Die 1000-Euro-Pille oder wie man das Denken einschläfert

Es ist ja nett, wenn wir alle nett zueinander sind, nur leider: Die Zeit ist nicht danach. Götz Werner möchte zu allen nett sein. Schon gar nicht möchte er es mit sich selbst und jenen verderben, die an der Spitze der sozialen Pyramide stehen und sich während der vergangenen zwei Jahrzehnte neoliberaler Politik die Taschen bis zum Bersten angefüllt haben. Das Vermögen soll unangetastet bleiben, und er liefert auch gleich den Grund für diese Zurückhaltung. Seiner Meinung zufolge sind nämlich die „wahren Gewinner [des deutschen Wirtschaftswunders] Beamte und langjährig stabil beschäftigte Arbeiter und Angestellte“ (S. 61). Man kann es kaum glauben. Arbeiter und Angestellte! Das muss man zweimal lesen. Von den eigentlichen Finanzmogulen der bundesdeutschen Gesellschaft, also etwa von Karl Albrecht (Aldi Süd, Vermögen 16,10 Milliarden Euro), Theodor Albrecht (Aldi Nord, Vermögen 16,05), Dieter Schwarz (Lidl, Kaufland, 10,25), Susanne Klatten (BMW, Altana, 7,75) und der ganzen großen Schar der vielen Milliardäre und Multimillionäre, die sich unter den obersten fünf Prozent tummeln, ist in seinem Buch keine Rede. Vielleicht deshalb, weil sie – wie er es ja auch von sich selbst bemerkt – nur über ein „virtuelles Vermögen“ verfügen, während Arbeiter und die Angestellten auf realen Reichtum zugreifen? Es fällt schwer, in solchen Äußerungen nur ein harmloses Versehen zu erblicken.

Herr Werner zieht wie ein auferstandener Messias durch deutsche Lande. Alle Übel dieser Welt – und er scheut nicht davor zurück, sie mit großer Eindringlichkeit zu benennen – werden mit einer einzigen Pille kuriert.

Eure Arbeit ist sterbenslangweilig, stressig, kräftezehrend? Kein Problem. Ihr bekommt 1000 Euro, dann sucht sich jeder in Ruhe, was zu ihm passt.

Es gibt ohnehin bald keine Erwerbsarbeit mehr und die Existenzangst bringt euch beinahe um? Aber das macht doch gar nichts! Ihr kriegt 1000 Euro. Wenn ihr nicht vorher gestorben seid, werdet hinfort in Glück und Frieden leben – ganz wie im Märchen.

Die Deutschen möchten sich am liebsten in lauter Kreative und Künstler verwandeln? Aber genau das wünsche ich euch doch von ganzem Herzen! Ihr sollt 1000 Euro bekommen, dann steht dem nichts mehr im Wege.

Seit Pisa liegt das deutsche Bildungswesen in Scherben? Gewiss, aber das braucht uns doch nicht mehr zu kümmern. Wenn der Staat erst einmal 1000 Euro an alle Bürger verteilt, sucht sich jeder die richtige Schule aus.

So geht es von A wie Altersarmut bis Z wie Bildungszerfall. Lächelnd und siegesgewiss zieht Herr Werner den Medizinbeutel aus der Tasche und verordnet gegen sämtliche Übel der Welt die 1000-Euro Pille. Hat er uns nicht schon erzählt, dass bereits die Spartaner auf ähnliche Weise zum Glück gelangten?

Herr Werner ist nett zu allen, aber die Zeit ist nicht danach. Was er uns in Wahrheit verordnen will, ist alles andere als Medizin: Er verschreibt eine gefährliche Droge, mit der das Denken des mündigen Bürgers eingelullt wird und wohl auch eingelullt werden soll.

Immer schon hat es die großen Vereinfacher gegeben. Marx zählte zu ihnen. Man schaffe nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln ab, lautete sein gar zu simples und letztlich brandgefährliches Rezept, dann wird die Entfremdung aufgehoben und ein ganz neuer und verwandelter Mensch geboren. Aber Marx war immerhin ein genialer Analytiker, und er war ehrlich. Er wusste, dass ohne Kampf nichts zu erreichen ist. Und wir sollten wissen, dass es dabei bis heute geblieben ist. Für gerechtere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, Abkehr von der Atomenergie, Lösung aus der Abhängigkeit von den fossilen Ressourcen – für all dies wurde gekämpft und wird man weiter kämpfen müssen – und sehr oft gehen solche Kämpfe, wie man gerade in Stuttgart erleben konnte, auch kläglich verloren. Zur Selbstzerstörung der Eigentumsgesellschaft, die ich in Wohlstand und Armut beschreibe, kam es seit den neunziger Jahren aufgrund mangelnden politischen Widerstands. Aufgrund einer verfehlten Politik der Globalisierung konnte die Konzentration der großen Vermögen, die Herr Werner so sorgfältig verschweigt, rasante Fortschritte machen und im Gleichschritt damit der Verfall des Lebensstandards bei der Bevölkerungsmehrheit. Zu meinen, dass man über der Menschheit nur das Himmelsmanna von 1000 Euro ausgießen müsse, damit sich diese Fehlentwicklung dann in purem Wohlgefallen und Harmonie auflöst. ist mehr als naiv. Es ist eine Irreführung, die sich an denkmüde Menschen wendet, vielleicht an viele, die – überwältigt von ihren persönlichen Problemen – nach einer ganz einfachen Lösung suchen; am liebsten ihren Kopf nach Vogel-Strauss-Manier ganz in den Sand stecken möchten.

Das weiß Herr Werner. Dieser Denkmüdigkeit kommt er entgegen und zieht als 1000-Euro-Narkotiseur durchs Land.