Philosophie des ganz gewöhnlichen Schwachsinns

Eine kleine Geschichte der liebenswürdigen, der lebensfördernden, der törichten, der idiotischen und der brandgefährlichen Geistesverwirrung in Bezug auf die eigene Person im Besonderen und die menschliche Spezies im Allgemeinen

Jeder Vortragende weiß, wie ein böswilliger Hörer aus dem Publikum mit einem einzigen Satz allen zuvor erzielten Eindruck zu Schanden machen, ihn sogar völlig vernichten kann. Zum Beispiel, indem er ihm mit drohendem Unterton folgende Frage stellt.
„Nun definieren Sie mal bitte, was Sie mit Schwachsinn meinen.“

Hilflos wird der Betroffene dann dazu übergehen, allerlei Synonyme für „schwach“ zu finden, wie etwa kraftlos, unsinnig, absurd usw. Aber er gerät sogleich in Verwirrung, wenn er sich um den Sinn bemüht, der da so schwach sein soll, denn den Sinn, den haben bekanntlich schon Jahrhunderte der Anstrengung vergebens aufzuspüren versucht. Mit anderen Worten, ein ungenügend geschulter Redner, lässt sich ins Bockshorn jagen, weil er vergessen hat oder vielleicht nicht einmal weiß, dass jede Definition wiederum Begriffe benutzt, die ihrerseits definiert werden müssten. Er würde sich, anders gesagt, auf ein endloses Unterfangen einlassen, während der Fragende sich längst mit hämischem Lächeln niedersetzte und sich gar nicht so heimlich ins Fäustchen lacht.

Warten Sie doch einmal ab!, hätte der überrumpelte Redner dem böswilligen Störer stattdessen antworten sollen, wie ich den Begriff in meinem Vortrag verwende, dann werden Sie schon sehen, was damit gemeint ist.

An diesen Rat werde ich mich auf den folgenden Seiten jedenfalls halten. Ich stelle den Begriff „Schwachsinn“ einfach einmal ganz undefiniert in den Raum und gehe schlicht davon aus, dass jeder Leser – sofern er nicht selbst von dieser Krankheit befallen ist – eine hinreichend klare Vorstellung davon besitzt.

Viel einfacher ist es natürlich, sich gleich zu Beginn eine hinreichend deutliche Vorstellung von seinem Gegenteil zu machen, bezeichnen wir es mit gebührender Ehrerbietung einfach als Voll- oder Starksinn. Jeder weiß ja, dass die vollsinnigsten Exemplare des Homo Sapiens alljährlich von der Schwedischen Akademie mit den größten Auszeichnungen gewürdigt werden. Menschen im Besitz der Vollsinnigkeit sind sozusagen die Musterexemplare unserer Gattung. Sie werden deshalb auch vor der ganzen Weltöffentlichkeit zelebriert und von einem leibhaftigen König geehrt.

Wir alle, Du, lieber Leser, genauso wie ich, sollen und wollen uns ein Beispiel an ihnen nehmen. Aber natürlich brauche ich nur auf diese wenigen Vollsinnigen hinzuweisen, um Dir klar zu machen, dass ich selbst auf keinen Fall, Du aber mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls nicht zu dieser geringfügigen Zahl der Begnadeten gehörst. Die meisten Menschen – man darf geradezu sagen, beinahe alle – gehören eher dem Lager der nicht ganz Vollsinnigen an, dem Lager jener, deren Hirn nur unzureichend das volle Potential der evolutionären Möglichkeiten ausschöpfen konnte.

Was müssen wir daraus schließen? Ich meine, dass es darauf nur eine halbwegs vernünftige Antwort gibt. Wer sich ein realistisches Bild vom Menschen machen will, so wie dieser nun einmal tatsächlich ist, der sollte sich eben doch nicht den wenigen Zelebritäten zuwenden, die uns das Nobelkomitee präsentiert, sondern sich an den Durchschnitt der nicht ganz Vollsinnigen halten, also an Menschen wie Du und ich. Dann darf er zumindest sicher sein, weit mehr über unsere Gattung zu wissen, als er aus dem Studium jener erfahren würde, die auch in diesem Jahr nicht mehr als ein kümmerliches Dutzend unter sieben Milliarden bilden.

In diesem Sinne möchte ich gleich zu Beginn mit aller Deutlichkeit festhalten: Nicht die wenigen Vollsinnigen sind repräsentativ für unsere Gattung, sondern der Schwachsinn.

Und eine zweite Warnung sei der ersten gleich noch hinzugefügt. Das Studium menschlicher Unzulänglichkeit birgt fast zwangsläufig die Versuchung, dass wir beide uns darin einig wären, diese ausschließlich bei unseren Nachbarn und Mitgeschöpfen zu suchen. Wo immer man sich befindet – an einem Stammtisch, in einer politischen Versammlung, ja selbst beim Schwatz auf der Straße, braucht jemand nur damit zu beginnen, über einen Herrn X oder eine Frau Ypsilon zu lästern, und schon spitzen sich Ohren und Mäuler und man merkt das Behagen, mit dem nun alle eine gemeinsame Front gegen die wehrlosen Abwesenden machen. Es ist so schön, es bereitet ein so gewaltiges Vergnügen, sich ein Gefühl der Überlegenheit zu verschaffen, indem man die Fehler bei den anderen sucht, ja, möglichst den Schwachsinn der anderen, denn dann tröstet man sich hemmungslos über den eigenen hinweg.

Allein die Tatsache, dass ich einen anderen Menschen in den Gerichtssaal meines Gehirns zitiere, verschafft ja große Befriedigung. Solange wir ihm in Person gegenüberstehen, fühlen wir uns doch etwas gehemmt. Wir haben mit harten Gegenworten, vielleicht sogar mit harten Schlägen zu rechnen, sollten wir unsere Meinung gar zu offen bekunden. Sobald wir andere Menschen hingegen in absentia aburteilen, sind sie uns hilflos ausgeliefert. Es steht uns frei, jedes beliebige Urteil über sie zu fällen, ohne dass sie die geringste Gegenwehr leisten.

Seien wir ehrlich, lieber Leser, einer solchen Versuchung ist schwer zu widerstehen, schließlich sind wir beide nur Menschen und daher für den Schwachsinn anfällig, also für das zentrale Thema dieses Buches. Umso wichtiger ist es, dass wir uns gehörig zusammenreißen! Würden wir uns nämlich wirklich dazu verleiten lassen, über wehrlose andere auf diese Art herzufallen und womöglich ein schreckliches Gemetzel unter ihnen anzurichten, dann hätten wir uns ganz wie die vielen Schwachsinnigen aufgeführt, die seit Beginn menschlicher Geschichte dem Homo Sapiens nichts als Schande machen. Denn eines der größten Laster der Menschheit, um nicht vom größten überhaupt zu reden, liegt ja genau in dieser Anmaßung, die jedem von uns in die Wiege gelegt worden ist. Wenn jemand einen Toten oder Abwesenden vor das Tribunal seiner Rechtsprechung zitiert, dann behält er grundsätzlich die Oberhand und das letzte abschließende Wort. Und weil das so ist, bildet er sich natürlich ein, dass doch wohl er selbst der Klügere, der Bessere, der Höherstehende sei! Man schaue sich nur in den Kneipen um, wie da Meier und Müller die ganze Prominenz vor ihr jüngstes und dümmstes Gericht bestellen, um sie, sobald der Alkohol ihre Zunge löst, mit grölendem Selbstbehagen in die tiefste Hölle zu verdammen. Niemand ist so gering und so kümmerlich, dass er sich nicht imstande wähnte, mit dem Brustton der tiefsten Überzeugung selbst über die ganz Großen der Welt sein erbärmlich kleines Urteil zu verkünden.

Also, diese Warnung schicke ich mir selbst und auch Dir, lieber Leser, gleich zu Anfang mit auf unseren gemeinsamen Weg. Wir sind nicht etwa schon deshalb klüger, weil wir über die anderen – die Toten und die wehrlosen Abwesenden – unser besserwisserisches und angeblich letztes Urteil fällen. Wir haben sogar mit der gar nicht so theoretischen Möglichkeit zu rechnen, dass unser Bericht über den Schwachsinn am Ende uns selbst als die eigentlich davon Betroffenen entlarvt – womit wir dann am Ende nur Spott und Gelächter auf uns selber ziehen. Denn jeder weiß ja, warum er ein Buch zur Hand nimmt: Er hofft von ihm Auskunft über einen bestimmten Gegenstand zu gewinnen – sagen wir über den Buchsbaumzünsler, eine Reise auf die Rückseite des Mondes oder die Heilung von Kröpfen. Ein erwartungsvoller Leser geht doch stets davon aus, dass der Autor wenigstens ein bisschen mehr als er selbst über das betreffende Thema weiß, also zumindest auf diesem Gebiet ihm an Sachkunde und Klugheit etwas voraus sei. Denn angenommen, der Leser besäße ein gleich großes oder größeres Wissen, dann würde er doch bestimmt nicht daran denken, sich mit einem solchen Buch zu befassen!

Also hat auch der Autor dieses Buches über den Schwachsinn mit Lesern zu rechnen, die davon überzeugt sind, dass er sozusagen zu den Vollsinnigen gehört, die mit hinreichender Sachkunde und Autorität über die geistigen Gebrechen ihrer Mitmenschen richten.

Nein, das eben gerade nicht! Genau das wäre die Falle und der größte Irrtum, zu dem uns das Thema verleiten könnte. Wir würden ein so hohes Piedestal erklimmen, dass uns nach kurzer Zeit der Schwindel erfassen müsste und wir mit einem Aufschrei des Entsetzens vom selbstgefertigten Sockel in die Tiefe stürzen. Denn einem solchen Anspruch ist natürlich kein menschliches Hirn gewachsen, nicht einmal die hochentwickelten Denkapparate der amtlich ausgewiesenen Vollsinnigen, welche die schwedische Akademie alljährlich auf ihren Thron erhebt.

Nein, diesen Weg dürfen wir nicht beschreiten, sondern müssen uns einer weit bescheideneren, aber zugleich auch viel schwierigeren Aufgabe widmen, in der niemand unsere Kompetenz anzweifeln wird: nämlich der Erforschung des eigenen Schwachsinns, wo wir nun wirklich auf Autorität pochen dürfen. Diesem weiten und, wie sich zeigen wird, unübersehbaren Feld soll unser eigentliches Augenmerk gelten. Nur indirekt, weil wir doch alle Menschen sind und damit der gleichen Gattung zugehören, werden wir dann gleichsam beiläufig und jederzeit um Abbitte bemüht auch den Rest der Menschheit mit einbeziehen.

Anders gesagt, geht der Autor dieses Buches davon aus, dass jeder – er selbst, aber auch Du der vielleicht gar nicht mehr so sehr geneigte Leser – eine unversiegliche Quelle des Schwachsinns ist und dass keine Philosophie auch nur ihren Namen verdient, wenn sie nicht dieser menschlichen Haupteigenart den ihr gebührenden Platz zuweist. Der liebe Gott, die Natur, die Evolution oder wie immer wir es nennen wollen, hat jeden von uns vielleicht auch noch mit einem kleinen Quäntchen an Vollsinn ausgestattet – wie wären wir andernfalls in der Lage, über sein Gegenteil auch nur zu reden -, aber in verschwenderischer Großzügigkeit wurden wir vor allem mit jeder Menge an Schwachsinn beschenkt. Nur weil jeder von uns sein ganzes Leben lang sozusagen auf beiden Hochzeiten tanzt, abwechselnd, aber oft auch gleichzeitig auf der des Schwach- wie der des Vollsinns, dürfen wir uns das Recht anmaßen, über beides mit einiger Kompetenz zu reden.

Vielleicht würde uns aber selbst solche Bescheidenheit in den Augen der strengsten Kritiker nicht sonderlich nützen, würden wir nicht von vornherein ein weiteres Zugeständnis machen. Kein Schwachsinn ist, so sei gleich zu Anfang festgestellt, dem anderen völlig gleich. Es gibt den brandgefährlichen Schwachsinn, der die heutige Menschheit nicht nur an den Rand des Abgrunds zu führen, sondern sie vollends darin hineinzustürzen droht. Davon wird ausgiebig die Rede sein, denn es geht hier ja nicht darum, intellektuelles Süßholz auf philosophische Art zu raspeln, sondern die Augen auch der Unbedarften – ja sogar der Schwachsinnigen – für die apokalyptischen Gefahren zu öffnen, mit denen uns gerade die heutige Zeit in einem nie dagewesenen Ausmaße konfrontiert. Doch für solche elementaren Bedrohungen die Augen zu öffnen, ist vielleicht nicht so sonderlich schwer. Dafür brauchen wir wahrlich keine Philosophen zu sein. Weit mehr geistige Anstrengung wird uns dagegen abgefordert, wenn wir auch die Kehrseite sehen wollen. Denn ja, es gibt ihn, obwohl du, mein bis zu dieser Zeile immer noch treuer Leser, ihn vielleicht noch gar nicht entdeckt hast. Es gibt den liebenswürdigen Schwachsinn – und er ist sogar so universell verbreitet, dass man in ihm vielleicht die Urform allen Schwachsinns erblicken sollte. Lass uns also mit dem liebenswürdigen Schwachsinn beginnen!

Fortsetzung folgt