„Freiheit, die wir meinen“

Der harte Widerspruch, der die Politik des 21. Jahrhunderts beherrschen wird – und der in der Tat jetzt schon kennzeichnend für sie ist – liegt in der Gegenläufigkeit zweier gleich notwendiger, gleich unverzichtbarer Tendenzen. Auf der einen Seite verlangt die Globalisierung der Chancen und Risiken von sämtlichen Staaten, auf einen Teil ihrer Souveränität zu verzichten. Die drohenden Gefahren von Klimawandel, Ressourcenverschleiß und nuklearer Bedrohung sind nur noch durch eine Weltregierung zu bannen, welche dem Wettlauf der Menschheit gegen sich selbst ein Ende setzt. Solange in einer multipolaren Welt jeder Staat einen Vorteil darin erblickt, dem Gemeinwohl aller anderen zu schaden, weil er aus solchem Verhalten für sich selbst einen deutlichen Nutzen zieht, wird die Menschheit dem Abgrund mit jedem Jahr etwas näher rücken. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die ärmsten unter den gegenwärtig etwa zweihundert Staaten über genug Atomwaffen verfügen, um große Teile der Erde für unsere Art unbewohnbar zu machen. Erst wenn alle Staaten – freiwillig oder gezwungen – auf den Besitz von Atomwaffen verzichten, so wie heute schon die Bürger der meisten Staaten auf den Besitz von Pistolen und Gewehren, anders gesagt, wenn sie sich einer Weltpolizei unterordnen, wird Technik uns nützen statt uns mit der Vernichtung der eigenen Art zu bedrohen.

Jeder Zusammenschluss

von kleinen Einheiten in größeren – von Familien in einer Sippe, von Sippen in einem Stamm, von Stämmen in einer Nation, von Nationen in einer Union wie der Europäischen – zieht zwangsläufig einen Verlust von Eigenbestimmung nach sich: einen Verlust von Freiheit. Die größere Einheit setzt Grundregeln fest, die dann für alle gelten. In der Europäischen Union wird diese Aufgabe vom sogenannten „aquis communautaire“ erfüllt: dem Rechtsbestand an gemeinsamen Regeln. Laut Hans-Magnus Enzensberger ist der europäische Bestand an rechtsverbindlichen Dokumenten inzwischen so angeschwollen, dass er mühelos das Gewicht eines kleinen Nilpferds auf die Waage legt: ein bürokratischer Wasserkopf. Der Vorteil der Einheit ist dennoch offensichtlich: Während jede einzelne unter den Nationen Europas unfähig wäre, sich gegenüber den drei Supermächten USA, Russland und China zu behaupten, ist es einer selbstbewussten und entscheidungsfähigen Union durchaus möglich, ihre Interessen wirksam nach außen durchzusetzen. Denn dies ist der Zweck, dem sie heute dient. Hatte der Zusammenschluss europäischer Staaten zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch den unmittelbaren Sinn, eine Fortsetzung jener zahlreichen Kriege zu verhindern, deren blutige Spur vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reicht, so besteht der neue, heutige Sinn in der Verteidigung europäischer Interessen gegenüber der übrigen Welt.

Die Frage der Freiheit

erhält dadurch zwei unterschiedliche, ja einander entgegengesetzte Interpretationen, die sich auch in der unmittelbaren politischen Realität niederschlagen. Einerseits zweifelt kein politisch klardenkender Kopf heute noch an der Notwendigkeit, dass es von nun an Europas Bestimmung sei, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu einer Einheit zusammenzuwachsen. Anderseits will sich Katalonien von Spanien, wollen die Flamen sich von den Wallonen, die katholischen Nordiren von England trennen, und auch Schottlands Verhältnis zu Großbritannien bleibt weiterhin ungeklärt. Und was das Vereinigte Königreich selbst betrifft, so versucht es hartnäckig, sich wieder von Europa zu lösen. Dieser Gegensatz der Bestrebungen innerhalb der Europäischen Union – der Wille zur Einheit auf der einen Seite, zur Separation auf der anderen – spiegelt den Widerspruch in unserem Verständnis von Freiheit.

Unlösbar ist dieser Widerspruch nicht

Einerseits sollte der Verzicht auf Souveränität immer nur soweit reichen wie unbedingt nötig, um ein bestimmtes politisches Ziel umzusetzen. Eine Weltregierung – sei sie nun offiziell vorhanden oder inoffiziell in Gestalt des UNO-Sicherheitsrats – ist unverzichtbar, wenn wir das wichtigste Ziel überhaupt erreichen wollen, nämlich den Schutz vor nuklearer Selbstvernichtung oder der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Planeten. Andernfalls ist in den kommenden Jahrzehnten damit zu rechnen, dass jeder Zwergstaat den Globus mit atomarer Auslöschung bedroht. Ein politisch geeintes Europa wird schon deswegen notwendig sein, weil der geographisch unbedeutende eurasische Zipfel, auf dem wir leben, andernfalls das gleiche Schicksal erleiden könnte wie der Vordere Orient: zwischen den Supermächten USA und Russland könnte er zum neuen Schlacht- und Ruinenfeld werden.

Man versuche nicht

diese Drohung als irreal zu verdrängen. Seitdem beide Mächte immer mehr Raketenstellungen dies- und jenseits der russischen Grenze errichten, besteht die dringende Gefahr, dass sie ihre Stellvertreterkriege demnächst auf hiesigem Boden ausfechten. Europa kann sich nicht dagegen wehren, zwischen die Fronten der beiden großen Machtblöcke zu geraten, aber es sollte zumindest stark genug sein, um nicht zwischen ihnen zerrieben zu werden. Solche Stärke erfordert allerdings einen Verzicht auf nationale Freiheit zugunsten der Union – einen Verzicht, der nur erträglich erscheint, wenn er auf den Zweck der Selbstbehauptung nach außen beschränkt bleibt, also nicht auf bürokratische Gleichmacherei im Inneren hinausläuft.

Mit genau diesem Vorbehalt

hatte Charles de Gaulle die Einheit Europas als eine solche der Vaterländer (oder sagen wir ruhig: Mutterländer) verstanden. Er wollte nach außen ein starkes Europa, aber keines, das nach innen gewaltsam Uniformierung betreibt und damit Freiheit in einem Maße vernichtet, wie der Zweck des Zusammenschlusses ihn nicht zu rechtfertigen vermag.

Das Europa Brüssels

hat von Anfang an einen anderen Weg beschritten. Ausgerichtet am Modell eines Wirtschaftsbetriebs, wie er eben nicht sein sollte, d.h. eines Betriebes an dessen Garderobe die Menschen ihr eigenbestimmtes Ich abgeben, um dann in genau festgelegten Produktionsprozessen für acht Stunden oder auch mehr bloß noch zu „funktionieren“, hat man auch die Bewohner Europas mit unzähligen Vorschriften behelligt, um die sichtbare äußere Lebensrealität und die unsichtbare ihres Verhaltens in ein Netz von Regeln zu binden – Regeln mit dem Gesamtgewicht einer kleinen Nilpferdherde. Sicher bietet diese von oben erzwungene Vereinheitlichung Vorteile im Sinne eines möglichst berechenbaren und reibungslosen ökonomischen Funktionierens – im einzelnen Wirtschaftsbetrieb ist sie bis zu einem gewissen Grad ja überhaupt unverzichtbar. Zudem beweist das Beispiel Chinas, dass es Regierungen nützt, ein ganzes Volk in das Korsett eines Betriebs einzuzwängen, weil Politik dann umso besser imstande ist, Großprojekte wie Flughäfen, Staudämme oder Autobahnen zu dekretieren und auf der Stelle auch auszuführen – ganz ohne die zeitraubende Konsultation ihrer Bürger. Alle Tätigkeiten werden dann wie in einem Konzern von oben geplant und effizient durchgesetzt, weil der Wille eines einzigen Mannes (wie Xi Jin Ping oder auch Putin) zu diesem Zweck völlig genügt.

Das ist dann allerdings eine Entwicklung

die auf den Termitenstaat zielt, der, wie bekannt, mit größter Effizienz unter Bienen und Ameisen funktioniert – unter Menschen aber wohl nur so lange wie der dadurch bewirkte Wohlstands- und Machtgewinn den Verlust an elementarer Freiheit vergessen macht. In China wird das wahrscheinlich noch für die nächsten Jahre gelten, aber keinesfalls gilt es für das heutige Europa. Hier verlangt die Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen gegenüber den Supermächten eben keine durchgehende Reglementierung der Bürger, sondern nur eine gemeinsame Außenpolitik des Handels und der Verteidigung. In diesem Sinne hätte es – von einem europäischen Parlament demokratisch gewählt – von Anfang an einen Präsidenten Europas und einen Handelsminister geben müssen. Das europäische Parlament hätte dann in seinen Kompetenzen nur die Außenbeziehungen zu regeln, während die nationalen Parlamente die Verfügung über sämtliche nationale Angelegenheiten behalten. Im Sinne einer lebendigen Demokratie, welche den Bürgern ein Maximum an Entscheidungen überlässt, sollten die inneren Belange jedes einzelnen Mitgliedsstaates auf nationaler, regionaler und schließlich auf der Ebene der Gemeinden vor Ort geregelt werden. Der Gegensatz zu einem Termitenstaat liegt grundsätzlich darin, dass alles, was lokal bestimmt werden kann, auch lokal bestimmt werden soll.

Die tatsächliche Entwicklung Europas

ist, wie gesagt, diesem Modell durchaus nicht gefolgt. So wurden etwa in Deutschland zunächst den Parlamenten der einzelnen Bundesländer immer mehr Kompetenzen entzogen, sodass sie heute weitgehend zu „Quatschbuden“ für gutbezahlte Rentiers verkommen sind, danach griff dieser Prozess auch auf die nationalen Parlamente über. Man muss die von Altbundespräsident Roman Herzog genannte Zahl von 80% aller Gesetzen, die nicht mehr im deutschen Parlament gemacht, sondern von Brüssel übernommen werden, nicht wörtlich nehmen, um sich eine Vorstellung von der gar nicht mehr schleichend verlaufenden Zentralisierung der Union zu machen. Nicht ein Europa der Vater- (oder auch Mutter-)länder wurde auf diese Weise geschaffen, sondern die Entwicklung orientiert sich eindeutig am Modell eines Wirtschaftskonzerns, so als könnten auch auf staatlicher Ebene Menschen dauerhaft unter Bedingungen leben, denen man eine verdächtige Ähnlichkeit zum Staat der Termiten bescheinigen muss.

Die dadurch bewirkte Entmündigung

der Staatsbürger auf lokaler Ebene kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Sie erklärt, warum ein Vereintes Europa – ein nicht nur weltpolitisch notwendiges, sondern bei richtiger Durchführung auch für die Bürger segensreiches Projekt – in großen Teilen der Bevölkerung (anders als bei den Eliten) auf so verbreiteten Widerstand stieß und bis heute immer noch stößt. Denn dieses neoliberale, ausschließlich an ökonomischer Effizienz orientierte Europa hat in zunehmendem Maße Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung ersetzt: in eine Fernverwaltung durch die Brüsseler Zentrale.  Das und nicht die Einheit an sich, ist der Schatten, der sich über der Union ausbreitet.

Der einzelne Mensch fühlt sich nur dann geborgen

wenn er sich dort, wo er zusammen mit seinen Nachbarn lebt – einer Gemeinde, einem Stadtviertel, einer Region –  eine eigene Identität zu erschaffen vermag, an der er durch Mitwirkung beteiligt ist und die nicht beliebig von oben in Frage gestellt oder aufgelöst werden kann. Freiheit ist nichts anderes als menschliche Selbstgestaltung, die auch heute, im Zeitalter des Internets, durch einen raumüberschreitenden elektronischen Verkehr nur ergänzt, aber gewiss nicht ersetzt werden kann. Der Mensch wird heimat- und wurzellos, wenn man ihn dieser Verankerung beraubt: der Partnerschaft (Familie), der Gemeinde, dem Stadtviertel. Dann fühlt er sich so behandelt als wäre er nicht mehr als das Versatzstück einer Maschine, das man nach Belieben verpflanzen und durch andere ersetzen kann. Die Verödung ganzer Landschaftsteile im Osten Deutschlands zeigt diesen Trend in krasser Deutlichkeit. Dort empfinden Menschen nur noch Scham über die eigene Ohnmacht, weil sie das elementare Bedürfnis nach Selbstgestaltung nicht mehr auszuleben vermögen: Dörfer und Kleinstädte zerfallen ebenso wie die Psyche der darin lebenden Bewohner.

Die gleiche Entwicklung

findet in Städten statt, wenn Menschen sich in anonymen Schlafkasernen eingesperrt fühlen – ein Gegenstück zur Massentierhaltung, da unter solchen Bedingungen weder Heimat noch gestaltende Mitwirkung entsteht. Je mehr die Freiheit der Selbstgestaltung und Selbstbestimmung vor Ort auf diese Art ausgehöhlt wird – der Urnengang alle vier oder fünf Jahre hat ja mit dem praktischen Leben kaum noch etwas zu tun -, umso stärker macht sich der Widerstand geltend, der sich dann in Aufruhr zu entzünden droht: Demonstrationen in den verschiedensten Teilen Europas verwandeln sich in Orgien der Gewalt. In ohrenbetäubender Stärke dröhnen uns die Hassposaunen aus dem Internet entgegen. Und öffentliche Ämter und Krankenhäuser sehen sich in Deutschland und anderen Teilen Europas mit zunehmender Gewaltbereitschaft der Bürger konfrontiert. Auch Gewalt ist ja ein Ausdruck individueller Selbstbestimmung. Nehmt den Menschen die legale Möglichkeit, diese auszuüben, dann greifen sie zu ungesetzlichen Mitteln.

Freiheit als Selbstbestimmung

darf sich nicht auf die Familie oder Partnerschaften beschränken, sie muss lokal überall auf den kleinsten Ebenen menschlicher Gemeinschaft wirksam sein, wenn sich in den Köpfen nicht das Bedürfnis nach Umsturz und Zerstörung ausbreiten soll. Der Imperativ, der hier gelten soll, ist die eigentliche Grundlage jeder lebendigen Demokratie: Lasst die Bürger vor Ort entscheiden, was sie dort mit Kompetenz besser als jede Zentrale zu regeln vermögen. Natürlich kann das nur bedeuten, dass Brüssel und die Großen unter den Staaten Europas den übrigen Mitgliedern nicht deren Innenpolitik vorschreiben. Hier muss Europa freiwillig dadurch zusammenwachsen, dass das bessere Vorbild die anderen überzeugt. Zwang, um den Vereinigungsprozess gewaltsam voranzutreiben, wird nur Widerstand und noch stärkere Tendenzen der Abspaltung bewirken.

Die Europäische Union darf keine Zentrale sein

die das Blut aus den Mitgliedsstaaten, den Landes- und Nationalparlamenten saugt, um alles von oben zu verordnen, so als hätte man es nicht mit historisch zu so erstaunlicher Vielfalt gewachsenen Staaten und Regionen zu tun, sondern mit einem einzigen großen Konzern, in dem alle für das jeweils nächste Business-Quartal gleich zu denken und gleich zu handeln haben. Für den richtigen Umgang mit den Mitgliedsstaaten gibt es doch ein allen bekanntes Beispiel. Bis heute kann die Schweiz als Vorbild für die Einheit nach außen und die Freiheit (Vielfalt) nach innen dienen, denn dort gelingt dieses Wunder schon seit zweihundert Jahren. Aber es stimmt schon: das Abwägen zwischen lokalen und zentralen Kompetenzen wird dadurch erschwert, dass gemeinsame Verteidigungskräfte, gemeinsame Industrienormen und ein gemeinsames Bankensystem ein gewisses Maß an übernationaler Einheitlichkeit erzwingen; nur sollte die Zentrale über das unerlässliche Maß hinaus keine Kompetenzen besitzen, womit sie die Freiheit vor Ort erstickt. Wenn der Europäische Gerichtshof die Einheit auch auf dem Gebiet der Moral sowie der unterschiedlichen Sitten und Traditionen durchsetzen will, so muss man sich fragen, ob er damit Europa wirklich einen Gefallen erweist oder nicht eher den Widerstand der Bürger gegen die Union mobilisiert.

Größtmögliche Freiheit im lokalen Bereich

bei gleichzeitigem Verzicht auf Souveränität in globalen Belangen – diese beiden in meinen Augen gleich unabweisbaren Forderungen zeigen den Gegensatz auf, dem sich unsere Zeit stellen, den sie bewältigen muss. Das 21. Jahrhundert braucht ja in Wahrheit noch eine viel größere Einheit als die der Europäischen Union; sie braucht noch in diesem Jahrhundert eine wirkliche Weltregierung (nicht nur die inoffizielle, schlecht funktionierende Vorstufe des UN-Weltsicherheitsrats), wenn sie die tödlichen Gefahren überstehen will, die sie auf andere Weise nicht überwinden kann. Zur gleichen Zeit aber wird sie sich vor nichts so sehr hüten müssen wie vor der Sklerose in einem Termitenstaat, wo der Mensch noch nur Masse, nur noch funktionierendes Teilchen ist. „Der Atombombe als dem Problem der Menschheit schlechthin ist nur ein einziges Problem gleichwertig: die Gefahr der totalitären Herrschaft… mit ihrer alle Freiheit und Menschenwürde vertilgenden terroristischen Struktur. Dort ist das Dasein, hier das lebenswerte Dasein verloren“, meinte Karl Jaspers, der in diesem Punkt wiederholt, was Immanuel Kant schon als seelenlosen Despotismus verworfen hatte. Damit ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen, auf prägnante Weise benannt, nur dass Kant und nicht einmal Jaspers wissen konnten, dass sich inzwischen zwei weitere apokalyptische Übel an die Seite des Vernichtungskrieges gesellen: der Klimawandel und die Erschöpfung der Ressourcen.