an die Spitze des immer noch mächtigsten und bis dahin auch angesehensten Staates der modernen Welt geschafft.
IX Am Ende ein pessimistischer, aber keinesfalls verzweifelter Ausblick
Das internationale Wettrennen der Nationen um ein Maximum an wirtschaftlicher und militärischer Macht ist heute in eine Endphase eingetreten, und diese wird mit allen Mitteln der Propaganda und Heuchelei inszeniert. Es ist eine Endphase kollektiven Irrsinns. Europa hatte vergebens gehofft, durch sein pazifistisches Beispiel zu wirken. Es hatte auch beharrlich ignoriert, dass dieser Pazifismus den Schutz der Vereinigten Staaten zu seiner Voraussetzung hatte. Jetzt sieht sich die EU zu der Einsicht genötigt, dass gegenüber einem Mann wie Putin Pazifismus so wirkungslos ist wie schon im vergangenen Jahrhundert gegenüber Stalin und Adolf Hitler. Wer sich nicht bewaffnet, offenbart nur die eigene Schwäche und ist ein kleiner Fisch, den die Großen bedenkenlos verschlingen. Dabei verfahren sie mit der üblichen Heuchelei: der eigene Machtanspruch wird stets hinter der schönen Fassade des Allgemeinwohls versteckt. Stets wird der Welt Frieden und Sicherheit versprochen. Zugleich aber werden alle nationalistischen Kräfte im eigenen Land mobilisiert – vor allem natürlich bei der militärischen Aufrüstung – um die Spitze zu erobern oder sich in dieser Stellung zu halten. Nirgendwo wird diese Heuchelei, diese Verlogenheit so schamlos betrieben wie in Putins Russland (Trump wirkt geradezu naiv im Vergleich). Da bleibt uns nur die Hoffnung, dass die Menschheit im rechten Moment noch begreift, dass sie als einzigen und letzten Schutz vor sich selbst, nämlich vor dem Missbrauch ihrer überragenden Intelligenz und deren zunehmend existenzgefährenden Erfindungen, sich einer gemeinsamen Herrschaft unterwirft, welche das kollektive Rennen endlich zu einem Ende führt.
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Von Herrn Fritz Stavenhagen (Schauspieler) erhalte ich folgenden sehr wohlmeinenden Kommentar:
Sehr geehrter Herr Jenner,
es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen erneut meine Wertschätzung, Hochachtung und auch Dankbarkeit auszusprechen!
Ihr neuer Artikel zur Globalisierung hat mich sowohl auf der rationalen Kopf- als auch auch auf der emotionalen Herzebene voll befriedigt. Ihr historisch-philosophischer Par-force-Ritt durch die Menschheitsentwicklung ist in diesen verwirrenden, verstörenden Zeiten für mich ein wesentlicher, ein willkommener Beitrag, um die Übersicht in die großen Zusammenhänge nicht zu verlieren. Ihre Essays haben meine Weltsicht im Laufe der Jahre wesentlich bereichert. Dabei ist Ihre auf souveräner Kenntnis geschichtlicher Entwicklungen fußende brilliante Analyse keineswegs ein Quell von Hoffnung. Eher im Gegenteil. Mein Kurzmotto, meine „Weltformel“ lautet:
OHNE VERZICHT KEIN TEILEN OHNE TEILEN KEINE GERECHTIGKEIT OHNE GERECHTIGKEIT KEIN FRIEDEN
Hochachtungsvoll
Fritz Stavenhagen