Der deutsche Exportstaat – Stratfors subtile Deutschlandhetze

(auch erschienen in: "scharf-links")

Stratfor ist eine Art Schatten-CIA, eine private Organisation, welche die Weltöffentlichkeit mit Analysen über politische, ökonomische und soziale Verhältnisse anderer Länder versorgt, soweit diese für die Politik der USA von Bedeutung sind. Herausragend sind die Beiträge von George Friedman, dem Gründer und Vorsitzenden der Organisation. Friedman äußert sich auch regelmäßig zu Europa und den Deutschen – so jüngst in dem Artikel „Financial Markets, Politics and the New Reality“. (1)

Friedman spricht darin über die Enttäuschung der Finanzmärkte, die sich eine Politik in ihrem Sinne, d.h. ein Anwerfen der Notenpresse nach amerikanischem Vorbild, erhofften und von Frau Merkels ewigem Zögern wieder einmal enttäuscht worden seien. Frau Merkel habe allein die deutschen Interessen im Blick und mache daher den Aufkauf der Staatsschulden durch die Europäische Notenbank von Auflagen abhängig, die de facto auf ein deutsches Diktat gegenüber den Ländern Südeuropas hinauslaufen würden. Auf diese Weise versuche Deutschland die Niederlage des letzten Krieges durch den Einsatz seiner übermächtigen Wirtschaft wettzumachen, um das nie aus den Augen verlorene Ziel auf diese Art zu erreichen: die Einigung Europas nach deutschem Diktat und Willen.

Der Euro als deutsches Herrschaftsinstrument?

Schon die Einführung des Euro, so Stratfors Geschäftsführer, sei Teil dieses deutschen Hegemoniestrebens gewesen. George Friedman zufolge hat Deutschland den Euro gebraucht, um seine Vormachtstellung bleibend zu festigen. „Germany was a champion of the euro, a single currency controlled by a single bank over which Germany had influence in proportion to its importance.“ Dass diese Behauptung den historischen Tatsachen widerspricht, dass er also eine Unwahrheit verbreitet, weiß ein so hervorragend informierter Beobachter wie George Friedman sehr wohl. Er weiß, dass die Deutschen an ihrer DM hingen und dass deren Ablösung durch eine gemeinsame europäische Währung eine Konzession Helmut Kohls an François Mitterand war, der damit die von den Franzosen so sehr gefürchtete ökonomische Vormachtstellung der Deutschen zu brechen hoffte. Wie sich erst in der Folge erweisen sollte, hat François Mitterand sich verrechnet. Darf man, wie George Friedman dies tut, die Schuld dafür Helmut Kohl und den Deutschen in die Schuhe schieben? Gewiss nicht. Letztlich hat der Euro ja allen Unglück gebracht: den Deutschen ebenso wie den Franzosen und ganz Europa.

Deutschland hat – unfreiwillig – einen Großteil seiner Waren an den Süden als Geschenke verteilt

Nur war das bis zum Ausbruch der Griechenlandkrise und den exorbitanten finanziellen Verpflichtungen, die in erster Linie die Deutschen seitdem übernommen haben, noch nicht für jedermann sichtbar. Zunächst konnte es scheinen, als wenn Deutschland der eigentliche Nutznießer des Euro wäre. Befreit vom störenden Auf und Ab der Wechselkurse schwoll der deutsche Warenstrom zu seinen europäischen Nachbarn noch einmal kräftig an. Bis zum Ausbruch der Krise konnte kaum jemand ahnen, dass ein Großteil dieser Waren von Deutschland an seine südlichen Nachbarn de facto verschenkt worden war. Sie wurden auf Kredit geliefert und würden, wenn überhaupt, nur mit deutschen Hilfsgeldern für die in Not geratenen Nachbarn bezahlt werden können: So kommt es zu der absurden, wenn auch keineswegs neuartigen Situation, dass überwiegend deutsche Steuerzahler mit ihrem Geld die Kredite von überwiegend deutschen Banken und deutschen Großbetrieben an die Länder des Südens garantieren. (2)

Es bleibt das Geheimnis George Friedmans einen solchen Vorgang im Sinne einer deutschen Strategie zu interpretieren, deren Ziel ein geeintes Europa unter dem Diktat deutscher Interessen sei.

Die deutsche Gefahr aus der Sicht von Stratfor

Auch in seinen sonstigen Beiträgen über Deutschland macht George Friedman kein Hehl daraus, dass er in diesem Land eine Gefahr erblickt, vor der seine Nachbarn sich hüten sollten. Dieser scharfsinnige und gut informierte Beobachter streift mit seinen Analysen auf bedenkliche Art die intellektuelle Verhetzung. Er verdreht die Fakten, um ein in sich geschlossenes Deutschlandbild zu vermitteln. Gewiss, es handelt sich um Verhetzung auf hohem intellektuellen Niveau, denn selten ist es ganz falsch, was in diesen Analysen gesagt wird. Doch Friedman verbreitet Halbwahrheiten – die gefährlichsten Wahrheiten überhaupt.

Deutschland – ein politischer Zwerg

Denn es stimmt ja einfach nicht, dass Deutschland seine Niederlage im Krieg dadurch wettmachen wollte, dass es seine Nachbarn ökonomisch erdrückte und von sich abhängig machte. Richtig ist, dass Deutschland – die eigene Kriegsschuld bis heute als unverheiltes Trauma erleidend – sich in Europa einbinden und aus Angst vor sich selbst in Europa aufgehen wollte. In diesem Sinne wurde es zum Zahlmeister der EU und ist seit einiger Zeit auf höchst gefährliche Art im Begriff, seine bisherigen finanziellen Opfer für Europa noch um ein Vielfaches zu steigern. Politisch hat es davon keineswegs profitiert – und hat dies nicht einmal bezweckt. Bis zur Kanzlerschaft von Gerhard Schröder zog Deutschland es vor, seine eigene Rolle herabzuspielen und politisch als Zwerg aufzutreten. Auf der internationalen Bühne und in den europäischen Institutionen trat es stets hinter Frankreich zurück.

Aber zweifellos ein wirtschaftlicher Gigant

Wahr ist allerdings, dass seine Industrien einen gewaltigen Aufschwung nahmen und aufgrund zusätzlicher politischer Maßnahmen wie der Agenda 2010 die europäischen Nachbarn bald in den Schatten stellten. Daraus glaubt Friedman den folgenden Schluss ableiten zu können: „The truth was that the crisis was caused by Germany’s [first] using the trading system to flood markets with its goods, [and second] its limiting competition through regulations, and [third] that for every euro carelessly borrowed, a euro was carelessly lent. Like a good politician, Merkel created the myth of the crafty Greek fooling the trusting Deutsche Bank examiner.”

Auch dies ist eine offensichtliche Verdrehung, denn Deutschland und Brüssel haben keine europäischen Normen eingeführt, um deutschen Industrien gegenüber dem Rest Europas eine Vormachtstellung zu sichern. Die Absicht war, Europa gegenüber der restlichen Welt insgesamt wettbewerbsfähiger zu machen. Wieder treibt Friedman eine gegen Deutschland gerichtete Propaganda. Dennoch kommt er an diesem Punkt der Wahrheit um einiges näher. Denn der Ursprung der Krise – wenn auch nicht die sie auslösenden Umstände – liegt allerdings im deutschen „trading system“. Das Unglück, von dem Europa heute betroffen ist, hängt aufs engste mit Deutschlands selbstgewählter Rolle als Exportstaat zusammen: Das sieht Friedman, wie ich meine, vollkommen richtig.

Nicht Frau Merkel bestimmt die Politik der Deutschen, sondern die deutsche Industrie

Denn was Frau Merkel als Person oder Regierungschefin will oder nicht will, so Friedman, sei letztlich unerheblich. Ausschlaggebend seien in jedem Fall die Interessen Deutschlands als einer Exportnation. Und diese seien nun einmal mit einem unbeschränkt freien Handel verbunden, da nur dieser den deutschen Produkten weltweit einen ungehinderten Absatz verschafft.

Mit dieser Feststellung trifft Friedman ins Schwarze. Auch von seinen führenden Politikern – man denke etwa an Altkanzler Helmut Schmidt – wurde Deutschland stets als Exportland gesehen, so als liege darin ein inhärentes Wesensmerkmal, das es von der Mehrheit aller anderen Nationen eindeutig unterscheide. Zweifellos trifft es zu, dass der heimische Markt die Produktionskapazitäten deutscher Großbetriebe in der Regel nur zu einem Bruchteil zu absorbieren vermag. Eine große Zahl deutscher Betriebe verdient weit mehr jenseits als innerhalb der Landesgrenzen. Ein Politiker, der gegen die Interessen der deutschen Industrie handeln würde, könnte sich mit Sicherheit nur wenige Tage in seinem Amt behaupten. Insofern hat George Friedman durchaus Recht, wenn er behauptet, dass nicht Frau Merkel die deutsche Politik bestimme, sondern die massiven Interessen der deutschen (Groß-)Industrie und – wie ich hinzufügen möchte – natürlich auch der dort beschäftigten Menschen, deren Interessen in diesem Punkt mit denen der Industrie durchaus übereinstimmen.

Die USA und das angelsächsische Lager als Hauptquartiere des Neoliberalismus

Allerdings hätte Herr Friedman dieselben Überlegungen auch im Hinblick auf sein eigenes Land anstellen können, und zwar mit weit größerer Emphase. Immerhin waren es die Vereinigten Staaten, die sich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs mit größter Vehemenz für einen weltweiten Freihandel eingesetzt haben, selbst wenn sie – sobald ihr eigener Vorteil dies nahelegte – in aller Stille protektionistische Maßnahmen ergriffen. Deutschland ist zwar bereitwillig im Kielwasser der Vereinigten Staaten gesegelt und hisste dabei brav die Fahne des Neoliberalismus, aber Deutschland war keineswegs dessen Propagandazentrale und sicher nicht dessen ideologisches Hauptquartier. Dieser Vorrang gebührt den Vereinigten Staaten – und dagegen hat Herr Friedman meines Wissens nie Einspruch erhoben.

Der deutsche Exportstaat

Dennoch ist Herr Friedman im Recht, wenn er die Interessen des deutschen Exportstaates hervorhebt. Wie kann ein Staat überhaupt in eine solche Rolle geraten? Sicher nicht dadurch, dass er mit einem anderen Staat ähnliche Güter tauscht, seien diese nun technologisch gleichwertig oder und unter gleichen Bedingungen hergestellt. Würden zwei Staaten einander ausschließlich mit Autos von vergleichbarer Qualität beliefern, dann hätten sie zwar ihre Modellpalette erweitert, aber außer dem entschiedenen Nachteil einer vermehrten Umweltbelastung würden sich daraus keine Vorteile für sie ergeben. Hätten nämlich beide Staaten ihre je eigene Autoproduktion entsprechend erhöht, würde sie den gleichen Wohlstand mit weniger Kosten erringen.

Oliven gegen Volkswagen

Der Freihandel ist nur dann wirklich lohnend, wenn er in einem Austausch ganz unterschiedlicher Produkte besteht. Das ist z.B. der Fall, wenn Deutschland Volkswagen nach Griechenland, Spanien oder Portugal exportiert und im Gegenzug dafür aus diesen Ländern Oliven, Yoghurt, Schuhe, Textilien, Tomaten, Orangen etc. importiert. Vielleicht haben Deutsche ein historisch gewachsenes Interesse für Maschinen und technische Tüfteleien, während Griechen eine besondere Neigung zu naturnahem Leben eignet. Dann wäre ihnen ebenso wie den Deutschen mit dieser Arbeitsteilung gedient. Und außerdem bliebe in den Ländern des Südens erhalten, was wir an ihnen so lieben, nämlich ihre abweichende Lebensart und kulturellen Besonderheiten.

Aber Vorsicht! Ein solcher Handel funktioniert auf Dauer nur dann, wenn der griechische Olivenbauer in einem vereinten Europa nach einiger Zeit so viel verdient wie der deutsche Arbeiter bei VW. Wenn seine Arbeitszeit und Mühe also gleich viel wert sind wie die Mühe seines deutschen Kollegen (auch wenn dieser im Unterschied zu dem Griechen seine Arbeit an überaus kapitalintensiven Maschinen verrichtet). Denn das Versprechen, womit Europa ökonomisch vereint worden ist, besteht in der Angleichung der Einkommen und Lebensbedingungen. Nur unter dieser Bedingung werden die Deutschen auch künftig ihre Automobile, Werkzeugmaschinen und chemischen Produkte im Rest Europas verkaufen können. Nur unter dieser Bedingung erscheint den Menschen der südlichen Peripherie der Handel mit Deutschland lohnend. Handel setzt nun einmal die Zufriedenheit aller daran beteiligten Partner voraus.

Bis zu Beginn der 90er Jahre blieb der soziale Frieden in Europa gewahrt

Bis zu Beginn der 90er Jahre, also bis zu dem Zeitpunkt als die von den USA forcierte (und in Friedmans Analyse ausgeblendete) Globalisierung des freien Handels eine starke Beschleunigung erfuhr, schien die Entwicklung Europas in diese Richtung zu gehen – d.h. in Richtung der Zufriedenheit aller beteiligten Partner. Drei Viertel des deutschen Exports gingen damals in die Länder Europas.

Die Länder Europas waren unterschiedlich stark industrialisiert

Dabei war eines schon damals offensichtlich. Nicht anders als heute wäre es ziemlich unsinnig gewesen, die deutsche Industrielandschaft einfach zu klonen, um sie nun auch in Griechenland, Spanien oder Portugal zu errichten. Damit hätten sich die bestehenden weltweiten Überkapazitäten noch vergrößert, und neue Mitbewerber hätten sich allenfalls durch Lohndumping zu behaupten vermocht. Der Süden blieb daher bei seiner Lebensweise – einer im Verhältnis zu Deutschland weit geringeren bzw. technologisch weit anspruchsloseren Industrialisierung. Solange der Wohlstand der Menschen dort trotzdem gehoben wurde, weil sie ihre Waren zu guten Preisen im Norden absetzen konnten, lag darin für sie kein Problem. Unter dieser Bedingung brauchte Deutschlands Rolle als Exporteur überwiegend industrieller Güter keinen Argwohn zu erwecken. Diese Art Handel mehrte den Wohlstand ganz Europas.

Die Interessen der deutschen Industrie und der Niedergang des Südens

Zu den wesentlichen Merkmalen führender Großindustrien gehört es nun allerdings, dass sie ihre Kapazitäten weit über den jeweiligen Bedarf hinaus steigern können – und dies in der Regel auch tun. Es ist nun einmal sehr viel aufwändiger, ein neues Produkt zu erfinden und zu entwickeln als die Produktionskapazitäten für bestehende Güter auf das Doppelte oder Dreifache zu steigern. Wie in allen führenden Industriestaaten litten auch deutsche Industrien unter überschüssigen Kapazitäten, gleichgültig ob es sich um Autos, Chemikalien oder Waffen oder Werkzeugmaschinen handelte. Sie alle konnten weit mehr produzieren, als der europäische Markt aufzunehmen vermochte.

Mit dem Status Quo, wie er bis zu den 90er Jahren herrschte, haben deutsche Unternehmen sich deshalb auch nicht zufrieden gegeben. Sie blickten über Europa hinaus. Sie wollten den von den USA propagierten Prozess der Globalisierung nun auch maximal für die eigenen Interessen nutzen. Denn das verschaffte ihnen gleich drei bedeutende Vorteile. Für innovative Industrieprodukte lassen sich auf dem Weltmarkt Monopolpreise erzielen (solange zumindest, bis andere sie imitieren oder billiger produzieren). Die sprunghafte Ausweitung des deutschen Exports über den ganzen Globus bescherte ihnen daher einen merklichen Gewinn. Immerhin hat sich der außereuropäische Export von einem Viertel auf heute ein Drittel der gesamten deutschen Ausfuhren gesteigert.

Ein weiterer Vorteil ergab sich für Industrien und Anleger (einschließlich Pensionsfonds, Versicherungen Hedgefonds etc.) zusätzlich daraus, dass sie, statt im wachstumsschwachen Deutschland zu investieren, in stark wachsenden Schwellenländern wie China gewaltige Renditen erzielten. Sie verkauften hochwertige Industrieprodukte und überschwemmten den europäischen Markt mit technologisch geringwertigeren und weit billigeren Erzeugnissen aus den Ländern Asiens. Dabei brauchten sie sich nur an dem analogen Vorgehen der USA zu orientieren. (3)

Für Deutschlands Wirtschaft ergab sich schließlich ein dritter Vorteil – und dieser traf die südlichen Länder ins Mark. Auch deren vorwiegend landwirtschaftlichen Produkte konkurrierten jetzt mit der ganzen außereuropäischen Welt. Das aber lief auf einen Preisverfall hinaus, denn wo viele Anbieter zusammenkommen, versucht jeder den anderen zu unterbieten. Man kennt das von den Rohstofferzeugern der Dritten Welt, die seit Jahrzehnten gezwungen sind, ihre natürlichen Ressourcen zu Schleuderpreisen an die Industriestaaten zu verhökern. Zwar haben die südlichen Länder diese Entwicklung nach Einführung des Euro noch zusätzlich angeheizt, indem sie Löhne und Preise inflationierten, die Angleichung der Lebensbedingungen also künstlich beschleunigten, aber das ändert nichts daran, dass der von Deutschland erzwungene Freihandel ihre ökonomische Lage wesentlich verschlechtert hat und verschlechtern musste. (4)

Der Freihandel hat die Einheit Europas zerschlagen

So wurde seit den 90er Jahren das Einverständnis zwischen Nord- und Südeuropa zerstört. Denn der Handel ist seitdem nicht länger für alle Beteiligten gleich vorteilhaft. Die Deutschen haben gewonnen, was der Süden verlor. Dieser muss ihnen für ihre Industrieprodukte nun immer mehr durch die globale Konkurrenz entwertete Waren liefern. Der ökonomische Sinn der Gemeinschaft ist außer Kraft gesetzt, nämlich die allmähliche Angleichung der Einkommen und materiellen Lebensbedingungen. Mögen George Friedmans Anwürfe gegen Deutschland auch noch so anrüchig sein, ich sehe nicht, wie man Deutschland von der Schuld freisprechen kann, durch seinen unbedachten Eintritt in den Globalisierungsprozess – also seine leichtfertige Nachahmung des von den USA vorgegebenen Wirtschaftsmodells – die Einheit Europas in Frage gestellt zu haben.

Für den globalen Erfolg als Industrienation hat Deutschland seine Nachbarn geopfert

Es ist die deutsche Exportpolitik, welche den ökonomischen und damit letztlich auch den politischen Sinn der Union beschädigt. Erst dadurch erhält auch die Schuldenmisere ihr ganzes Gewicht, denn die einbrechenden Einnahmen der südlichen Länder machen es diesen so gut wie unmöglich, die Schuldenlast zu begrenzen. Die gemeinsame Währung wäre heute nicht in so akuter Gefahr, hätte ein unbeschränkter Freihandel die Länder des Südens nicht dem Druck der globalen Märkte ausgesetzt und sie dadurch immer weiter ins Hintertreffen gebracht. Dazu ist es gekommen, weil der eigene Export und Erfolg auf den weltweiten Märkten Deutschland mehr wert war als die Zufriedenheit seiner europäischen Nachbarn und eine gesicherte Ausfuhr in deren Länder – und das, obwohl sich, wie schon betont, dieser Handel noch vor einem Jahrzehnt auf drei Viertel seiner gesamten Ausfuhren belief. Statt sich der US-amerikanischen Liberalisierung anzuschließen, hätte das nördliche Europa seine südlichen Nachbarn durch Zölle schützen müssen. Natürlich hätte Deutschland dann auch mit einer Beschränkung seiner eigenen außereuropäischen Exporte rechnen müssen. Aber damals wäre davon nur ein Viertel des deutschen Außenhandels betroffen gewesen. Das war und ist der Preis, den der Norden für die europäische Einheit erbringen muss. Bis heute hat Deutschland diesen Preis nicht zahlen wollen.

Am Ende wird ganz Europa einen weit höheren Preis zahlen müssen!

Ein verhängnisvoller Fehler! Man wird sich in Deutschland nicht wundern dürfen, wenn der Süden immer weniger Güter von deutschen Betrieben und stattdessen mehr und mehr industrielle Produkte von den asiatischen Billiglohnländern bezieht. (5) Daraus wird ein massiver Schaden für den ökonomischen Zusammenhalt Europas und nicht zuletzt auch für die Deutschen selbst erwachsen. Kein Zweifel: Es ist nur wenige Jahre her, da gehörten gerade die Deutschen noch zu den überzeugtesten Europäern. Aber sie waren außerdem noch besonders stolz auf die Leistungen ihrer führenden industriellen Konzerne, denen sie daher einen weltweiten Aufstieg gönnten. Dass aus diesen Einstellungen ein Konflikt für Europa erwachsen musste, schien niemand zu ahnen.

Die Verantwortung für das Zerbrechen Europas

George Friedman hat in diesem einen Punkt recht: Der deutsche Exportstaat ist das Problem. Wer trägt dann aber die Schuld an dem Zerbrechen Europas? Ist diese bei den deutschen Industrien zu suchen? Ich glaube nicht. Ein deutscher Kugellagerproduzent wird alles tun, um im Sinne des eigenen und des Profits der bei ihm beschäftigten Menschen seinen Absatz zu fördern. Es ist auch begreiflich, dass er seine Interessen von entsprechenden Lobbyisten in Berlin und Brüssel lautstark vertreten lässt. Er geht dabei genauso vor, wie wenn er die Umwelt verschmutzt, ohne sich viel dabei zu denken, solange niemand dagegen Einspruch erhebt. Seine raison d’être ist der eigene und der Profit der bei ihm beschäftigten Menschen. Beide soll er auf die bestmögliche Weise fördern. So wenig der einzelne Autofahrer für die Verkehrsregeln und die Einhaltung der Luftreinheit zuständig ist, so wenig ist es der Unternehmer für jene Regeln, die er im Sinne des Allgemeinwohls befolgen soll. (6)

Die Interessen der Allgemeinheit festzulegen und ihre Befolgung durchzusetzen, ist hingegen die eigentliche Pflicht und Aufgabe der Politik. Diese und nur diese soll im Sinne der Allgemeinheit das partikuläre Interesse der Einzelnen mit dem Gemeinwohl versöhnen. Die Schuld am Zerbrechen Europas liegt daher nicht bei den Unternehmen – diese gehen stets so weit, wie von den geltenden Regeln erlaubt – diese Schuld liegt bei der Politik, genauer gesagt, bei der deutschen Globalisierungspolitik, wie sie spätestens seit den 90er Jahren betrieben wurde. Niemand anders als die Sachwalter des Gemeinwohls, also die Politiker in Brüssel wie in den Hauptstädten Europas, hätten sich rechtzeitig der Frage stellen müssen, ob ein unkontrollierter Freihandel mit dem ökonomischen Wohl Europas verträglich ist. In meinen Augen hat die deutsche Politik eindeutig versagt, weil sie ihre Verantwortung zum Wohl des europäischen Ganzen nicht erfüllte, sondern ausschließlich den Interessen der deutschen Wirtschaft diente.

Politische Ökonomie

Auf die Verantwortung der Politik für wirtschaftliches Geschehen weist auch George Friedman mit der gebotenen Deutlichkeit hin. „…political involvement in the markets is actually the norm, not the exception…. thinkers such as Adam Smith and David Ricardo … understood this perfectly. They never used the term „economics“ by itself, but only in conjunction with politics; they called it political economy.“ The term „economy“ didn’t stand by itself until the 1880s when a group called the Marginalists sought to mathematize economics and cast it free from politics as a stand-alone social science discipline.“

Dem ist hinzufügen, dass die Verankerung der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Menschen in der Politik, d.h. ihre Einbettung in den übergeordneten Zielen und Werten einer Gesellschaft, keineswegs nur in der aktiven Regulierung der Wirtschaft im Sinne des Allgemeinwohls bestehen muss. Sie kann sich auch darin manifestieren, dass die Politik sich passiv verhält, indem sie der Wirtschaft und deren Interessen widerstandslos das Feld überlässt. Genau das ist seit etwa zwanzig Jahren in Europa der Fall. Der Rückzug des Staates hat dazu geführt, dass das Gemeinwohl immer mehr hinter partikulären Interessen zurücktritt. Wenn Europa die Krise überwinden soll, dann muss es genau die entgegengesetzte Richtung einschlagen.

1 Siehe Stratfors diesbezüglichen Artikel.

2 Ein anderes Beispiel: die mexikanische Schuldenkrise von 1982. Damals wurden die Investitionen überwiegend reicher oder sehr reicher amerikanischer Gläubiger mit Steuergeldern garantiert und weitgehend bezahlt, also mit dem Geld weit weniger begüterter amerikanischer Bürger.

3 Die USA haben allerdings den anfänglichen Vorteil mit einem Abbau ihrer Industrien erkauft und der Erosion ihrer Weltmachtstellung. Die Auswirkungen der Globalisierung hängen wie ein Damoklesschwert über ihnen. Auch hier imitiert Deutschland die USA: Zwischen 2004 bis 2011 stiegen deutsche Export nach China um ganze 209%. Frau Merkel treibt diese Entwicklung in letzter Zeit besonders forsch voran. Weiß sie, was sie tut?

4 Das ist es, was Heiner Flassbeck nicht verstanden hat, wenn er Schröder dafür kritisiert, dass dieser mit der Kostenreduktion des Standorts Deutschland den Ländern des Südens so sehr geschadet habe. Nicht Schröders Entscheidung ist die Wurzel des Übels, sondern die ihr vorangegangene Entscheidung für einen unbegrenzten Freihandel, durch die Schröder erst zu solchen Maßnahmen verleitet wurde.

5 Diese Drohung hat ein französischer Sozialwissenschaftler bereits ausgesprochen. Siehe „Der Teufel sitzt mit am Tisch“, Interview mit dem französischen Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd in: DER SPIEGEL, 2012/20; S. 92. Vgl. auch „Fiskalpakt – oder wie man einen Pakt mit dem Teufel schließt

6 Womit ich natürlich keineswegs bestreiten will, dass es auch ethisch verantwortungsvolle, also auch am Gemeinwohl orientierte, Unternehmer gibt und dass diese die höchste Achtung verdienen – ebenso jene, die, wie Christian Felber, eine solche Entwicklung mit großem persönlichen Einsatz begleiten. Man macht sich jedoch Illusionen, wenn man darin einen Ersatz für politisches Handeln erblickt.