Der Harem des Rajas von Mewar

Auszug aus meinen biografischen Notizen: Der Einsteiger – auf der Suche nach all den verschollenen Ichs.

Meine Reise trug sich 1963 zu, ich war damals gerade 21. Zu dieser Zeit war Indien gerade erst im Begriff, sich Autobahnen, Tankstellen und Supermärkte zuzulegen, also jene zivilisatorischen Errungenschaften, um derentwillen wir Europäer uns als die Erste Welt bezeichnen. Das Land der Hindus lebte teilweise noch im Mittelalter, viele seiner Menschen in großer materieller Bedürfnislosigkeit, manche von ihnen in furchtbarer Armut, aber ich sah Landschaften – vom Menschen gestaltet – die von unglaublicher Schönheit waren, Burgen, Schlösser, Paläste, die ich trotz aller täglichen Hitze, trotz Schweiß und Enge in den klappernden Autobussen und verrauchten Eisenbahnen in mich aufsog und seitdem nie wieder vergessen konnte. Drei Monate lang durchstreifte ich das Land von Madras, meinem Ankunftsort, quer durch das Land über Kerala, Hyderabad und Bijapur bis Rajasthan und Mount Abu und von da noch bis in den Himalaya nach Mussoorie, dann zurück über Kalkutta nach Bombay, von wo mich ein Frachtschiff der Bremer Hansa-Linie wieder nach Hause brachte. Von einem am ganzen Körper gelben Menschen, der nur durch einen Bussitz von mir getrennt gesessen hatte, zog ich mir zwei Tage vor meiner Rückkehr noch eine Hepatitis epidemica zu, die mich ein Jahr lang fast lernunfähig machte, aber das hat die seelische Revolution, die Indien in mir bewirkte, nicht auszulöschen vermocht.
In Udaipur bot sich die Chance, Indien von einer besonders exotischen Seite zu erleben. Der Zufall hatte es so gewollt, dass ich auf dem Weg nach Rajasthan einem Studenten aus Stuttgart begegnet war, der sich auf seine Reise weit besser vorbereitet hatte als ich. Ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Stuttgarter Bürgermeisters an Arvind Singh Mewar, den Raja von Udaipur, der dort in einem Märchenschloss residierte, konnte er sich auf diese Weise Zugang zu dem ehemaligen Herrscher von Mewar verschaffen. Dabei kam ihm gerade recht, dass ein zweiter Deutscher ihm dabei seine Gesellschaft anbot. So geschah es, dass ich ebenfalls die Bekanntschaft der ehemaligen Majestät machen durfte. Die Begegnung verlief dann allerdings eher prosaisch, denn der junge Mann aus Stuttgart hielt sich brav an sein offensichtlich einstudiertes Programm, das nach gutdeutscher Manier in kritischem „Hinterfragen“ bestand. Er glaubte dem späten Nachfahren einer glorreichen Dynastie allerlei belanglose Fragen über dessen wirtschaftliche Situation stellen zu müssen, Fragen, die einem Mann, dessen Genealogie in direkter Linie bis zu Surya, der Sonne, reicht, eher überflüssig erscheinen mussten. Am Ende der vielleicht zehnminütigen Audienz aber brach dann ganz unerwartet die Sensation über uns herein. Der Herrscher überraschte, überrannte, betäubte uns mit der Frage, ob wir vielleicht seinen Harem besuchen wollten?
Der Harem! Für einen Europäer ist das ein magisches Wort, eingehüllt in eine Aura unüberbietbarer, unvorstellbarer Laszivität, dem Inbegriff aller verbotenen, aber gerade deswegen umso kostbareren Lüste. Der königliche Verführer hätte ebenso gut suggerieren können, er habe für uns ein privates Rendezvous mit Luzifer in petto. Auch dann wären wir fassungslos zurückgeschreckt. Die Frage kam so überraschend, sie wirkte so elementar auf die Psyche, dass das kritische Bewusstsein augenblicklich die Kontrolle über das Selbst verlor und stattdessen das sozial abgerichtete Über-Ich die Führung an sich riss. Statt dass die zwei jungen Leute sich von ihren Trieben und ihrem sicher recht hohen Testosteronspiegel leiten ließen, verzogen sie ihr Gesicht zu einer moralinsauren Grimasse. Als brave Söhne aus braven Familien wiesen sie das unmoralische Angebot auf der Stelle zurück.
Welch unglaubliche Dummheit, wirst Du, aufgeklärter Leser, jetzt unwillig ausrufen – und im Nachhinein gebe ich Dir vollkommen recht. Tatsächlich gingen der Stuttgarter und ich anschließend wie begossene Pudel hinaus, wir trennten uns auf der Stelle. Das Leben hatte uns eine einmalige Chance gewährt, wir hätten einen Blick in das Paradies der Lüste am Hofe eines Maharaja werfen dürfen – und was hatten wir unglaublichen Trottel getan? Wir waren so dumm gewesen, diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen!
Nicht, dass ich glaube, dass wir damals wirklich etwas Unerhörtes und Ungesehenes versäumten. Wir wären gewiss nicht in einem königlichen Bordell geendet sondern hätten allenfalls die höchst zivilisierte Gegenwart von zwei oder drei älteren Damen genossen, die uns bei einer Tasse Tee mit Gesprächen über indische Kunst und Politik unterhalten. Später habe ich übrigens erfahren, dass seine ehemalige Majestät sich stets einen besonderen Spaß daraus machte, genau diese Frage immer wieder Besuchern aus dem Westen zu stellen. Dabei habe er die seltsame Erfahrung gemacht, dass sein Angebot fast stets abgelehnt wurde – in über 95 Prozent der Fälle.
Indien war damals ein überaus prüdes Land, wo in Filmen nicht einmal der entblößte Busen einer Frau gezeigt werden durfte. Die so ganz andere Vergangenheit der klassischen Epoche lebte nur noch im Kamasutram sowie auf den Friesen von Kajuraho und anderen indischen Tempeln fort, wo sich der sexuelle Verkehr in allen seinen Spielarten bewundern lässt. Im Vergleich dazu herrschte im Westen schon vor den 68ern sexuelle Befreiung und Ungezwungenheit. Aber für das westliche Über-Ich, sprich die Erziehung, die uns in Kopf und Gliedern beherrschte, war die Einladung in einen Harem so sehr mit unerlaubter Lüsternheit verbunden, sie wurde so sehr als ein unmoralisches Angebot aufgenommen, dass das strenge Über-Ich alle schlummernden Begierden des Ichs augenblicklich erstickte. Dabei hätte sich das Ich der strengen Aufsicht so gerne entzogen, es hätte im Grunde nichts lieber gewollt, als einmal so richtig hemmungslos in Lust und Laszivität zu versinken – und noch dazu in der exoti-schen Lust Indiens, die doch gewiss unüberbietbar war.
Wenn ich mich recht erinnere, hat der damals bekannte Schriftsteller Peter Bamm gleichfalls von einem solchen Besuch im Palast des Raja von Udaipur berichtet und dass er anschließend von demselben Angebot überrascht worden sei. Auch er lehnte ab, begründete seine Zurückhaltung aber damit, dass er angesichts seines Alters befürchtet habe, den Ansprüchen der Damen möglicherweise nicht mehr gewachsen zu sein. Ich glaube ihm nicht so recht, erstens, weil Indien heute ein überaus prüdes Land ist und der ehemalige Herrscher, wie gesagt, ganz gewiss kein Bordell unterhält. Zweitens, aber sehe ich auch in seiner Begründung nur eine nachträgliche Rationalisierung. In Wirklichkeit hat er wohl genauso wie die beiden jungen Studenten nur spontan vor dem eigenen Über-Ich kapituliert. Wie in unserem Fall besagt seine Reaktion nur etwas über die soziale Zensur, die unser Unbewusstes selbst noch gegen den eigenen Willen beherrscht.
Ein intelligenter Mensch, so hat Goethe einmal gesagt, lerne am meisten auf Reisen. Nicht nur über andere Länder und Menschen – das versteht sich von selbst, sondern vor allem auch über das eigene Ich. Diese Wahrheit hatte sich auch in meinem Fall erfüllt, allerdings so, dass ich erfahren musste, wie soziale Abrichtung immer noch stärker ist als individuelles Wollen und individuelle Intelligenz. Ich handelte gegen meine Impulse; die spontane Ablehnung beruhte auf innerem Zwang.

Auszug aus meinen biografischen Notizen: Der Einsteiger – auf der Suche nach all den verschollenen Ichs.