Aber können sich Österreicher und Deutsche noch freuen? Und dürfen sie das überhaupt?
Aufgrund der Unerbittlichkeit statistischer Gesetze ist davon auszugehen, dass es im Stammbaum jeder Familie überall auf der Welt einen Mörder oder sonstigen Verbrecher gibt. Man braucht nur weit genug in die Vergangenheit zurückzugehen, dann begegnet man ihm mit hundertprozentiger Sicherheit.
Wie geht der Mensch mit dieser Unvermeidlichkeit um? Eine Möglichkeit besteht darin, ein Porträt des Mannes – seltener der Frau – im Empfangsraum des eigenen Hauses für alle sichtbar aufzuhängen. Dann will man sich selbst und seinen Gästen beweisen, dass man mit der eigenen Vergangenheit ehrlich umgeht, nichts verschweigt oder gar beschönigt. Um diesen Verdacht von vornherein abzuwehren, führt man jeden Gast auch gleich zu Anfang vor dieses Bild. Ja, um das Ritual dieser hellsichtigen Selbsterkenntnis noch zu vervollständigen, schlägt man sich mit den Worten „Nostra Culpa, nostra maxima Culpa“ auch noch demonstrativ auf die Brust. Jeder soll sehen, dass wir uns jetzt und für alle Zeiten bewusst sind, einen Verbrecher im eigenen Stammbaum zu haben. Wir bestehen darauf, diese Erinnerung zu einem Teil, vielleicht sogar zum wichtigsten Teil der eigenen Identität zu erklären.
Es kann dem Leser nicht verborgen bleiben, dass diese Einstellung das Verhältnis der Österreicher und Deutschen zu ihrer Geschichte auf eine bedrückende, aber doch ziemlich genaue Weise beschreibt. Nach dem Massenmord an ihren Mitmenschen zur Zeit des Naziregimes haben sie sich selbst vor aller Welt zu diesem Ritual verpflichtet. Die eigene verbrecherische Vergangenheit präsentieren sie sich selbst und jedem Gast schon im Empfangsraum als stets gegenwärtigen Teil ihrer Selbstdefinition. Aber ist das eine ehrliche und deshalb auch unerlässliche Art von „Vergangenheitsbewältigung“, die einzige, mit der man den unschuldigen Opfern nachträglich Gerechtigkeit widerfahren lässt?
Würde die Geschichte der Deutschen und Österreicher aus nichts anderem bestehen als den dreizehn unseligen Jahren der Nazizeit, dann müsste man diese Frage bejahen. Dann dürfte es auch keinen Tag der Freude mehr geben, denn solche Identität wäre gleichbedeutend mit einer ewig schwärenden Wunde. Aber besteht die eigene Geschichte wirklich nur aus diesen dreizehn Jahren. Begehen wir nicht eine horrende Geschichtsverzerrung? Müssten neben dem Bild des Mörders nicht wenigstens hundert, wenn nicht tausend Bilder von Menschen mit lächelnden Gesichtern aufgehängt sein, Menschen, die anständig, ehrlich, vielleicht sogar großartige Vorbilder für andere waren? Warum sehen wir im Empfangsraum nichts anderes als die Fratze des Monsters? Warum fällt niemandem der naheliegende Einwand ein, dass wir ein neues Unrechtbegehen, wenn wir die Augen vor den Generationen von Menschen verschließen, die wir bewundern könnten? Sollten nicht gerade sie, da sie in der überwiegenden Mehrheit sind, unsere eigentliche Identität ausmachen? Deutsche und Österreicher hätten nur dann eine Pflicht, die dunkle Zeit der eigenen Geschichte niemals zu vergessen, wenn sie nicht wenigstens ebenso bereit sind, alles, was sie ihren Vorfahren an Großartigem in Politik, opferbereiter Gesinnung, Kunst und Kultur verdanken, noch um vieles mehr zu würdigen und es mindestens ebenso wert zu halten. Leider haben sie aber genau das Gegenteil getan. Der Mörder hängt im Empfangsraum und in ihrem Kopf, von den Vorbildern aus der Vergangenheit wollen sie nichts wissen, ganz so, als hätten diese niemals gelebt.
Die falsche Gleichsetzung der nationalen Identität mit dem Verbrechen wird schon von den elementaren Gesetzen der Bio- und Psychologie außer Kraft gesetzt. Jede normale Mutter ist darauf bedacht, ihrem Kind, dem neuen Erdenbürger, nur Freude zu bereiten, ihn vor allem zu schützen, das ihn mit dem Bösen und dem Hässlichen in Berührung bringt. Sie weiß ja, die Bekanntschaft mit dem Unheil wird sich irgendwann ganz von selbst ergeben, solange es aber in ihrer Macht liegt, wird sie das eigene Kind davor bewahren. Eine Mutter wird niemals den Mörder im Empfangsraum, geschweige denn im Kinderzimmer, aufhängen, auch wenn sie weiß, dass er ein nicht zu leugnender Bestandteil der eigenen Familiengeschichte ist. Haben Vernunft und Einsicht jemals gegen diesen Schutz protestiert?
Jedes Kind, jede Generation, jedes Jahr und sogar jeder Tag ist ein Neubeginn, und er soll es sein – nur unter dieser Voraussetzung können wir leben. Wir brauchen uns deswegen nicht zu belügen, wie es die Österreicher so lange taten, als sie sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus ausgaben. Das Böse gehört zur Geschichte einer Nation wie zu der jedes einzelnen Menschen, aber das gilt genauso für das Gute. Ein Neubeginn ist nur möglich, wenn wir den einen Teil mindestens ebenso schätzen wie wir den anderen verdammen. Der dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts hat ein unglaubliches Maß an Bestialität entfesselt. Davon hat Simplicissimus Teutsch ein bleibendes Zeugnis abgelegt. Und dennoch war der Neubeginn überraschend schnell wieder möglich. In den Werken Telemanns, Bachs und Händels – den großen Namen der Musikgeschichte – sehen wir, kaum ein halbes Jahrhundert nach dem Schrecken, eine Lebensfreude aufglänzen, wie sie uns Heutigen kaum noch möglich erscheint. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts steigert sich diese Fähigkeit bei Beethoven zu einer Hymne an die Freude. Haben diese Großen unserer Geschichte vergessen, den Mörder im Empfangsraum aufzuhängen?
Andererseits gibt es kaum ein Volk auf der Welt, das von seinen Mitmenschen so viel Leid erfuhr wie die Juden. Sie hätten Grund gehabt, ihre eigene Identität allein durch das Leid zu bestimmen. Stattdessen beschwören sie in ihren Festen die Überwindung des Leids durch die großen Taten der eigenen Vorfahren – sie beschwören immer auch die damit verbundene Freude. Jüdischer Humor und Witz sind deren spezifische Ausprägungen. Die unglaubliche Fähigkeit, trotz allen Leids nicht am Dasein zu verzweifeln, ist der Grund für das Überleben dieses über alle Kontinente versprengten Volkes durch drei Jahrtausende.
Der Mörder im eigenen Empfangsraum, den man sich selbst und dem Gast als wesentlichen Teil der eigenen Identität präsentiert und dabei jenen weit überwiegenden Teil der Geschichte ausblendet, welcher Mut zum Neuanfang geben könnte, ruft bei schlichten Geistern ebenso schlichte Abwehr bis hin zum bösartigen Protest hervor. Wenn man jungen Menschen die wirklichen Vorbilder vorenthält, weil die eigene Vergangenheit insgesamt als wertlos abgetan oder schlicht vergessen wird, dann werden sie sich, da sie nichts anderes kennen, den Mörder selbst zum Vorbild nehmen. Sie werden seine Brutalität in Stärke umdeuten, seine Ausrottungsfantasien als Heilslehre verstehen, um Schluss mit einem verdorbenen System zu machen, seine Unmenschlichkeit erscheint ihnen als Vorrecht des Übermenschen.
Es ist leider Faktum: der Mörder hat sich fest im Empfangsraum der neudeutschen und neuösterreichischen Mentalität eingenistet. Er hat sich dort wie ein schleichendes Gift ausgebreitet, das alle Freude am Dasein zersetzt. Man kann manchmal den Eindruck gewinnen, als würden sich die Deutschen – mit Ausnahme natürlich der Ewig-Gestrigen – am liebsten selbst abschaffen. Ihre Sprache wurde von Hitler gesprochen, also ist ihnen die eigene Sprache nichts wert. Heimat und Vaterland wurden von Hitler zu Kampfbegriffen gemacht, also darf man von Heimat und Vaterland nicht länger reden. Hitlers Jugend musste die Volkslieder singen, die vorher zu einer großartigen Tradition in Deutschland wie in Österreich gehörten. Also haben nach Hitler Deutsche und Österreicher das Singen verlernt. Nein, nicht verlernt, es ist ihnen peinlich geworden, weil sich darin Freude bekundet, die sie sich selbst verbieten.
In Deutschland wie Österreich wollte man die Vergangenheit „bewältigen“, indem man sich selbst Gewalt antat. Aber Gewalt führt immer in das Böse zurück, auch wenn sie in guter Absicht erfolgt. Die Besinnung auf das Verbrechen hat zwar einen unverzichtbaren Sinn, wenn sie zu einem besseren Verständnis für dessen Ursachen verhilft. Aber allein und für sich genommen ist die Abwehr des Bösen keine lebenserhaltende Kraft, dazu kann sie nur werden, wenn sie einhergeht mit der Liebe und Schulung in lebensförderndem Denken und Handeln. Da aber zählt nur das lebendige Vorbild oder der Umgang mit den großen Gestalten aus der Vergangenheit, die früher einmal lebendige Vorbilder waren. Unsere bisherige Vergangenheitsbewältigung hat wenig bewirkt, weil ihr diese lebensfördernde Dimension fehlt. Sie hat nur wenige Vorbilder in der Gegenwart vor Augen gestellt, aber alle Vorbilder aus der Vergangenheit entsorgt. Stattdessen haben wir uns in die fortwährende Beschwörung des Bösen verbissen – in den Mörder, der für alle sichtbar im Empfangsraum hängt. Nicht die Bewältigung der Vergangenheit haben wir auf diese Weise erreicht, sondern ihre Abschaffung. Die Quittung bekommen wir jetzt präsentiert. Sie besteht in dem bedrohlichen Erstarken der politischen Extreme des rechten wie linken Flügels. Da haben wir nun erst recht keinen Grund mehr zur Freude, aber vielleicht einen Grund, erneut nach der eigenen Geschichte und unserer wirklichen Identität zu suchen.
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Kommentar von Karl-Markus Gauß:
Lieber Herr Jenner,
ich habe Ihre Anmerkungen zum Fest der Freude, wie alle Ihre Texte, mit Interesse und Gewinn gelesen. Ich kann Ihnen aber nicht völlig zustimmen, und zwar, weil Sie meines Erachtens nach die deutsche und die österreichische Gedenkpolitik mehr oder weniger gleichsetzen und meinen, dass sich in Deutschland und Österreich nach 1945 im Grunde dieselbe Schuldpolitik durchgesetzt hat. Das stimmt für Österreich nicht. Kaum jemand, werde Linke noch Rechte und auch nicht die vielen katholischen und wenigen liberalen Bürger haben Österreich in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Krieg je eine Mitschuld an den nazistischen Greueln gegeben. Nein, in Österreich waren es die Deutschen und nur die Deutschen, die Nazis waren, und wir Österreicher haben höchstens gezwungenermaßen mitgemacht.
Man könnte ein ganzes Buch füllen, mit Aussagen honoriger, sozialpolitisch verdienstvoller Sozialdemokraten, die sich nach 1945 offen oder halb verschleiert gegen „die Juden“ geäußert haben. Der Antisemitismus ist in Österreich weit verbreiteter geblieben als in Deutschland, er äußert sich höchstens verdeckter, aber er ist bis heute in der österreichischen Gesellschaft tief verwurzelt. Wenn Sie sagen, nazistische Verbrechen wurden in Deutschland mit der deutschen Nation selbst kurzgeschlossen, kann ich Ihnen bestätigen, dass wir das auch in Österreich gemacht haben. Auch wir haben die nazistischen Verbrechen mit Deutschland identifiziert. Aber niemals mit der österreichischen Nation.
Das hat sich erst in den letzten dreißig Jahren geändert und ist mittlerweile längst gekippt, im Sinne von: Haben wir uns bis zu Waldheim für die reinsten Unschuldslämmer gehalten, sehen wir nunmehr unseren Stolz darin, immerhin die ärgsten Verbrecher gewesen zu sein. Ich habe daher vielfach publizistisch versucht, meine Grundüberzeugung unter die Leute zu bringen: Dass man nämlich eine demokratische Kultur nicht auf der notwendigen Erinnerung an die Verbrechen alleine gründen kann, sondern dass man an totgeschwiegene, abgebrochene Traditionen demokratischen Aufbegehrens erinnern müsste und z.B. die ja durchaus vorhanden gewesenen Widerstandskämpfer würdigen und zu Gestalten der österreichischen Geschichte machen müsste. Das hat mir nur den Verdacht eingehandelt, es insgeheim auf eine Verklärung Österreichs abgesehen zu haben.
Vielen Dank, alles Gute,
Ihr kmgauß
Eine Anmerkung meinerseits:
Sie haben Recht, aber in Österreich bin ich ein Zuagereister, ein geistiger Gastarbeiter sozusagen, der seine neue Heimat – das Land und seine Leute – mag. Deshalb sage ich als Deutscher auch nur in einem einzigen Satz (Wir brauchen uns deswegen nicht zu belügen, wie es die Österreicher so lange taten…), was Sie als Österreicher in vielen Sätzen sagen dürfen. Von der Elbe im Norden kommend, habe ich inzwischen den steirischen Wald in meinen Lungen – und übe Zurückhaltung.