Die Lunte zischt. Sie wird nicht wieder verlöschen, selbst wenn die Welt den Krieg in der Ukraine und die Bedrohung Taiwans übersteht

Nancy Pelosi hätte Taiwan nicht besuchen müssen. Sie hat den amerikanischen Präsidenten damit in eine schwierige Lage gebracht. Einen militärischen Überfall auf die Insel würden die USA nicht dulden, so die explizite Drohung Joe Bidens. Jetzt aber hat China den ersten Schritt zu einem solchen Überfall vollzogen, indem es die Insel mit einem militärischen Manöver einkesselte. Das ist nur der Beginn von Übungen, die in Zukunft immer öfter rings um Taiwan stattfinden sollen. Wird Biden die Insel mit Flugzeugträgern schützen und einen Kriegsausbruch riskieren, oder hat er nur falsche Versprechungen gemacht, wie die chinesische Propanda den Taiwanesen täglich verkündet?

1972 hatten Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger Mao Zedong vertraglich zugesichert, dass es für die USA nur ein China und nur eine einzige rechtmäßige Regierung gebe: die kommunistische des Festlands (so jedenfalls wurde die Vereinbarung von der Volksrepublik verstanden). Damit übernahmen die Vereinigten Staaten die Definition Taiwans als „abtrünnige Provinz“. Diese Kehrtwende der amerikanischen Politik entsprang nicht etwa einer plötzlich aufkommenden Liebe zum damals noch erzkommunistischen China sondern geostrategischem Kalkül. China sollte von dem damals gefährlichsten Gegner der freien Welt, der Sowjetunion, abgespalten werden, dann wäre es möglich, den Vietnamkrieg schneller zu beenden. Dieses Kalkül, dem das demokratische Taiwan leichtfertig geopfert wurde, schien zunächst aufzugehen – allerdings nur für kurze Zeit, wie sich bald zeigte. Es dauerte nicht lange, da schlossen sich die beiden Beta-Mächte China und Russland erneut gegen die USA zusammen, den damals noch allmächtigen Alpha-Regenten.

Immerhin hatten die USA darauf bestanden, dass die Vereinigung Taiwans mit der Volksrepublik nur auf friedliche Weise erfolgen dürfe. Anders gesagt, dürfe es nur dann zu einer Wiedervereinigung beider China kommen, wenn eine Mehrheit der Taiwanesen bereit sei, demokratisch für einen Anschluss zu stimmen. Vom kommunistischen China wird diese Bedingung bis heute beharrlich ausgeklammert, auch wenn von der entsprechenden Resolution der UNO die Rede ist. Das Verhalten der USA wird fälschlich als Wortbruch hingestellt.

Angesichts der zunehmenden militärischen Bedrohung Taiwans durch Festlandchina könnten die USA, Taiwan und die UNO auf einer demokratischen Abstimmung über Taiwans Zukunft bestehen; es steht aber von vornherein fest, dass Xi Jinping davon auf keinen Fall etwas wissen will. Die Tibeter wurden vor der Einverleibung ihres Landes in China ebenso wenig um ihre Meinung gefragt wie die muslimischen Uiguren in Xinjiang. Wie bekannt, wurde die Expansion Chinas ins südchinesische Meer gegen den Spruch aus Den Haag durchgepeitscht, der deren Rechtmäßigkeit in Frage stellte. Die De-facto-Einverleibung Hongkongs fand im vergangenen Jahr unter Missachtung des mit Großbritannien geschlossenen Vertrages und gegen den Willen einer Mehrheit der dort lebenden Menschen statt. China braucht keine Abstimmungen sondern Gewalt. Es verletzt das Recht immer dann, wenn es glaubt, einen solchen Schritt ungestraft vollziehen zu können.

Anders gesagt, verhält sich die Volksrepublik genauso wie jeder expandierende Staat, der sich auf eine starke Wirtschaft und ein starkes Militär stützen kann. Solche Expansion wird zwar in der Regel ideologisch gerechtfertigt (meist durch die Feindschaft zu irgendwelchen ausbeuterischen Mächten). In Wahrheit hat sie aber mit Ideologie gar nichts, dagegen mit Stärke alles zu tun. Überragende Stärke hat vor mehr als zweitausend Jahre das kleine Qin über seine Nachbarn siegen lassen und damit den Grundstein für das heutige China gelegt. Militärische Stärke begünstigt durch technologischen Vorsprung sorgte dafür, dass Europa die neue Welt eroberte, und nicht etwa umgekehrt die Indios in Madrid, Paris und London heimisch wurden (hierzu Jarez Diamond: Guns, Germs and Steel). Ein überwältigender technologischer Vorsprung, umgemünzt in militärische Gewalt, machte ein bis dahin unbedeutendes Eiland, das winzige England, zum Herrscher über zwei Drittel der Welt. Die Sowjetunion brachte zwischen 1917 und 1991 die flächenmäßig größte Landmasse der Erde unter ihre Kontrolle – durch Gewalt. Aber der eigentliche Weltregent des 20. Jahrhunderts waren die USA. Überall auf dem Globus waren – und sind – ihre Militärbasen zu finden. Die Vereinigten Staaten haben fast alle Techniken entwickelt oder zur praktischen Anwendung gebracht, welche die heutige Weltwirtschaft prägen: Digitalisierung, Weltraumtechnologie, Nutzung der Atomenergie, Informatik, Biogenetik. Das verlieh ihnen ihre Stärke als unangefochtete Supermacht während beinahe eines ganzen Jahrhunderts.

Das Reich der Mitte war bis ins 17. Jahrhundert der reichste und mächtigste Staat der Erde. Seit etwa einem Jahrzehnt ist er im Begriff, es neuerlich zu werden. Aber alles was dort an technischem Know-How heute zu finden ist, hat es während der vergangenen dreißig Jahre in einem historisch einmaligen Aufholprozess vom Westen übernommen. Was für ein Gegensatz! Während seit zwanzig Jahren im Hauptquartier des Westens, den USA, die Infrastruktur aus Autobahnen und Brücken, Eisen- und U-Bahnen sichtbar verkommt; während sich in den amerikanischen Städten die Slums ausbreiten und die ethnischen Gruppen einander immer verbissener bekämpfen, verbreitet das moderne China den Glamour und Glanz eines technologischen Wunderkinds. Alles scheint dort neu und auf dem letzten Stand zu sein: die Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Peking Tibet und Xinjiang, die Messepaläste im ganzen Land, die digitale Infrastruktur 5G, die neuen Flughäfen und Fabriken, die das Land inzwischen wie in einem Rausch der Modernisierung in Serie produziert.*1*

China – ein Entwicklungsland noch bis vor dreißig Jahren – ist inzwischen so mächtig, dass die USA – noch zu Beginn dieses Jahrhunderts der unbestrittene Weltmachtprimus – jetzt fürchten müssen, in einem konventionell geführten Krieg um Taiwan der Großmacht China nicht länger gewachsen zu sein. Festlandchina hat inzwischen so stark aufgerüstet, dass ein Schlagabtausch mit den USA diese wenigstens ebenso stark ausbluten würde wie das feindliche China selbst. Aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zum umkämpften Taiwan befindet sich dieses noch dazu in einer weit besseren Situation.

Andererseits ist es kaum vorstellbar, dass die USA – immer noch die größte Atommacht der Welt – im Kriegsfall eine Niederlage hinnehmen würden, ohne ihren letzten und eigentlichen Trumpf auszuspielen: ihre erdrückende nukleare Übermacht. Es scheint unmenschlich zu sein, solche Fantasien kollektiven Mordens auch nur in Gedanken durchzuspielen, geschweige denn, sie kaltblütig zu erörtern. Aber genau das geschieht permanent in den Planungsstäben aller drei Großmächte (und selbst noch in denen ihrer kleineren Imitatoren). Für die USA laufen solche Überlegungen darauf hinaus, dass sie einen Schlagabtausch mit China heute gerade noch riskieren könnten, solange sie ausschließlich dieses Land zum Gegner haben. China ist für sie noch keine ernstzunehmende Nuklearmacht. Im Falle eines Kriegsausbruchs, bei dem die Rivalen bis zuletzt hoffen, dass er niederschwellig verläuft, also allenfalls unter Einsatz von „taktischen“ Nuklearwaffen, bräuchten die USA keine Angst zu haben, dass sie von der Landkarte verschwinden, China aber müsste das sehr wohl befürchten (jedenfalls würden Chinas gegenwärtige Machthaber wohl kaum mehr so unsäglich dumm und brutal wie noch Mao 1957 bramarbasieren, dass ein Atomkrieg für China keine übermäßig gefährliche Katastrophe sei. „Vielleicht würde die Hälfte der Chinesen einen nuklearen Holocaust nicht überleben, aber dann wären ja immer noch 300 Millionen übrig.“ *2*

Das Problem für die USA ist Russland, das sich, wie schon gesagt, durch Henry Kissinger nur zeitweise von China abspalten ließ, aber inzwischen in unverbrüchlicher, wenn auch inoffizieller Allianz fest zum chinesischen Nachbarn hält. Von diesem Bündnispartner unterscheidet sich Russland fundamental. Während die Volksrepublik seit dreißig Jahren nur immer größer und stärker wurde, da sie zugleich mit der westlichen Technologie auch das westliche Prinzip der freien Entfaltung der ökonomischen Kräfte übernahm, und zwar unter der Vorherrschaft eines Staates, der darüber wacht, dass es zu keiner übermäßigen Ballung ökonomischer Macht in privaten Händen kommt (das einzige, aber ein sehr wichtiges Zugeständnis an die kommunistische Ideologie), ist die russische Föderation ein Staat im Niedergang, der ohne die Ausbeutung seiner gewaltigen natürlichen Ressourcen (vor allem Kohle, Erdöl und Gas) längst pleite wäre und seinen neuen Zar und Diktator Wladimir Putin wohl auch längst davongejagt hätte. Aber so wie man aus einer Wüste, wo zuvor nur Kamele und bitterarme Beduinen streiften, in wenigen Jahrzehnten ökonomisch florierende Staaten wie Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate aus dem Boden zaubert – vorausgesetzt, dass man unter dem Sand eine Menge Öl entdeckt -, so haben ihre gewaltigen fossilen Ressourcen der russischen Föderation einen nicht weniger großen Geldstrom vor allem aus Europa beschert. Nur so konnte es geschehen, dass es der russischen Bevölkerung zumindest in der ersten Dekade der Putinherrschaft trotz grassierender Korruption merklich besser ging. Der Niedergang kam erst danach, als Putin sich darauf besann, immer größere Mittel in die Rüstung zu stecken, und zwar mit dem offen proklamierten Ziel, „die größte Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts, den Zerfall der Sowjetunion“ durch eine neuerliche Expansionspolitik wieder rückgängig zu machen.

Die Parallele zwischen Taiwan und der Ukraine ist offenkundig. Die kleine Insel vor dem Festland hieß einmal Formosa, die Prächtige. Heute ist sie für die Volksrepublik ein prachtvolles Beutestück, da sie über einen Schatz von einzigartigem Wert verfügt. Taiwan (genauer gesagt, TSMC in Hsinchu) versorgt die Welt mit den kleinsten und besten Chips und hat mit 55 Prozent den größten Marktanteil von allen konkurrierenden Konzernen. Die USA unternehmen derzeit alles, um die Volksrepublik, welche in diesem Sektor zurzeit noch abhängig von westlichen Lieferungen ist, daran zu hindern, auch auf diesem Gebiet die Führung zu übernehmen. Zu diesem Zweck versuchen sie, die Chipproduktion in Taiwan und Südkorea ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um den Vorsprung des Westens gegenüber der Volksrepublik wenigstens auf diesem Gebiet zu bewahren. Durch einen gelungenen Überfall auf Taiwan würde Festlandchina – wie die USA zu Recht befürchten – in den Besitz der fortgeschrittensten Produktionsstätte für Chips gelangen und könnte dann auch Russland damit versorgen.

Auch der Überfall Russlands auf die Ukraine folgt ökonomischer Logik. Zbigniew Brzeziński, Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, hatte in seinem einflussreichen Buch „Das große Schachspiel“ die These aufgestellt, dass Russland ohne die Ukraine seinen Rang als Imperium einbüßen würde. Damit hatte er zweifellos recht. Obwohl wirtschaftlich in den meisten Bereichen – außer dem militärischen – unterentwickelt, ist Russland eine ökonomische Weltmacht aufgrund seiner fossilen Quellen sowie als Exporteur von Getreide. Wenn es Putin gelingt, die Ukraine zu unterwerfen, rückt es auf diesem Gebiet zu einem Monopolisten auf, der über Elend oder Auskommen von Milliarden und über Sein oder Nichtsein von Millionen Menschen bestimmt.

Von diesen tieferen Ursachen für das aggressive Verhalten Chinas und Russlands ist in offiziellen Verlautbarungen keine Rede. Stattdessen hört man in chinesischen Medien, dass die Taiwanesischen Brüder nur durch die Amerikaner und eine westlich beeinflusste Regierung daran gehindert werden, sich friedlich mit der Volksrepublik zu vereinen. Dass die Taiwanesen sich rühmen können, eine der gegenwärtig erfolgreichsten Demokratien zu besitzen und mit ihrem freiheitlichen Leben ebenso zufrieden sind wie eine Mehrheit der Bürger von Hongkong bis 2021, davon will man in Festlandchina nichts wissen. Ebenso wenig will man in Putins Russland die Tatsache akzeptieren, dass eine Mehrheit der Ukrainer bis zu dem Überfall vom 24. Febrar 2022 zwar ein gutes Verhältnis zu ihrem großen Nachbarn Russland wünschte, dem sie kulturell so nahestehen, aber keineswegs von Russland beherrscht werden wollen. Genau dieses Recht wird ihnen von Putin kategorisch bestritten. Geradeso wie dieser alle Russen, die sich seinem Regime widersetzen, als „Verräter“ denunziert – Verräter, denen gegenüber jede Maßnahme, einschließlich des politischen Mordes, legitim erscheint -, sind alle Ukrainer, die nicht zu Russland wollen, „Faschisten“ und „Verräter“, die mit ihrer Ausrottung rechnen müssen, wenn sie sich nicht freiwillig unterwerfen. Bei Putins Vernichtungskrieg spielt elementarer Hass eine finstere Rolle. Nicht wenige – vielleicht sogar eine Mehrheit – unter den Russen sind von der täglichen Propaganda so heillos verblendet, dass sie Ukrainer, mit denen Millionen von ihnen durch verwandtschaftliche Bande verknüpft sind, allen Ernstes als „Nazis“ verteufeln. Die Lüge hat System.*3*

Chinesen sind sehr viel pragmatischer. Seit Deng Xiaoping haben sie mit der kommunistischen Ideologie eigentlich nur noch ihr Spiel getrieben. Tatsächlich haben sie ein überaus erfolgreiches kapitalistisches System aufgebaut, in dem persönliche Initiative und individuelles Können zählen. Der Kommunismus spielt nur insofern eine Rolle als er dazu dient, das stalinistische Modell einer Ein-Parteien-Herrschaft zu legitimieren. Andererseits gelingt es der Partei aber auch, eine übergroße Ballung wirtschaftlicher Macht in wenigen Händen zu verhindern und auf diese Art den Kapitalismus zu zähmen. Das Spiel mit der Ideologie ist also durchweg von Realismus bestimmt. Die politische Elite des Landes ist sich auch durchaus bewusst, dass eine überwältigende Mehrheit der Taiwanesen strikt gegen eine erzwungene Übernahme durch den starken Nachbarn ist. Sie weiß, dass diese Mehrheit in den USA eine Schutzmacht sieht, die sie davor bewahren kann. Aber Festlandchina weiß auch, dass die USA – und der Westen insgesamt – einen Krieg keinesfalls wollen, zumal sie selbst ökonomisch wie militärisch zunehmend stärker werden. Zwar können die USA und ein geeinter Westen Russland daran hindern, die Ukraine zu schlucken, indem sie den Ukrainern mehr und bessere Waffen liefern. Aber Taiwan ist ein anderer Fall.

Taiwan ist eine Bombe, an der eine zischende Lunte liegt. Die Volksrepublik hat mit ihren sechs gleichzeitig stattfindenden Manövern rings um Taiwan die Insel vorübergehend eingekesselt und von der Welt abgeschnitten. Auch wenn das sechstägige militärische Muskelspiel inzwischen wieder beendet ist – China kann es zu jeder Zeit wiederholen und hat dies auch bereits angekündigt. Bevor die USA ihre Kriegsschiffe auch nur in Stellung zu bringen vermochten, hat ein Telefonanruf aus Peking das Pentagon vermutlich mit der Botschaft beruhigt, dass man ja ohnehin nur ein begrenztes Manöver plane. Der Effekt ist dennoch positiv für China und schadet den USA. China hat den Taiwanesen einen ersten tödlichen Schreck zugefügt und kann jetzt noch glaubwürdiger insinuieren, dass die Vereinigten Staaten ihnen im Ernstfall ohnehin nicht zur Hilfe kommen. Nachdem Peking dieses gefährliche Spiel einmal begonnen hat, wird es mit Sicherheit fortgesetzt, bis daraus schließlich eine Dauerbelagerung wird, mit der man die Insel ökonomisch erwürgt. Nach diesem erfolgreichen Präzedenzfall bedarf es nicht einmal eines militärischen Überfalls, um die Selbständigkeit Taiwans auszuhöhlen – und sie am Ende ganz aufzuheben.

Die Glaubwürdigkeit der USA in Asien – und in Europa – steht und fällt aber mit ihrer Bereitschaft, das ausdrückliche Versprechen ihres Präsidenten einzulösen, wonach die USA Taiwan gegen jeden Überfall verteidigen werden – also auch gegen eine schrittweise ökonomische Blockade. Die Vereinigten Staaten haben diese Bereitschaft im gegebenen Fall nicht erkennen lassen. Wie aber, wenn sie ihr Versprechen bei der nächsten Provokation doch noch erfüllen? Dann werden sie mit größter Wahrscheinlichkeit eine Niederlage erleiden, solange sie sich nur auf ihre konventionellen Streitkräfte verlassen und nicht auf ihre überragende Stärke als nukleare Supermacht. Also ist davon auszugehen, dass sie Atomwaffen einsetzen, weil sie sich andernfalls als geschlagene Gegner aus der Weltpolitik verabschieden müssten. Und was würde dann passieren? Der Einsatz von Atombomben – auch solcher nur „taktischer“ Art – würde von Chinas inoffiziellem Bündnispartner Russland mit gleicher Münze beantwortet werden. Anders als der Krieg in der Ukraine könnte das Kriegsfeuer um Taiwan einen nicht mehr zu beherrschenden Weltbrand auslösen.

Wer wäre dann schuld? Die USA, China, Russland, der weiße oder der gelbe Mann? Die chinesische Propaganda wird nicht müde, Japan für seine imperiale Politik zu brandmarken, unter der die Chinesen vor einem dreiviertel Jahrhundert besonders zu leiden hatten. Von 1867, dem Beginn der Meiji-Zeit, bis zu seiner Niederlage 1945 war Japan eine aufstrebende Macht mit ausgesprochen expansiven Gelüsten. Inzwischen hat China exakt denselben Weg beschritten – allerdings mit einer mehr als zehnmal größeren Bevölkerung und einer fünfundzwanzig Mal größeren Landfläche. Auch wenn die Ideologien sich widerstreiten, folgt das Handeln mächtiger aufstrebender Staaten überall einem gleichen Muster: der Expansion. Wer also ist schuld? Einige meiner Leser haben sicher sofort eine Antwort parat. Sie zeigen mit dem Finger auf China, auf Russland oder die USA. Andere zeigen stattdessen auf die jeweilige Ideologie. Die Kapitalisten seien schuld, die Kommunisten, extreme Rechte, extreme Linke, Verschwörungstheoretiker und so weiter.

Ich bedaure, dass ich mit einer solchen Antwort nicht dienen kann. Aus der Geschichte, wie ich sie kenne, vermag ich nur eine einzige Lehre zu ziehen, die wiederum einige meiner Leser gar nicht befriedigen wird, denn ich sage, dass der Mensch, so wie er ist, schuldig sei. Man braucht ihm nur die besseren Waffen in die Hand zu drücken, damit er sie gegen seine schwächeren Nachbarn richtet. Das ist eine traurige Lehre, gewiss, denn sie erschüttert unsere Vorstellung vom Homo sapiens oder gar Homo Deus. Aber aus der Geschichte der großen Reiche sind mir keine widerstreitenden Beispiele bekannt. Jede starke Gemeinschaft, die sich Vorteile davon erhofft, eine schwächere zu unterjochen, hat diese Gelegenheit stets ergriffen.

Wird unsere Welt also allein vom Recht des Stärkeren beherrscht? Nein, das ist glücklicherweise nicht der Fall. Innerhalb einer Gemeinschaft kann sich das Recht auf gleiche Chancen für alle entfalten – bis hin zur Annäherung an ein ersehntes Ideal. Nur zwischen ihnen herrschte und herrscht bis heute der Sozialdarwinismus, der zwar unsägliches Leid hervorgebracht hat, die Art insgesamt aber niemals gefährdete. Inzwischen leben mehr als acht Milliarden unserer Spezies auf dem Globus – wir sind neben Rindern und Geflügel, die wir selber züchten, die beiweitem erfolgreichste Art.

Doch mit der erfolgreichen Evolution unserer Art könnte es bald zu Ende sein. Wir haben Waffen erfunden, um nicht nur unsere Nachbarn sondern die gesamte Biosphäre des Globus zu vernichten. Unsere Intelligenz – die Intelligenz des Homo Diabolus – ist zum ersten Mal groß genug für die Selbstausrottung. Das ist eine echte Zäsur; das ist ein alles entscheidender Bruch in der Geschichte des Homo IN-sapiens. Die Lunte zischt schon seit mehr als einem halben Jahrhundert.*4*

*1* Auf die drängende und spannende Frage, warum Hegemonialmächte ihre Stellung immer nur für begrenzte Zeit gegen aufsteigende Rivalen zu verteidigen vermögen, möchte ich in einem späteren Aufsatz zu sprechen kommen.

*2* “I’m not afraid of nuclear war. There are 2.7 billion people in the world; it doesn’t matter if some are killed. China has a population of 600 million; even if half of them are killed, there are still 300 million people left. I’m not afraid of anyone.” (http://www.theepochtimes.com/n3/4758-maos-nuclear-mass-extinction-speech-aired-on-chinese-tv/).

*3* Wenn im Zusammenhang mit Russlands Überfall auf die Ukraine vom schamlosen Lügen der Russen die Rede ist, sollte man aber nicht vergessen, dass auch in den USA jeder dritte Bürger immer noch von einem anderen schamlosen Lügner verhext wird, von Donald Trump, dessen Verlogenheit sich noch durch besonderen intellektuellen Primitivismus auszeichnet. Dazu kommt es, wenn eine Regierung (Republikaner wie Demokraten) einen Teil der eigenen Bevölkerung de facto von höherer Bildung abschneiden und als (white, Black, Latino) „trash“ missachten.

*4* Der einzige Ausweg – den ich gegen allen Spott – immer erneut erwähne, ist eine Weltregierung. Die Feindschaft zwischen Menschen wird sie nicht ausrotten, uns also keineswegs ein Paradies bescheren, aber nur sie ist in der Lage, Atomwaffen nicht nur zu ächten sondern abzuschaffen.

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Heinrich Wohlmeyer schreibt:

Dank für Ihre – wie immer – großartige Analyse! Was Russland und die Ukraine betrift, so würde ich auf die Mitteilungen des Schweizer emeritierten Nachrichten-Oberst Jacques Baud verweisen  und lege auch meinen Aufschrei hierzu bei.
Das Urteil, dass die Machtwahnsinnigen diabolisch ferngesteuert sind, eint uns beide. Daher bete ich viel für die menschenmordenden und die Mitwelt zerstörenden Kriegstreiber.
Ihr Heinrich Wohlmeyer

Von Stephan Bannas kommt folgende Reaktion:

Lieber Herr Jenner,

herzlichen Glückwunsch für Ihre exakte, aber auch demotivierende Analyse. Vielleicht wird ja die sich anbahnende Erkenntnis der Quantenphysik, dass die Religionen doch irgendwie recht haben, die nach wie vor darwinistische Durchsetzung der Weltpolitik beenden. Das könnte aber noch dauern, und wer weiß, vielleicht waren die in Atlantis auch schon mal recht weit, haben dann aber eher dem Untergang gefrönt. Herzliche Grüße aus dem sommerlichen Köln, Ihre Aufsätze lese ich immer von vorn bis hinten, was mir sonst eher nicht passiert.

Stephan Bannas

Herr Wolfgang Müller-Funk schreibt mir:

Danke für Ihre sehr interessante Analyse. Sie haben mich an einiges erinnert,  das ich in Bezug auf die amerikanische Annäherung an China vergessen hatte.
Mit freundlichen Grüßen Wolfgang Müller-Funk

Herr Tibor Pasztory schreibt:

Danke für die fundierte Analyse! In einem einzigen Punkt vertrete ich aber eine andere Meinung: Nancy Pelosis Visite in Taiwan war nicht der Auslöser, sondern das Ergebnis der festlandchinesischen Aggression. Denn diese Manöver hätten niemals innerhalb von zwei Tagen in Gang gesetzt werden können. Die Vorbereitungen hiezu benötigen deutlich mehr Zeit, also müssen sie bereits im Vorfeld beschlossen worden sein. Insoferne hat dieser Besuch das Schlimmste vielleicht sogar verhindert oder wenigstens verzögert.

Für uns Europäer existentiell wichtig ist vor allem die Frage: wie will sich Europa künftig verhalten? Nur reagieren (heutzutage meist nicht einmal das) oder endlich mit Selbstbewusstsein agieren? Dazu benötigt es ein beinhartes Entgegenstellen gegenüber rechten (Antieuropismus etc.) und linken (Verdammung unserer eigenen Geschichte) Randgruppen, die – warum auch immer – Oberhand im öffentlichen Diskurs ergattert haben. 

Herzlichst, Tibor Pásztory

Herr Raimund Dietz schreibt:

Lieber Herr Jenner, 

Danke vielmals für den klugen und umfassenden Artikel. Wie schätzen Sie die wirtschaftlichen Folgekosten eines Krieges zwischen USA und China ein. Ist das nicht ein Grund die Lunte unter Kontrolle zu halten? 

Beste Grüße

Raimund Dietz

Meine Replik:

Angesichts der realistischen Perspektive, dass ein nuklearer Endschlag das Ende der Biosphäre bedeuten könnte, halte ich die wirtschaftlichen Kosten für vernachlässigenswert!