Die Auflösung der amerikanischen Demokratie

Wenn die höchsten Vertreter eines Gemeinwesens sich nur noch mit Schlamm bewerfen. Wenn Argumente nur noch als Fassade dienen, um Wut, Hohn und Verachtung zu transportieren, dann hat die Geschichte gerade eine Wende vollzogen. Eine Periode ist abgeschlossen, eine neue beginnt. Von den Vereinigten Staaten von Amerika wissen wir seit dem 29. September 2020, dass die Demokratie sich in Auflösung befindet – heillos zerrissen von auseinanderstrebenden Kräften.

Als die Weimarer Republik unterging,

da waren gerade deren gebildete Bürger zutiefst überzeugt, dass Deutschland mit seinem großartigen Erbe von Philosophie, Dichtung und seinen damals noch weltweit tonangebenden Wissenschaften gegen den Bazillus von Populismus und Barbarei besser gefeit sei als jede andere Nation. Man hat den vulgären, brutalen, bellenden Hitler nicht ernst genommen, weil er und seine blutigen Schergen so gar nicht in das Weltbild der Gebildeten passten. War Deutschland nicht eine Kulturnation, und hatte es sich nicht mit dem Experiment der Demokratie westlichen Vorbildern angeglichen? So dachten die Gebildeten und die existenziell abgesicherten Schichten, deren Kurzsichtigkeit in der Regel darin besteht, jene breite Masse zu übersehen, die wenig gebildet ist und überdies jedem wirtschaftlichen Schock schutzlos ausgeliefert. Als die Weltwirtschaftskrise von den USA auf Deutschland überschwappte und Arbeitslosigkeit mehr als ein Drittel der Bevölkerung in die Armut trieb, wandten sich auch linke Wähler den Nazis zu. Wenn Not um sich greift, dann sind eben nur wenige gegen den Bazillus von Populismus und Barbarei gefeit. Denn, wie Bert Brecht es sagte: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Zwischen 1929 und ’33 stieg die Zahl der Naziwähler in genauer Entsprechung zur Zahl der Arbeitslosen.*1*

Donald Trump ist auf dem Weg,

die amerikanische Demokratie zu liquidieren wie Hitler es mit der deutschen tat. Letztlich wird dabei nur eine Fassade fallen, denn tatsächlich wird Amerika jetzt schon von einer Plutokratie kommandiert, die sich einen aufwändigen demokratischem Karneval leistet. Der industriell-militärische Komplex in den Händen der viel berufenen oberen Einprozent sorgt mit seinen Wahlspenden dafür, dass nur Kandidaten das Rennen machen, die sich als gefügig erweisen. Ein Bernie Sanders, dem genau diese Dienstbarkeit abgeht, hatte da von vornherein keine Chance.

Bis zu Trump war die US-amerikanische Plutokratie dem Geist keineswegs feindlich gesonnen (auch wenn der Durchschnittsamerikaner die intellektuellen „Eierköpfe“ schon früh zu verspotten liebte). An den besten Universitäten des Landes ließen die Reichen mit ihren großzügigen Spenden tausend Blüten üppiger sprießen als in irgendeiner anderen Nation. Bis heute wirkt dieses Erbe fort. Auf den meisten Gebieten der Forschung geben Amerikaner den Ton an, und zwar gerade auch in den kritischen Wissenschaften des Geistes, die in Russland oder China einen Maulkorb tragen, weil eine Einheitspartei bzw. ein Autokrat darüber bestimmen, was in ihrem Land gesagt oder gedacht werden soll.

Mit dieser Freiheit wird unter Trump Schluss gemacht. Auch in den Vereinigten Staaten soll es eine von der Politik unabhängige Wahrheit nicht länger geben. Wie Wladimir Putin oder Xi Jin Ping nimmt auch der republikanische Präsident für sich das Recht in Anspruch, kraft seines Amtes festzusetzen, was Fake und was Wahrheit sei.

Es fällt nicht schwer,

den Auflösungsprozess der amerikanischen Demokratie zu beschreiben. Seit der vulgären, von aller Sachlichkeit beschämend weit entfernten Fernsehdebatte der beiden Präsidentschaftskandidaten liegt er für jedermann sichtbar zutage. Schwieriger ist es, gegen ideologische Voreingenommenheit anzukämpfen, wenn man die Gründe für diesen Prozess benennt. Denn eines wird allzu leicht übersehen: Ein notorischer Lügner wie Donald Trump konnte nur deshalb zur Macht gelangen, weil er in einer für seinen Erfolg entscheidenden Hinsicht eben doch die Wahrheit besser als andere gesehen hat.

Warum habe ich denn meine Steuertricks anbringen können?, hält er Joe Biden entgegen und schickt die Antwort gleich hinterher: Weil ihr mir durch die entsprechenden Gesetze (zur Begünstigung der Reichen) dafür die Chance gegeben habt. Und er hätte ebenso zu Biden sagen können: Warum wählt mich denn die Hälfte der amerikanischen Bürger, und wählt mich gerade dort, nämlich in den Rostgürteln des Landes, wo sie bis dahin den Demokraten die Stimme gab? Weil ihr es zugelassen habt, dass ihre Jobs nach China ausgelagert und Millionen Amerikaner dadurch arbeitslos wurden. Und zusätzlich amüsiert ihr euch noch über den „White Trash“ und seine Rückständigkeit.

Vergleiche pflegen, wie man so sagt, zu hinken

Die Weimarer Republik hat gerade einmal ein Jahrzehnt mit der Demokratie experimentiert und das erfolglos, während die USA sich rühmen können, die älteste repräsentative Demokratie der westlichen Welt zu besitzen. Anders als ihr athenisches Vorbild haben sie – wenn auch sehr spät – endlich auch ihren ehemaligen Sklaven das Wahlrecht zugesprochen. Aber eines hat das Ende der Demokratie in der Weimarer Republik durchaus mit der Auflösung der Demokratie in den Vereinigten Staaten gemein. Eine breite Schicht von Unterprivilegierten ruft in der Not nach einem Diktator, der ihre Interessen vertritt, wenn andere Hilfe nicht mehr in Sicht ist. Dass solche Polithasardeure sie am Ende verraten und oft auch noch in Kriegen verheizen, steht auf einem anderen Blatt. Und auf einem anderen Blatt steht ebenfalls, dass die inneramerikanische Polarisierung, dieser beginnende Bürgerkrieg, ein furchtbares Unglück ist. Wir erleben den Niedergang einer Zivilisation von großer Geisteshelle, von einer oft erfrischenden Ungezwungenheit und überraschenden Originalität. Und es ist kein Trost sondern beleuchtet die ganze Ausweglosigkeit der Situation, dass die Gegenpartei dem Businessman und Schauspieler Donald Trump nur einen Greis entgegenzusetzen vermag, dessen Auftritt und Äußerungen beginnende Senilität verraten.

1 Die Weltwirtschaftskrise, die im Jahr 1929 begann, bedeutete für nahezu jeden zweiten Deutschen eine existenzgefährdende Notsituation. Im Laufe des allmählichen wirtschaftlichen Aufstiegs war die Partei der Hitlerkabarettisten im Reichstag zwischen 1924 und 1928 von 6,6 auf 2,6 Prozent geschrumpft, denn die Zahl der Arbeitslosen hatte sich innerhalb der gleichen Zeit von 340 Tausend 711 um etwa ein Drittel auf 268 Tausend 443 vermindert. Mit anderen Worten, die Nazipartei war von der Bildfläche nahezu verschwunden.

Das änderte sich radikal und gleichsam über Nacht nach 1929. Der Reichstag wurde von den Gefolgsleuten Hitlers geradezu überschwemmt, und zwar in strikter Parallelbewegung zur steigenden Not der Arbeitslosigkeit. Etwa vervierfacht auf 1 Million 62 Tausend hatte sich der Verlust an Arbeitsstellen im September 1930, und dementsprechend war der Anteil der Nazi-Stimmen von 2,6 Prozent bis auf 18,3 Prozent in die Höhe geschnellt. Für Juli 32 und März 33 betrugen die jeweiligen Relationen 5.355.000 / 37.4% und 5.598000 / 43,9% respektive.

Es dürfte nicht schwerfallen, die entsprechenden Zahlen von wachsender Armut und dem Vormarsch der Populisten auch für die Vereinigten Staaten aufzuzeigen.

Franz Zebinger schreibt mir:

Lieber Gero!
Vielen Dank für diese Analyse der aktuellen Katastrophe! Ich kann nur sagen: Hoffentlich hast du mit deiner Prophezeiung NICHT recht! Es wäre nicht nur für Amerika schlimm, sondern für die ganze Welt.
Herzlich Franz