Brave new globalized world! Das Pro der Schönfärber und das Contra der Skeptiker

(auch erschienen in: Zeitschrift "Humane Wirtschaft" 1/2016 und "scharf-links")

Grenzenlos wachsender Reichtum?

Pro: Vor zwei Jahrhunderten wurde die Welt selbst noch in ihren damals fortschrittlichsten Teilen (Europa) von Hungersnöten verheert, obwohl sie nur den siebenten Teil, also einen Bruchteil, der heutigen Bevölkerung ernährte. Heute bietet sie mehr als der Hälfte der Menschheit einen Lebensstandard, wie er in früheren Zeiten nur einer hauchdünnen Elite zugänglich war. Am deutlichsten lässt sich der gewaltige materielle Aufschwung an der Entwicklung Chinas ablesen. Nirgendwo wurde in kürzester Zeit (innerhalb von vier Jahrzehnten) so großer Reichtum geschaffen, nirgendwo sonst schießen die Milliardäre so zahlreich aus dem Boden. Die Bürger wohlhabender Staaten müssen sich nicht länger mit menschlichen Sklaven umgeben, wenn sie im Luxus leben wollen, heute verfügt jeder von ihnen über zehn bis dreißig Maschinensklaven – Autos, Waschmaschinen etc. -, die ihren Dienst ohne Zwang verrichten.

Contra: Wir haben diesen Reichtum mit einem Preis bezahlt, der sich jetzt schon als für den Planeten untragbar erweist, weil er nicht auf der zyklischen Nutzung erneuerbarer, sondern auf einem weltweit gigantischen Verschleiß begrenzter Ressourcen beruht – und deren Erschöpfung ist jetzt schon absehbar (Kupfer, Phosphor, Bau-Sand, Energie etc.). Die permanent gesteigerte Umwandlung von Rohstoffen in Fertigprodukte und Müll führt zudem zu einer dramatischen Vergiftung des Globus. Mit der CO2-Belastung der Luft und der Vermüllung der Meere greift der anthropogene Verschleiß auf den gesamten Planeten über. Der Reichtum, wie wir ihn gegenwärtig erzeugen, ist eine Kriegserklärung an die Natur.

Durch seinen Erfindungsreichtum hat der Mensch bisher noch alle Schwierigkeiten bemeistert

Pro: Die bisherige Geschichte des Menschen gleicht einer einzigen Aufwärtsspirale. Als die Jäger das Großwild überall auf der Welt ausgemerzt hatten, wurden sie zu Bauern und Hirten; als die Ackerwirtschaft an ihre Grenzen stieß, wurde die Industriegesellschaft erfunden. Jetzt, wo die industrielle Ausbeutung des Planeten an ihr Ende gelangt, wird der Mensch eine neue Epoche beginnen. Die Versorgung mit Fusionsenergie steht kurz vor dem Durchbruch. Kassandratöne stimmen nur die ewig Gestrigen an: Menschen also, denen die Fantasie oder der Wille für die Gestaltung der Zukunft fehlt.

Contra: Alle bisherigen Kulturen mit Ausnahme der nomadischen Beutevölker haben ihrer Umwelt nur abverlangt, was diese ihnen zyklisch an erneuerbaren Produkten geliefert hat. Einige Gesellschaften wie die Bewohner der Osterinseln oder die frühen Kulturen Mesopotamiens haben der Natur allerdings mehr abgefordert, als die natürlichen Lebensgrundlagen erlaubten. Diese Völker sind entweder untergegangen oder ihre Bevölkerungen wurden im jeweiligen Lebensraum stark dezimiert.*1* Es blieb den modernen Industriegesellschaften vorbehalten, zum ersten Mal in der Geschichte mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit grundsätzlich zu brechen. Ihr Überleben verdankt die jetzige Bevölkerung von sieben Milliarden Menschen dem verschwenderischen Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen. Eine Versorgung durch nahezu kostenlose Energie mit Hilfe von Kernfusion würde kurzfristig zwar Entspannung bedeuten, langfristig aber zu einer dramatischen Zuspitzung der Krise führen, weil die Transformation knapper Rohstoffe dann in umso größerem Maßstab und umso schneller erfolgen könnte.

Ein wirklicher Ausweg aus dieser brandgefährlichen Situation ist nur auf dreierlei Weise möglich: erstens, durch eine radikale Reduktion der Bevölkerung bei gleichem Ressourcenverschleiß (Krieg); zweitens, durch eine radikale Verminderung des Konsums bei gleicher Bevölkerung (freiwillige oder unfreiwillige Armut); oder, drittens, durch eine grundsätzliche Umstellung der Wirtschaft auf Wiederverwertung und erneuerbare Energien (wie sie bisher nicht einmal den reichsten Staaten gelingt). Gegenwärtig wird China als Motor des Wachstums für die Weltwirtschaft gepriesen – wie jeder weiß, ist dies ein Wachstum des ungebremsten Ressourcenverbrauchs und der forcierten Naturvernichtung.

1 Jared Diamond, Collapse – How Societies Choose To Fail Or Succeed. Penguin Books 2006.

Haben wir das ideale Wirtschaftssystem erfunden?

Pro: Es gibt kein besseres Wirtschaftssystem als die moderne Marktwirtschaft, weil sie dem Einzelnen die Freiheit gewährt, nicht nur als Konsument, sondern ebenso auch als selbstentscheidender Produzent in Erscheinung zu treten. Das war weder in den Zeiten des Feudalismus bis ins achtzehnte Jahrhundert noch bei dessen verkappten Nachfolgern möglich, den Staaten des real existierenden Sozialismus (Ausnahme: das pseudosozialistische China). Solange der Staat die Wirtschaft und das wirtschaftliche Treiben jedes Einzelnen von oben dirigierte, war das Potential an verfügbarer Initiative, Intelligenz und Energie auf eine ganz kleine Schicht begrenzt. Abgesehen von der Staatsspitze selbst und der ihr unterstehenden Verwaltung, waren die meisten Menschen bloße Befehlsempfänger – eine auf Eigeninitiative gegründete dynamische Entwicklung war unter solchen Bedingungen undenkbar. Erst nach den beiden Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der amerikanischen und der französischen, zog sich der Staat allmählich aus der Wirtschaft zurück und überließ es jedem Einzelnen, als aktiver Mitgestalter in Erscheinung zu treten. Die Folge war eine nie dagewesene Explosion menschlichen Wissens und Könnens: wirtschaftliche Freiheit, ohne die es die politische, wie sich in der Demokratie manifestiert, niemals gegeben hätte.

Contra: Es ist wahr, dass die Mitwirkung aller Bürger an der wirtschaftlichen und politischen Gestaltung ein Ideal darstellt, demgegenüber die von oben verordnete Unfreiheit feudaler und realsozialistischer Systeme als ein die Mehrheit entmündigendes und ihre Fähigkeiten stark beengendes Übel erscheint.“1* An die Stelle der Bevormundung von oben tritt in der Marktwirtschaft allerdings Wettbewerb, den der Feudalismus bis dahin ebenso unterdrückte, wie er den kommunistischen Systemen suspekt war. Dadurch entsteht eine ganz andere Gefahr: Die auf dem allgemeinen Wettbewerb begründete Marktwirtschaft – auch die sogenannte soziale mit ihrem Bemühen um Umverteilung – ist ein inhärent instabiles System, weil wir als Konsumenten durch unsere Produktauswahl dafür sorgen, dass es unter den Anbietern von Wissen und Können notwendig Verlierer und Sieger gibt. Ohne das Eingreifen einer übergeordneten Instanz, also des Staats, werden die Sieger zunehmend stärker, die Verlierer mit der Zeit immer schwächer. Ohne einen die Gleichheit der Chancen aufrecht erhaltenden Staat geht ein ursprünglich aus materiell weitgehend gleich gestellten Bürgern bestehendes Gemeinwesen (wie das chinesische vor einem halben Jahrhundert) nach kurzer Zeit zwangsläufig in einen Klassenstaat über, in dem die Gegensätze zwischen Arm und Reich immer greller in Erscheinung treten. Eine ursprünglich egalitäre oder zumindest diesem Ideal verpflichtete Marktwirtschaft nähert sich auf diese Art wieder den Verhältnissen an, die sie einst überwinden wollte, d.h. dem Feudalismus. In diesem Stadium der wirtschaftlichen wie politischen Refeudalisierung befinden sich heute alle westlichen Staaten, die einen mehr, die anderen weniger. Es ist ihnen nicht gelungen, die private Initiative zu maximieren, ohne dabei den Staat in seiner wichtigsten Funktion zu schwächen: der Verhinderung einer neuen Privilegiengesellschaft.

Kommentar GJ: Dabei zielte die Theorie einer auf individuelles Verdienst begründeten Marktwirtschaft ursprünglich auf eine ganz andere Entwicklung. Während die klassenlose Gesellschaft nach Marx in der Praxis nur um einen exorbitant hohen Preis zu haben war, nämlich die gewaltsame Unterdrückung des Wettbewerbs, in dem sich die natürlichen Unterschiede der Intelligenz und persönlichen Initiative manifestieren (das schrecklichste Beispiel für diese systematische Unterdrückung lieferte der von Mao geschaffene Einheitsstaat aus blauen Ameisenmännchen), hatten die Idealisten des 18. Jahrhunderts eine klassenlose Gesellschaft ganz anderer Art im Auge. Sobald alle Vorrechte, die eine Gesellschaft den Individuen einräumt, einzig auf Wissen und Können, aber nie auf Privilegien gründen, genießt jede neue Generation exakt gleiche Rechte und Chancen, da Wissen und Können ja stets in anderen Köpfen geboren werden. Zeitweise bestehende individuelle Unterschiede können sich ohne erbliche Privilegien niemals zu Generationen überdauernden Klassen verhärten.*2*

1 Vgl. Daron Acemoglu und James Robinson, Why Nations fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. Crown Publishers 2012.

2 Den Gegensatz zwischen den beiden Formen der Marktwirtschaft, von denen nur die auf Privilegien begründete kapitalistisch genannt werden sollte, beschreibe ich in meinem Buch Das Ökonomische Manifest. Monsenstein und Vannerdat 2015.

Verdient das gegenwärtige Wirtschaftsmodell seine weltweite Expansion?

Pro: Der Fortschritt beruht auf der Propaganda für jene Werte, die ihn ermöglichen. Wir wissen, dass Staaten wie Japan, Indien oder China heute noch materiell so unterentwickelt wären wie vor hundertfünfzig Jahren, hätte der Westen es nicht für seine Pflicht und Aufgabe gehalten, ihnen – wenn es sein musste, auch unter Androhung von Gewalt -, den Weg in die Moderne zu weisen. Und der Westen hat in dieser Hinsicht durchaus keinen Sonderweg beschritten. Materiell und militärisch überlegene Staaten haben sich, wann immer sie sich davon einen Vorteil versprachen, andere Staaten unterworfen und ihnen ihre überlegene Lebensform aufgezwungen. Fortschritt heißt Sieg des Besseren über alles, was sich als schwächer erweist. Naturrecht ist nichts anderes als das Recht des Stärkeren, das immer auch das des Besseren ist. Der Sieg westlicher Demokratien und des westlichen Wirtschaftsmodells ist auf geschichtlicher Notwendigkeit begründet.

Contra: Diese Geschichtssicht entstammt dem Sozialdarwinismus, der in der einen oder anderen Form immer schon das ideologische Fundament der materiell Überlegenen war. Sie zielt aber an der Wahrheit vorbei: Gegenwärtig sind die Eliten der immer noch führenden westlichen Staaten emsig bemüht, das Fundament ihrer eigenen Staaten zu demolieren. Der Reichtum westlicher Eliten fließt in breiten Strömen ins Ausland – bisher vor allem nach China -, um dort größere Renditen zu erzielen, als sie das eigene Land zu bieten vermag. Die Folge dieses Kapitalexports: Die industrielle Substanz und mit ihr die Massenbeschäftigung zu hohen Löhnen wurden in den USA weitgehend ausgehöhlt. Seit den 90er Jahren hat die Auslagerung aber auch Europa ergriffen. Erhalten bleiben nur Posten der Spitzentechnologie, in denen – aufgrund weltweiter Konkurrenz – die Arbeitskräfte nur bei höchstem Einsatz Karriere machen. Auch hier sind die Folgen katastrophal: Gerade der am besten ausgebildete Teil der heimischen Bevölkerung muss das eigene Leben ganz in den Dienst der Wirtschaft stellen. Der gar nicht mehr so langsame demographische Selbstmord der arbeitenden Kernbevölkerung westlicher Gesellschaften hat wesentlich mit diesem Leben unter beruflichem Hochdruck zu tun. Es entsteht eine geteilte Gesellschaft, in der eine schrumpfende Zahl von hochbezahlten Leistungsträgern die eigentlichen Garanten des Wohlstands sind. Diese Schicht muss eine immer größere Zahl von „Überflüssigen“ alimentieren, die an den Rand der Gesellschaft abgedrängt wurden.

Das ist Globalisierung, die den Aufstieg der einen mit dem Niedergang der anderen bezahlt. Wenigstens ebenso schlimm wie dieser destabilisierende Effekt auf die Gesellschaft ist zudem die Wirkung auf die Natur. Ein wegen seines Naturverschleißes nicht verallgemeinerungsfähiges System wurde zuerst von den westlichen Eliten und wird nun mit noch größerer Effizienz von China über die ganze Welt ausgedehnt. Dafür wird das fernöstliche Land auch noch in den höchsten Tönen gelobt.

Grenzenlose Freiheit in der pluralistischen Gesellschaft?

Pro: In der Vergangenheit gab es kein Gesellschaftssystem, geschweige denn einen Staat, der seinen Bürgern ein so hohes Maß an Freiheit gewährte, wie es in den Staaten des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg möglich war und weitgehend auch verwirklicht wurde. Früher galt das Primat von Politik und Religion (das Primat des Staates) gegenüber den Einzelnen, heute ist der souveräne Einzelne in den pluralistischen Gesellschaftssystemen von aller verordneten Bevormundung durch Glaube, Religion und nationalstaatliche Ideologie befreit. Er darf denken, ja selbst tun, was er will und wie er es will – mit der einzigen Einschränkung, dass er damit nicht die Freiheit anderer Menschen verletzt.

Contra: Eine Freiheit, die alle Inhalte als „gleich gültig“ setzt, beschwört dadurch deren Gleichgültigkeit, sprich ihre Beliebigkeit. Dadurch lähmt sie den Menschen als Gemeinschaftswesen, denn alle Gemeinschaft lebt von geteilten Werten und Zielen. Die unbegrenzte Freiheit stößt das Individuum, das sie nun ganz und gar sich selbst überlässt, in Einsamkeit und Desorientierung. Es sei ein erregendes Gefühl, sagte Paul Valéry, wenn wir im Namen der Freiheit mehr und mehr gesellschaftliche Normen und Konventionen schleifen. Aber kaum haben sich die Leute den gemeinschaftlichen Boden ganz unter den Füßen weggesprengt, rufen sie auf einmal die Polizei herbei! Valéry meinte, dass sie dann nach starken Männern und nach den einfachen Wahrheiten der Demagogen rufen, die ihnen wieder eine gemeinsame Richtung weisen.

Sobald in einer Wettbewerbsgesellschaft der Staat heillos geschwächt ist und nur noch Einzelne gegen Einzelne kämpfen, wird Freiheit zum Selbstwert verklärt. Die daraus resultierende Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen erstickt das elementare Bedürfnis nach Kooperation und menschlicher Solidarität.

Eine Ära des ewigen Friedens?

Pro: Trotz der auch heute noch ausgeübten Kriegshandlungen gehen wir einer Zeit des weltweiten Friedens entgegen, weil die Menschen einander immer ähnlicher werden und damit einer der Hauptgründe für gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft entfällt. Noch vor dreihundert Jahren haben ein Inder, ein Chinese und Engländer einander kaum verstanden, weil sie – befangen in ihren traditionellen Kulturen – die Ziele menschlichen Lebens jeweils radikal anders definierten. Heute kleiden sich Chinesen und Inder wie Deutsche oder Italiener; sie trinken Wein, Bier oder Coca Cola wie bei uns, und bei entsprechendem Einkommen konsumieren sie weitgehend die gleichen Artikel wie wir. Sofern sie in großen Konzernen beschäftigt sind, ist ihr Lebensrhythmus überall auf der Welt inzwischen nahezu identisch. In dem Augenblick, da auch die letzten kulturellen Besonderheiten einer weltweiten Konsumkultur Platz gemacht haben, werden alle Menschen – nicht nur die des Westens – den materiellen Wohlstand für wichtiger halten als sämtliche sie bis dahin trennenden Gegensätze. Dann wird für die Menschheit die lang ersehnte Ära des Friedens anbrechen. In unserer Zeit werden die letzten Kriege ja genau deshalb geführt, weil es immer noch Menschen gibt, die sich der herrschenden Weltkultur widersetzen und auf den trennenden Unterschieden bestehen – vor allem auf ihrem Glauben und ihrer Ideologie.

Contra: Es stimmt: Die früheren kulturellen Unterschiede, die einst die faszinierende Vielfalt kollektiver Lebensentwürfe ausmachten, sind weitgehend verschwunden. Aber es ist eine trügerische Illusion, sich davon eine Ära größerer Friedfertigkeit zu erhoffen. Das Gegenteil ist wahrscheinlich: Menschen, die sich als gleich wahrnehmen, pochen auf gleiche Rechte. Allerdings vergebens, denn genau diese bleiben ihnen in kapitalistischen Systemen verwehrt. Während die Menschen kulturell einander zusehends ähnlicher werden, verschärfen sich die materiellen Unterschiede – und sie tun das gerade dort in unglaublichem Tempo, wo wie in China die Staatsräson dies aufgrund einer sozialistischen Verfassung eigentlich strikt untersagt. Die zum Kapitalismus mutierte Marktwirtschaft ist ein System, das den Gewinnern die größten Chancen und Privilegien gewährt, und daher den Antagonismus zwischen der Masse der Habenichtse und den wenigen Glücksrittern dramatisch verschärft. Viele Anzeichen deuten weniger auf Frieden als auf einen „Weltkrieg um Wohlstand“ angesichts schwindender Ressourcen hin.*1* In diesem Sinne forcieren die führenden Weltmächte USA, China und Russland längst wieder eine gewaltige Waffenrüstung, nachdem der Zusammenbruch der Sowjetunion deren Tempo eine Zeitlang abgebremst hatte. Viele andere Staaten schließen sich ihnen an und steigern ebenso ihre Investitionen in den Vernichtungssektor. Die polyzentrische Neuordnung des Globus begünstigt diese Entwicklung.*2*

1 So der Titel eines Buches von Gabor Steingart.

2 In einem akuten Anfall von Pessimismus habe ich die – bisher unveröffentlichte – Arbeit Der kommende Weltstaat geschrieben .

Müssen wir alle zerbomben, die unsere Werte nicht akzeptieren?

Pro: In unserer Zeit steuert die Geschichte, wie bereits von Francis Fukuyama geahnt, auf ihr logisches Ende zu: nämlich auf die weltweite Verwirklichung einerseits des idealen politischen Systems demokratischer Mitbestimmung, andererseits des idealen Wirtschaftssystems, das es im Prinzip jedem ermöglicht, gemäß seinen Fähigkeiten zum Mitgestalter zu werden. Wer sich dieser historischen Logik entgegenstellt – und das tut zum Beispiel der Islamische Staat -, stellt sich gegen Fortschritt und Geschichte. Wir sind durchaus im Recht, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen, zu denen natürlich der Krieg gehört.

Contra: Die Geschichte wird nicht von Theorien gelenkt, sondern von den jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnissen der Menschen. Auf das republikanische Rom folgte die Diktatur der Kaiser und nach dem fünften Jahrhundert der Zusammenbruch, also eine starke Rückentwicklung des schon erreichten zivilisatorischen Niveaus. Ein Endpunkt der Geschichte existiert nur in den Köpfen welt- und geschichtsfremder Theoretiker. Kein Staat sollte sich das Recht anmaßen, anderen im Sinne irgendeines selbsterfundenen Fortschrittsideals die eigenen Werte aufzuzwingen. Wenn diese tatsächlich vorbildlich sind, besteht ohnehin die Chance, dass andere sie übernehmen. Unverzichtbar ist einzig das Recht auf Selbstverteidigung; der Islamische Staat verfügt jedoch über keine Armee, mit der er die Staaten des Westens angreifen könnte. Vielmehr wurde der Nahe Osten selbst aufgrund des aggressiven Zugriffs ausländischer Mächte in das Chaos getrieben. Jene, die als Terroristen unsere Staaten bedrohen, sind zum größten Teil bei uns groß geworden, nämlich an den Rändern unserer Städte. Zwar werden sie mit Propaganda (und bisweilen auch finanziell) vom IS unterstützt, aber wenn Propaganda und finanzielle Unterstützung allein schon ein Kriegsgrund wären, hätte die Welt ein Vielfaches an Kriegen zu führen. Propaganda, welche andere Länder mitsamt deren Werten verteufelt, war und ist allgegenwärtig. Sie wird vom wahhabitischen Saudi-Arabien gegenüber nicht-islamischen Ländern betrieben, von Nordkorea gegenüber den USA, von Iran gegenüber Israel, von den USA gegenüber Russland – und umgekehrt. Solange solche Vernichtungsphantasien, in denen der jeweils andere Staat als Reich des Bösen gebrandmarkt wird, ohne allzu gravierende praktische Folgen bleiben, sollten sie niemals ein Grund für Kriege sein. Der Islamische Staat bedroht uns nicht mehr als jede gewaltsame Staatsneugründung, die sich aus den Trümmern einer zerschlagenen Ordnung erhebt. Wie die meisten anderen in ihren Ursprüngen blutigen Gründungen – man denke zum Beispiel an die französische oder russische Revolution – würde sie ohne Verteufelung von außen mit größter Wahrscheinlichkeit sehr bald in die üblichen normalen Bahnen jeder Staatsgründung überwechseln. Ein Recht auf Widerstand haben nur die Nachbarn des Islamischen Staats, wenn sie ihre Grenzen verteidigen. Dagegen sind die Terroristen, die uns bedrohen, keine äußeren Feinde. Wir besiegen sie nicht, indem wir den Mittleren Osten noch weiter zerbomben – das wird ihre Zahl nur vergrößern -, sondern indem wir uns fragen, welche Bürger in unserer Mitte potentielle Mitläufer des Terrors sind und welche Gründe für ihren Hass den Ausschlag geben. Wir müssen uns, anders gesagt, gegen uns selbst verteidigen. Das kann durchaus bedeuten, dass wir die eigenen Institutionen überdenken und die Folgen der Globalisierung dort beschränken, wo sie für uns gefährlich werden.