Deutsche Unduldsamkeit und die Erlösung durch die Musik

Einmal haben sie auf dem Globus als die ersten gezählt – deutsche Denker und Wissenschaftler. Noch nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Hälfte aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen in ihrer Sprache geschrieben. Der deutsche Professor wurde weltweit bewundert – aber nein, nicht nur bewundert, immer ist er auch leise belächelt worden. Man argwöhnte, dass ihm bei aller Gelehrsamkeit doch etwas fehle, Lebensart und Lebensgenuss zum Beispiel. Sein Wissen, das war sein Ego; sein Lebenssinn, das waren die Bücher – vor allem natürlich die aus der eigenen Feder. Der deutsche Professor schien aus seinem jeweiligen Fachgebiet eine Art von Religionsersatz zu machen, weshalb denn auch der akademische Titel so überaus wichtig war: Er machte ihn überhaupt erst zu einem vollwertigen Menschen. In China nahmen die ersten Kaiser bei ihrem Tod die Konkubinen ins Jenseits hinüber, in Deutschland wird der Titel nach oben mitgenommen – selten lässt man diesen Schmuck auf den Grabsteinen aus. Der Herr Professor war und ist überzeugt, dass man ihm auch da oben den gebührenden Respekt nicht verweigern wird.

Zürnende Halbgötter

Im Diesseits dagegen wusste der Herr Professor sich den nötigen Respekt selbst zu verschaffen. Wehe, wenn man einen deutschen Professor auf seinem Fachgebiet reizt, wo er für sich das alleinige Herrschaftsrecht reklamiert! Ein solcher Übergriff kam und kommt in Deutschland einer Gotteslästerung gleich. Wehe, wenn ein Laie es wagt, sich über Dinge zu äußern, die der Domäne einer wissenschaftlichen Kapazität zugehören! „Nicht einmal ignorieren“, das ist noch die sanfteste Art der Behandlung. Ja, wehe selbst dann, wenn ein Kollege aus einem Nachbargebiet den Kopf über den Zaun zu strecken wagt und sich einen Ausflug in die sorgsam gehegten Gärten seines wissenschaftlichen Nachbarn erlaubt. Sprichwörtlich sind die Spinnefeindschaften, welche unter Talaren schwelen und die Luft deutscher Universitäten mit Gehässigkeiten vergiften. Zwar wird nicht länger gestäupt, gevierteilt und auf dem Scheiterhaufen bei kleiner Flamme verbrannt wie einst im Mittelalter. Die groben physischen Praktiken sind aber nur deshalb abgeschafft worden, weil man inzwischen über viel raffiniertere psychische Folterpraktiken verfügt!

Die deutsche Tiefe

„Oberflächlichkeit“ zum Beispiel ist der erste Bannstrahl, welche eine beamtete Autorität jedem entgegenschleudert, der ihr ins Gehege kommt. Als oberflächlich gilt in deutschsprachigen Breiten zunächst einmal jeder, der eine verständliche Sprache schreibt. Niemals werden Fachleute als seriös oder tief einschätzen, was ein gewöhnlicher, akademisch unbetitelter Mensch ohne Fremd- und Fachwörterbuch und ohne ein gründliches Training in verwickelten Schachtelsätzen einfach so in lesbarem Stil von sich gibt. Ein echter Gelehrter schreibt bei uns in einer Sprache wie das Kirchenlatein. Sie soll dem Uneingeweihten Schauer der Ehrfurcht über den Rücken jagen und durch Unverständlichkeit in die Knie zwingen. Ein hochgestochener wissenschaftlicher Jargon erfüllt die Funktion eines sanitären Riegels, womit man sich die Laien vom Leibe hält und den unwissenden Pöbel auf Distanz.

Nein, es gibt Ausnahmen von dieser Regel, aber sie werden nur unter den wirklich Großen gefunden. Nur diese können darauf verzichten, sich mit Barrikaden der Unverständlichkeit zu umgeben. Von Helmholtz oder Ernst Häckel zum Beispiel schrieben ein lichtes, schönes Deutsch, unter den Philosophen Schopenhauer oder Nietzsche – doch schon das Beispiel der beiden Letzteren sollte zu denken geben: Beide haben ihren Lebenszweck im Grunde verfehlt, weil sie es nicht zu ordentlichen Professoren brachten (Letzterer jedenfalls nicht in Philosophie).

Selbst Kant,

der in seinen ersten naturwissenschaftlichen Studien noch Sätze verfasste, die sogar sein treuer Lampe verstehen konnte, erkannte bald, dass er auf diese Weise Gefahr lief, mit dem eigenen Diener verwechselt zu werden – da hätte man ihn ganz gewiss niemals zu einem ordentlichen Professor gemacht (was ja ohnehin erst sehr spät geschah). Also entschloss er sich, in der Kritik der Vernunft, die Wahrheit in endlosen Schachtelsätzen so zu verzwirbeln, dass kein Lampe sie jemals durchschauen würde. Es gelang Kant sogar, einen Stil zu schreiben, der zwar nicht unklar aber derart verwickelt ist, dass selbst gestandene Professoren bei der Lektüre ins Schwitzen geraten. Seinem Renommee hat das in Deutschland außerordentlich genützt.

Immanuel Kant wurde nicht als deutscher Professor geboren, sehr wohl aber Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der den Vorzug eines bis zur Undurchschaubarkeit unverständlichen Stils nicht erst erlernen musste – er scheint die nützliche Lektion von vornherein mit der Muttermilch in sich eingesogen zu haben. Niemand kann gegen Hegel den Vorwurf erheben, flach, oberflächlich oder nichtssagend zu sein – das ist allein deswegen ausgeschlossen, weil nur ganz wenige überhaupt begreifen, was Hegel denn eigentlich sagen will.

An diesem Streben nach Vernebelung durch einen Jargon, an dieser bewussten Abschirmung gegen Kritik durch eine sprachliche Dornenschale, an der sich jeder die Zähne ausbeißt, bevor er überhaupt zum Kern des Gemeinten gelangt, an dieser Elfenturmbeinmentalität des deutschen (österreichischen etc.) Professors hat sich bis heute kaum etwas geändert.

Hüte dich vor wissenschaftlicher Inkorrektheit!

Dabei sollte Wissen doch eigentlich eine belebende Lust sein, eine Bereicherung, meinetwegen auch eine Leidenschaft, aber warum wird es so oft zu einer Bastion, die man gegen Eindringlinge mit Feuer und Schwert verteidigt? Warum geht man in Deutschland gegen jene, die man der wissenschaftlichen Inkorrektheit bezichtigt, so empört, so wütend, so unnachsichtig vor wie in früheren Zeiten nur gegen Aufrührer und Ketzer? Warum wurde gegen Thilo Sarrazin eine Menschenhatz losgetreten, wie es sie in Nazideutschland so oft, in Nachkriegsdeutschland bis dahin noch nicht gegeben hatte? Unwissenheit konnte man dem Mann so wenig zum Vorwurf machen wie den großen Ketzern des Mittelalters (Giordano Bruno, Galilei et alii) – den größten Teil seiner Einsichten hatte der Berliner Ex-Senator ja ohnehin aus bereits vorhandenen Quellen geschöpft.

Der Fehler des Verfemten war von anderer Art – es war der Fehler aller Außenseiter, die man auf Scheiterhaufen verbrennt. Sarrazin trat mit einem politisch inkorrekten Wissen hervor, das man aus diesem Grunde als falsch verdammte.

Shitstorms

Also haben sich die Zeiten vielleicht gar nicht so fundamental geändert. Geändert hat sich freilich die Stellung der Deutschen (Österreicher etc.). In einer sehr großen Welt sind sie zu einem kleinen Völkchen geschrumpft. Ihre einst globale Strahlkraft gehört wohl ein für alle Mal der Vergangenheit an. Das gilt auch für den deutschen Professor. Er wird nicht länger nachsichtig belächelt, wenn man an ihm die alten Laster entdeckt: professorale Rechthaberei bis hin zur Unduldsamkeit, akademische Abgehobenheit, sprachliche Rabulistik und den belehrend erhobenen Zeigefinger. Heute wird er dafür offen getadelt. Die geradezu sado-masochistische Lust, sich auch noch über das letzte Pünktchen auf dem allerletzten i erbittert zu streiten, ist ja aus der Professorenwelt inzwischen auf das ganze Volk übergesprungen. Heute prägt sie die Mentalität der Deutschen, die ein Volk von Kampfhähnen sind. Bei den kleinen Nachahmern der akademischen Vorbilder steigert sich die Streitlust bisweilen zu Orgien der Vernichtung (shitstorms). Das erweckt kein verzeihendes Lächeln, sondern wirkt nur noch befremdend.

Lachen streng verboten!

Im Namen der Rose beschreibt Umberto Eco einen mittelalterlichen Abt, Jorge de Burgos, der eine Reihe von Morden begehen ließ, nur damit das Zweite Buch der aristotelischen Poetik nicht in unbefugte Hände gelangt. Dieses Buch handelt von der Komödie und dem Lachen. Für den wahrhaft Gläubigen, den der Abt des Klosters repräsentiert, gibt es in diesem Jammertal nichts zu lachen. Da ist alles bitter und furchtbar ernst – und so verhält es sich leider nur zu oft auch mit deutschem Denken: Da gibt es wenig bis gar nichts zu lachen. Denn Lachen, das schickt sich für einen ordentlichen deutschen Professor so wenig wie für einen Mönch des Mittelalters!

Deutsche Schizophrenie

Wahr ist aber auch, dass die Deutschen selbst am eigenen Ernst am meisten leiden. Wer wüsste das besser als Friedrich Nietzsche, der die Deutschen in ihrer inneren Gegensätzlichkeit, ihrer Zerrissenheit wohl umfassender repräsentiert als irgendein zweiter Denker. „Ein Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere,“ so kann man im Zarathustra lesen, „meinen allerhöchsten großmächtigsten Teufel, von dem sie sagen, dass er ‚der Herr der Welt’ sei.“

Und Nietzsche formuliert auch gleich die Sehnsucht des Denkers, der mit diesem Ungenügen an sich selbst leben muss. „.. ich wüsste nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit.“

Wenn Nietzsche um sich schlägt, dann trifft und meint er im Grunde sich selbst: diesen toternsten Menschen, den das eigene Leiden bis in den Wahnsinn trieb. Wie gern hätte Nietzsche getanzt, alle Schwere von sich gestreift, stattdessen griff er zum Hammer, um mit diesem Instrument der Vernichtung zu denken, zu philosophieren! Nietzsche ist die Verkörperung der deutschen Pathologie. Vermutlich hat jedes Volk seine eigene Pathologie, aber niemand hat die spezifisch deutsche besser durchschaut und mehr durchlitten als dieser Denker.

Nietzsche konnte es freilich nie lassen, aus einer Abneigung, die im Grunde dem eigenen Wesen galt, zugleich eine Verdammnis seiner Mitmenschen zu machen; in diesem Sinne bezeichnete er den deutschen Professor, der in ihm selber steckte, als „die deutsche Nationalkrankheit“. Die typischen Produkte professoraler Federn schien er im Sinn zu haben, als er die folgenden Zeilen schrieb: „Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein ‚Buch’ genannt wird!“

Britenhumor

In Großbritannien hat sich eine andere Tradition etabliert – vermutlich weil dort der Gentleman seine Heimat hat, der es rundheraus ablehnt, die eigene Stellung an so „banausischen“ Eigenschaften zu messen wie einem mehr oder weniger großen Wissen, das man auch in Wikipedia findet, oder politisch korrekten Überzeugungen, mit denen man alle Mal hinter den Fundamentalisten zurückbleibt. Was für den Gentleman zählt, ist eine als überlegen geltende Lebensart. Dazu gehört vor allem die Kunst des Humors, schwarz oder anders gefärbt, die es selbst Überzeugungsgegnern erlaubt, zivilisiert am selben Tisch miteinander zu kommunizieren.

Natürlich kann das Ideal eines Humors, der auch zwischen Feinden noch Brücken schlägt, leicht in Klassenhochmut umschlagen. Das ist dann vielleicht die typisch britische Pathologie, weil hinter der demokratischen Fassade dieses Landes ja bis heute ein festgefügter Klassenstaat steht.

Doch wo ein weltweises Lächeln oder der gelungene Witz einfach den elementaren Zweck erfüllt, menschliche Zusammengehörigkeit auch da herzustellen, wo diese sonst nicht zustande käme, da ist beides jedoch jene herrliche Würze, welche dem Geist erst die Schwere nimmt.

So betrachtet: Welch ein Vergnügen, die Schriften eines Bertrand Russell zu lesen! Aber es macht auch noch Spaß, die Thesen Richard Dawkins zu studieren, selbst wenn man sie durchwegs für abwegig hält. Die Tradition, über alles – vor allem auch über sich selbst – lachen oder zumindest lächeln zu können, gibt den hervorragendsten Vertretern des Geistes auf den britischen Inseln eine Leichtfüßigkeit, die hier gern als Oberflächlichkeit abgetan wird. In Wahrheit sind dieser Witz, diese Ironie, dieser Humor eine Gabe, um die man die Briten beneiden muss.

Musik: der deutsche Weg zur Erlösung

Ich stelle mir vor, dass die Deutschen (die Österreicher usw., denn da passen sie alle unter denselben Hut) sich ihres Mangels heimlich bewusst sind, wenn auch die meisten von ihnen sich kaum so deutlich darüber zu äußern vermögen wie Friedrich Nietzsche. Wenn dieser im deutschen Professor eine Nationalkrankheit sah, dann ist das eine Verallgemeinerung, bei der sich vielen die Haare sträuben. Ja, gibt es den Deutschen denn überhaupt?

Nein, sicher nicht! In den meisten Deutschen ist der Professor allenfalls embryonisch vorhanden, in statu nascendi sozusagen. Nie gelangt er zu seiner vollen Entfaltung mit Titel, Talar und Katheder. Doch selbst in dieser unentwickelten Form bleibt er an jener Neigung zu Arroganz, Pedanterie und streitsüchtigem Ernst erkennbar, welche zu den zuverlässigen Kennzeichen der nationalen Krankheit gehören.

Und so wird man denn – abermals in unverzeihlicher Verallgemeinerung – sagen dürfen: Hätten die Deutschen nur den deutschen Professor und seinen hoch gestreckten Zeigefinger erfunden, dann wären sie ganz gewiss ein schwer erträgliches Volk – für sich selbst ebenso wie für die übrige Welt -, doch weil sie im Innersten um ihren Mangel wissen, der ihr Leben in der äußeren Welt so beschwerlich macht, haben sie sich eine innere Welt gebildet, sie haben sich eine Innerlichkeit erfunden, wo sie so sind, wie sie in Wahrheit sein wollen. Dort tanzen, dort lachen und weinen sie und brauchen sich dabei vor niemandem zu schämen, denn dort erkennt sie niemand wieder, der in ihnen zuvor nur Rechthaber, Pedanten und bierernste Menschen sah. Dort pflegen sie den Umgang miteinander und mit der übrigen Welt in einer geheimen Sprache, die zugleich die einzig wahrhafte ist, die einzig universale. Diese Sprache spricht jedermann an, weil es ist die tiefste, bewegendste, aufwühlendste, die versöhnlichste ist.

Man mag die Deutschen und ihre Eigenarten belächeln, aber über ihre Musik lächelt niemand, denn sie ist ein bis heute unversieglicher Quell von Bewunderung und Freude. Solange Händel, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und ihre Nachfolger zu diesem Land gehören, verwandelt Deutschland sein äußeres Leid in innere Erlösung. Und es hat sich auch keinesfalls abgeschafft.