Bertrand Russells fataler Irrtum – wie die Analytische Philosophie den menschlichen Geist beleidigt

Die Liebe zur Weisheit war nicht schlecht beraten, als sie sich die Forderung der Wissenschaft nach Wahrheit zu eigen machte. Ihre Opposition zur Religion in vorsokratischer Zeit und dann erneut zur Zeit der Aufklärung des 18ten Jahrhunderts ging aus der Einsicht hervor, dass die Suche nach Wahrheit eine der Grundlagen menschlicher Erkenntnis sei.

Die Analytische Philosophie ging allerdings noch einen Schritt weiter, indem sie aus dieser Haltung ein Dogma machte, so als gäbe es nichts anderes als das Kriterien von wahr versus falsch. Sie schien nicht zu ahnen, welchen kaum zu ermessenden Schaden sie der ‚Liebe zur Weisheit’ dadurch zufügen würden, denn was sie auf diese Weise bewirkte war das genaue Gegenteil ihrer Absicht: eine Abkehr von der Weisheit. Die Tatsache, dass die Grande Dame Philosophie zu einem lebenden Zombie verkümmerte, nämlich zu einer Magd der Wissenschaften, mit der die Wissenschaftler selbst kaum etwas anzufangen wissen, ist auf dieses Abgleiten in den Dogmatismus zurückzuführen.

Denn die heute weltweit die Lehrstühle beherrschende Analytische Philosophie hat aus einer wertvollen Erkenntnis einen Fallstrick gemacht. Sie hat nicht sehen wollen, dass die Wahrheit, wie sie die Wissenschaften verstehen, nicht die ganze Vernunft des Menschen umfasst, sondern nur deren Hälfte, genauer gesagt, jenen Teil, der von Max Horkheimer als ‚instrumentell’ bezeichnet wurde. Ihr Gegenpart die ‚schöpferische Vernunft’ kommt in der Analytischen Philosophie nicht einmal vor; sie ist dort ausgesperrt, hat in ihr nichts zu suchen. Das aber bedeutet letztlich nichts anderes, als dass Philosophie in ihrer heute modischen Form eine ganze Hälfte der menschlichen Vernunft übergeht – sie ausblendet, als würde sie nicht einmal existieren. Die Beschäftigung mit einer auf das Instrumentelle reduzierten Vernunft, die nicht mehr darstellt als ein analysierendes Werkzeug, entfacht gewiss nicht die Liebe zur Weisheit.

Bertrand Russell

Einer der geistigen Väter der Analytischen Philosophie, Bertrand Russell, hatte diese Entwicklung vorgezeichnet – und zwar, wie ich hier zeigen möchte, kompromisslos bis zu ihrer letzten Konsequenz. Die exakten Wissenschaften befassen sich mit dem Gegenstand menschlicher Erkenntnis – Natur und Welt, wie immer man diesen nennen möchte – unabhängig von menschlichem Wollen und Wünschen. Wenn die Bahn der Gestirne, der Fall eins Apfels, der Schmelzpunkt von Eis oder Eisen von unserem Wollen oder unserer psychischen Befindlichkeit abhängen würden, dann gäbe es keine Naturgesetze, auf die wir uns so verlassen könnten, dass wir Raketen zum Mond schicken und Mondfinsternisse für die kommenden Jahrtausende im Voraus berechnen können. Die ‚objektive’ Welt, deren Gesetze menschlichem Einfluss entzogen sind, bildet den Gegenstand der exakten Wissenschaften.

Es lag nahe, daraus zu schließen, dass der eigentliche Gegenstand der Philosophie auch kein anderer sei als diese unabhängig von uns selbst und in diesem Sinn ‚objektiv’ bestehende Wirklichkeit, die sich in ‚ehernen’ und ‚ewigen’ Naturgesetzen beschreiben lässt. Dass wir diese Welt erst einmal ‚wahrnehmen’, d.h. mit unseren Sinne begreifen und dann in unseren Begriffen beschreiben müssen, liefert keinen Einwand gegen ein solches Verfahren. Ganz gleich ob wir Elektronen als Korpuskeln oder nach Art von Wellen begreifen, also diesen oder jenen Konventionen unserer Anschauung folgen, bleibt es gleichwohl unbestreitbar, dass wir selbst die Vorgänge im Inneren eines Atoms (von makroskopischen Ereignissen ganz zu schweigen) bis zu einem gewissen Grade berechnen können und dass wir aufgrund solcher Kalküle in der Lage sind, Apparate wie LEDs, Chips oder Quantencomputer zu bauen, die auf berechenbare Art funktionieren. Die Konventionen unserer Beschreibung mögen bis zu einem gewissen Grade beliebig sein – dennoch beweist das verlässliche Funktionieren unserer Geräte, dass wir die ‚objektive’ Ordnung der Natur (ihre Gesetze) richtig verstanden haben, mit anderen Worten, dass unsere Aussagen über Welt und Natur in diesem Sinne als wahr oder ‚objektiv’ sein müssen. Bertrand Russell, hervorragend geschult in Mathematik und Naturwissenschaften, wurde zu einem Philosophen, der die naturwissenschaftliche Wahrheit als einzige Wahrheit überhaupt akzeptierte.

Gesetze und Wollen

Der einzigartige Siegeszug der exakten Wissenschaften während der vergangenen zwei, drei Jahrhunderte musste wohl zu einer solchen Folgerung verleiten – die dennoch auf einem Kurzschluss beruht. Denn es ist ja genauso wenig zu leugnen, dass es neben einer Natur, deren Ordnungen unabhängig von unserem Wollen und Wünschen bestehen, noch eine Ordnung gibt, die wir – jeder einzelne und jede Nation und Epoche – mit eben diesem Wollen und Wünschen täglich in unseren Köpfen erdenken, bevor wir sie mit unseren Händen erschaffen. Diese kreative Dimension lebender Wesen bezeichne ich beim Menschen als ‚schöpferische Vernunft’. Offensichtlich spielt sie eine gleich große Rolle wie ihr instrumenteller Widerpart.

In zahllosen universitären Forschungsstätten und Konzernlaboren überall auf der Welt bilden die Gesetze der Natur den Gegenstand fortschreitender Untersuchung jener Vernunft, die ihre Bezeichnung als ‚instrumentell’ durchaus verdient, weil die Kenntnis der Gesetze letztlich den Zweck verfolgt, die Herrschaft über die Natur mit besseren Instrumenten immer vollkommener zu gestalten. Aber es ist unser Wollen und Wünschen, das den größten Teil im bewussten Leben nicht nur des Durchschnittsmenschen belegt, sondern auch eines exakten Wissenschaftlers und Philosophen. Als wollende und wünschende Wesen nehmen wir uns beständig dies oder jenes vor. Dabei können wir gar nicht anders verfahren, als uns Zwecke zu setzen und nach Werten zu leben, da wir uns ja in jedem Moment unseres Denkens und Handelns zwischen möglichen Alternativen entscheiden müssen. Bei einem Verkehrsunfall kann ich weglaufen, helfen oder als Gaffer danebenstehen. Die nach Gesetzen unabhängig von diesem Wollen bestehende Natur engt uns nur ein, weil sie unserem Wollen bestimmte unüberschreitbare Grenzen setzt – meine Hilfe bei einem Unfall wird sinnlos sein, wenn ich keine Ahnung habe, wie man mit einem Schwerverletzten umgehen soll -, aber das uns antreibende Wollen bewirkt, dass wir innerhalb dieser Grenzen und mit den Instrumenten, die uns die instrumentelle Vernunft zur Verfügung stellt, die zweite Hälfte unserer Vernunft betätigen, eben die schöpferische, da wir mit ihrer Hilfe beständig geistige und materielle Welten erschaffen, die auf Werten und Zwecken begründet sind.

Ein großes Dilemma

Für die Religionen hat es nie einen Grund gegeben, die überwältigende Evidenz unseres Wollens zu leugnen – in der schöpferischen Vernunft der Geister und Götter war es ja bereits vorgebildet. Für die exakten Wissenschaften aber kam der Bezug auf eine sinnlich unfassbare Welt nicht in Frage, weil man mit Beweisen und Gegenbeweisen dort nichts ausrichten konnte. Die Kriterien von wahr und falsch sind außer Kraft gesetzt, wenn es um das übersinnliche Jenseits geht. Die Verankerung des Wollens im Übersinnlichen konnte für die Wissenschaft keine Geltung besitzen.

Aber war es besser um Wollen und Wünschen bestellt, wenn man es als eine rein diesseitige Realität akzeptierte? Offenbar nicht, solange man darin ein bloß subjektives Phänomen erblickte, dessen Manifestationen – anders als die der ‚objektiv’ vorhandenen Welt – letztlich beliebig waren, da sie sich nicht als gesetzhafte Ordnung beschreiben ließen (also unabhängig von menschlichem Wollen und Wünschen).

Für das Denken gab es zwei Möglichkeiten, um aus dieser Sackgasse, diesem Dilemma, heraus zu finden. Die einfache Lösung bestand darin, vor ihm zurückweichen, indem man es schlicht ausblendete, seine Existenz verdrängte oder es als zweitrangig und unbedeutend hinstellte. Das entspricht der allgemein menschlichen Reaktion auf Herausforderungen, die das Denken erschüttern.

Man konnte den Stier aber auch an den Hörnern fassen, indem man zu einem äußerst kühnen Gegenangriff ansetzte. Dieser bestand darin, die Evidenz selbst in Frage zu stellen und die Behauptung zu wagen, dass menschliches Wollen und Wünschen nur in oberflächlicher Betrachtung als subjektiv erscheint, während es in Wahrheit – sozusagen aus dem Hintergrund – gleichfalls objektiven Gesetzen gehorcht. In diesem Fall wären aus wissenschaftlicher Sicht Wünschen und Hoffen letztlich so unabhängig von Wünschen und Hoffen wie die Bahn des Mondes und das Schmelzen von Eis.

Der Makel der Geisteswissenschaften

Die erste der beiden Alternativen – das ängstliche Zurückweichen vor einem als äußerst schwierig empfundenen Problem – ist die vorherrschende geblieben. Als exakte Wissenschaften gelten bis heute in erster Linie Physik und Chemie, wobei die erstere den Rang einer Königsdisziplin für sich beansprucht. Die Wissenschaften vom Menschen – Geschichte, Soziologie, Psychologie usw. – gelten eher als ungewiss und deshalb als zweitrangig, weil es ihnen im Gegensatz zur Physik offensichtlich nicht möglich ist, ‚ewige’ und ‚eherne’ Gesetze aufzustellen. Manche unter den strengen Naturwissenschaftlern sind nicht einmal bereit, ihnen überhaupt das Prädikat als echte Wissenschaften zuzuerkennen.

Wie sehr die Geisteswissenschaften selbst ( engl. ‚Humanities’) unter dieser Beurteilung leiden, beweisen sie einerseits dadurch, dass sie, wann immer möglich, die Sprache der Mathematik übernehmen – manchmal selbst dann, wenn damit keinerlei Erkenntnisgewinn verbunden ist. Andererseits beweisen sie es zusätzlich dadurch, dass sie auch Kulturen in zunehmendem Maße mit naturwissenschaftlichen Methoden und Mitteln analysieren. In der zeitgenössischen Anthropologie, z.B. der Archäologie, läuft diese Umstellung auf eine erstaunliche Bereicherung hinaus. Gewaltige Fortschritte in der vertieften Kenntnis der Vergangenheit sind ihr zu verdanken. Andererseits bedeutet diese Fixierung auf den messbaren Aspekt von Kulturen aber auch, dass deren materielle Dimension mehr und mehr in den Vordergrund rückt, während die weit flüchtigeren und schwerer zu erfassenden geistigen Erscheinungen ins Zwielicht geraten oder als Gegenstände der Forschung überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden.

Reduktion auf eine einzige Wahrheit

Die Entwertung menschlichen Wollens und Wünschens, anders gesagt der geistigen Sphäre, bildet nur eine von zwei Möglichkeiten. Der Gegenangriff auf den Geist – die zweite der beiden Alternative – ist weit radikaler, aber auf den ersten Blick von unbezwingbarer Logik. Wenn es Wahrheit nur dort gibt, wo man Gesetze findet, deren Geltung unabhängig von menschlichem Wollen und Wünschen ist, sodass man sie niemals als bloß subjektiv oder beliebig relativieren kann, dann lässt sich das widerspenstige Wollen nur in den Griff bekommen, indem man es selbst als gesetzmäßig erklärt.

Anders gesagt, musste es möglich, ja sogar notwendig sein, ‚eherne’ und ‚ewige’ Gesetze selbst im menschlichen Wollen und Wünschen zu entdecken; nur dann konnte man auch den Geist zu einer exakten Wissenschaft machen, nämlich zu einer Sparte von Physik und Chemie. Der Durchschnittsmensch würde auf eine so tollkühne Idee allerdings kaum verfallen. Wenn er die Hand hebt, glaubt er dies deswegen zu tun, weil er es eben in diesem Moment gerade so ‚will’. Er ist überzeugt, dass er stattdessen auch beliebig andere Dinge hätte tun können. Ganz fremd ist ihm die Vorstellung, dass dies keineswegs der Wahrheit entspreche, weil er in Wirklichkeit ein Uhrwerk mit eingebautem Federwerk sei, das in diesem Moment zu gar keiner anderen Handlung fähig gewesen sei. Die Tollkühnheit einer solchen für den Durchschnittsmenschen ganz abwegigen Erklärung haben nur Philosophen gewagt. Sie haben sich deswegen zu diesem Wagnis entschlossen, weil die Welt dann auf einmal so wunderbar einfach wird: Alles lässt sich mit einem einzigen Prinzip erklären lässt, denn es gibt nur eine einzige Wahrheit, die der instrumentellen Vernunft.

Nur Atome – und kein Platz für den Geist

Das Bestreben, die Welt zu vereinfachen, scheint eines der ältesten überhaupt zu sein. Es begegnet uns schon im fünften vorchristlichen Jahrhundert bei Demokrit und Leukipp, und es wird mit gleicher Kühnheit gegen Ende des 18. Jahrhunderts von dem großen französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace vertreten. Im zwanzigsten Jahrhundert begegnen wir der gleichen Kühnheit bei Bertrand Russell, der mit der von ihm begründeten Analytischen Philosophie weltweiten Einfluss zu gewinnen vermochte.

„Man geht davon aus, dass die Materie aus Elektronen und Protonen besteht, die von endlicher Größe sind und von denen es nur eine endliche Zahl in der Welt gibt … Die Gesetze dieser Änderungen lassen sich anscheinend in einer kleinen Zahl sehr allgemeiner Prinzipien zusammenfassen, welche die Vergangenheit und Zukunft der Welt determinieren, sobald irgendein kleiner Ausschnitt des Weltgeschehens bekannt ist. Die Naturwissenschaften nähern sich damit dem Stadium, da sie abgeschlossen sein werden und daher uninteressant. Kennt man die Gesetze, welche die Bewegungen von Elektronen und Protonen beherrschen, dann ist der Rest nur noch eine Frage der Geographie [d.h. ihrer jeweiligen Lage] – eine Menge von bestimmten Fakten, welche ihre Verteilung in einem bestimmten Abschnitt der Welt beschreiben.“

Und an anderer Stelle: „Einige glauben, dass Physiologie niemals auf Physik reduziert werden kann, aber ihre Argumente sind nicht sonderlich überzeugend, weshalb es geraten erscheint, sie für falsch zu halten.“

Oder noch schärfer formuliert: „In ihrer gegenwärtigen Form ist Wissenschaft zum Teil angenehm, zum Teil unangenehm. Sie ist angenehm durch die Kraft, die sie uns gibt, unsere Umwelt zu manipulieren … Sie ist unangenehm, weil sie, wie auch immer wir dies zu verschleiern suchen, einen Determinismus voraussetzt, der uns theoretisch die Macht verleiht, menschliches Handeln ganz genauso vorherzusagen. In dieser Hinsicht scheint sie die menschliche Macht zu verringern … Wenn … wir die Reichweite der wissenschaftlichen Methode akzeptieren, dann führt kein Weg an der Schlussfolgerung vorbei, dass Kausalität und Induktion auf den menschlichen Willen ebenso anwendbar sind wie auf alle übrigen Phänomene. Alles, was Physik, Physiologie und Psychologie im 20. Jahrhundert geleistet haben, verstärkt diese Schlussfolgerung.“

Die schöpferische Vernunft als eigenständige Form der Erkenntnis neben der instrumentellen wird hier schlicht für inexistent erklärt, da sie auf die ‚ewige’ Ordnung der Atome zurückgeführt werden kann, also grundsätzlich berechenbar ist.

Die Evidenz per fiat beiseite geschoben

Das Paradox, dass dann Wollen und Wünschen unabhängig von Wollen und Wünschen sind, kam dabei nicht in den Blick. Das Paradox, dass die flüchtigen Ordnungen der schöpferischen Vernunft jetzt beschreibbar durch die ewigen Ordnungen der Physik sein sollen, genauso wenig. Das Paradox, dass der Mensch und Philosoph Bertrand Russell, der wie kein anderer die Rolle eines freien Menschen für sich in Anspruch nahm, sich dadurch selbst zur unfreien Maschine erklärte, die im Prinzip völlig berechenbar sei, wurde schon gar nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion gemacht.

Und das Paradox, dass diese tollkühne Denkkonstruktion mit der empirischen Wirklichkeit absolut nichts zu tun hat, da sie sich aus ihr nicht durch Beweise ableiten lässt, wurde angesichts der Faszination durch diese wunderbar einfache Lösung erst gar nicht beachtet. Der ganze Weltlauf wurde als determiniert erklärt, obwohl es auch der exaktesten Wissenschaft lediglich möglich ist, im unendlichen Gefüge des Wirklichen einzelne Kausalstränge zu definieren, während die Gesamtheit der Ereignisse, z.B. die zukünftige Entwicklung der Welt – angefangen von der Entstehung neuer Arten bis zur Entstehung neuer humaner Staatengebilde und Ideologien – uns de facto nicht weniger unbekannt ist als den frühen Steinzeitmenschen.

Bis zum Aufkommen der Quantenphysik wurden Einwände gegen den Determinismus schlicht mit der empirisch völlig inhaltlosen Behauptung vom Tisch gewischt, dass wir nur eine Augenblicksphotographie von der Lage sämtlicher Atome erlangen müssten, um die gesamte Zukunft vorherberechnen zu können (was aber aus praktischen Gründen bisher leider nicht möglich sei). Warum sagte niemand, dass das ein heilloser Unfug ist, und dass man eine Philosophie schwerlich ernst nehmen kann, die auf einem Unfug begründet ist, der sich weder logisch noch empirisch rechtfertigen lässt?

Der Widerspruch zwischen Person und Ideologie

Hanebüchener Unfug! Und dennoch habe ich wenige Philosophen mit so großem Vergnügen gelesen wie gerade den großen englischen Denker. Es ist nicht nur der stets gegenwärtige Humor Bertrand Russells, welcher die Lektüre seiner Schriften so anziehend macht, weil er sich allem Fanatismus überlegen entgegenstellt; es ist vor allem der besondere moralische Enthusiasmus, der Russell auszeichnet, denn er hat vielen Aufrufen gegen Ungerechtigkeiten aller Art seine Stimme verliehen. Russell bewies, dass man ein Mensch für andere Menschen sein kann, wenn man an ihr individuelles Gewissen und ihre individuelle Denkfähigkeit appelliert. Man braucht nicht zusätzlich auch noch an irgendwelche Ideologien oder selbst an heilige Bücher zu glauben. In meinen Augen sind es die moralische Integrität und persönliche Aufrichtigkeit, welche die Größe des englischen Philosophen ausmachen. Ich habe keine Schwierigkeit, diesen Mann zu bewundern, auch wenn ich den Kern der Analytischen Philosophie für einen hanebüchenen Unfug halte.

Russell verdient auch deshalb besondere Beachtung, weil er in seiner Person geradezu beispielhaft das Paradox zur Erscheinung bringt, das die gesamten dreihundert Jahre der wissenschaftlichen Weltsicht beherrscht. Die vergangenen drei Jahrhunderte sind von einem in seinen Ausmaßen bis dahin nie gekannten Eingreifen menschlichen Wollens auf die Natur charakterisiert. Bis zur Unkenntlichkeit hat sich der Globus von heute von jenem fortentwickelt, wie er zu Beginn des 17ten Jahrhunderts noch existierte. Homo faber – in Wahrheit der schöpferisch wollende Mensch – hat in dieser Zeit kaum einen Stein auf dem anderen gelassen. In keiner Epoche zuvor ist menschliche Freiheit so sichtbar in Erscheinung getreten.

Bertrand Russell nur eine Denkmaschine?

Und doch, es ist es diese so überaus schöpferische Epoche, welche den Motor dieser einmaligen Entfaltung aktiver Kräfte, die schöpferische Vernunft und mit ihr menschliche Freiheit, als Illusion hinstellt: Nicht nur der Fall eines Steins gehorche ‚ewigen’ und ‚ehernen’ Gesetzen, sondern auch unser Denken und Handeln. Bertrand Russell, eines der großen Vorbilder für alle mit persönlichem Einsatz für ihre Überzeugungen ringenden Menschen, erklärt das eigene Wollen als subjektiven Schein, dem keine objektive Realität entspreche. Aus der Perspektive seiner eigenen der Analytischen Philosophie ist alles, was der Denker Bertrand Russell irgendwann wollte und wünschte, ebenso durch die augenblickliche Lage der Atome seines Gehirns vorbestimmt wie alle übrigen gesetzhaft ablaufenden Vorgänge. Der Gegensatz könnte kaum greller sein: Moralischer Enthusiasmus des engagierten Kämpfers für soziale Gerechtigkeit auf der einen Seite, auf der anderen Bertrand Russell als eine Denkmaschine, deren mechanische Aktivität von einer übermenschlichen Intelligenz schon vor Jahrtausenden hätte vorausgesagt werden können.

Liegt darin nicht ein greller Widerspruch, in dessen Aufklärung kritisches Denken nicht schon längst eine seiner wichtigsten Aufgabe sehen müsste? Offenbar nicht. Der Philosoph hat sein Dogma ausgesprochen, seine Nachfolger haben sich brav daran gehalten.

Warum Erkenntnis so leicht dogmatisch wird

Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie schlechthin alles zum Gegenstand ihrer Neugierde macht. Manchmal drängt sich geradezu der Eindruck auf, dass sie manisch nach neuen Gegenständen für ihre Neugierde sucht. Wie ist es da zu erklären, dass der eben genannte Widerspruch mit größter Scheu umgangen, ja, dass er mit einem Dogma geradezu ausgelöscht wird? Dazu fällt mir nur eine einzige Erklärung ein, die aber den Vorteil besitzt, auf Anhieb ein glaubhaftes Motiv aufzudecken.

Von Anfang an – schon bei Demokrit – trat Wissenschaft mit umfassendem Anspruch auf. Der empirischen Beobachtung sollten sich grundsätzlich alle Dinge erschließen, denn die Kriterien von wahr versus falsch sollten ja prinzipiell auf jeden beliebigen Gegenstand anwendbar sein. Denn was wäre die Konsequenz gewesen, falls man wahr und falsch eben nicht überall hätte anwenden können? Diese Konsequenz hätte im Eingeständnis von Grenzen bestanden. Die Wissenschaft hätte sich eingestehen müssen, dass Bereiche der Wirklichkeit existieren, die ihrem Zugriff entzogen sind.

Zwar hat es immer wieder einzelne Wissenschaftler gegeben, die – wie Goethes Faust jedoch meist gegen Ende ihrer Karriere – zu dem pessimistischen Schluss gelangten, nichts Wesentliches dazugelernt zu haben (und bin so klug – so dumm – als wie zuvor). Einige wenige wie der in vielen Dingen so klarsichtige Karl Popper fanden sogar zu der Einsicht, dass menschliche Episteme durchaus nicht unendlich sei, aber dies war die Position eines denkenden Außenseiters – niemals die offizielle Haltung der Wissenschaften. Diese bestanden vielmehr darauf, das es keine prinzipiellen Grenzen für die Erkenntnis geben, wenn diese die Wirklichkeit auf wissenschaftlich-methodische Weise erforscht.

Dieser Anspruch aber war jedoch nur dann aufrecht zu erhalten, wenn sich alle Erscheinungen dieser Welt unabhängig von menschlichem Wollen und Wünschen beschreiben lassen, also als ‚objektiv’ gesicherte Tatsachen. Wollen und Wünschen und alles darauf begründete Denken und Handeln musste deshalb als eigenständige Dimension aus der Welt geschafft werden. Man musste eine objektive Basis dafür finden und notfalls frei erfinden, die ihrerseits unabhängig von allem Wünschen und Wollen war. So erklärt sich das uralte von Demokrit bis Russell durchlaufende Bestreben, das subjektive Phänomen menschlichen Wollens in objektiven Gesetzmäßigkeiten zu verankern, um es berechenbar, voraussagbar und letztlich beherrschbar zu machen. Schöpferische Vernunft konnte es unter dieser Voraussetzung natürlich nicht geben, übrig blieb allein die instrumentelle.

Die Weltformel

Die Wirkung dieser gewaltsamen logischen Operation musste sich bei näherem Hinsehen als grotesk erweisen. Ein Philosoph – nehmen wir an, es sei Bertrand Russell selber – möchte eine Weltformel besitzen, die ihm sein künftiges Denken ebenso sicher vorauszusagen erlaubt wie die nächste Mondfinsternis. Er möchte sogar in diesem Augenblick sagen können, warum er gerade diesen Gedanken und keinen anderen denkt oder diese Handlung und keine anderer vollzieht. Dass er sich damit in einen unauflösbaren Widerspruch verwickelt, scheint ihm dabei zu entgehen. Denn dieser Wunsch ist ja in Wahrheit gar kein eigener Wunsch, sondern ein voraussagbares Ergebnis jener inneren Hirnmechanik, die nicht ihm selbst, sondern irgendwelchen ‚ewigen’ und ‚ehernen’ Gesetzen gehorcht. Es ist geradeso, als würde ein lebloses Uhrwerk plötzlich entdecken, dass es – ein lebloses Uhrwerk ist. Der Mensch erklärt jetzt zwar alles, einschließlich seines eigenen Wünschens und Wollens, doch gelingt ihm das nur um den Preis, sich selbst hinwegzuerklären.

Bis gegen Ende des 19ten Jahrhunderts wurde dieser Unsinn – Determinismus genannt – von einer Mehrzahl zum Teil überaus kluger Leute zur unanfechtbaren Wahrheit erklärt. Erst durch die Entdeckung des Zufalls in der Quantenmechanik wurde das ‚mechanistische Weltbild’ erschüttert – eine Wende, wovon sich viele nichts geringeres versprachen als eine Revolution. Leider zu Unrecht.

Der sinnlose Zufall

Die Erschütterung blieb folgenlos, denn der Zufall war aus der Sicht der Wissenschaft nur ein peinliches Negativum – er bedeutete ja eine Einschränkung jener Allwissenheit, die in der Regel uneingestanden vorausgesetzt, ganz selten – wie bei Popper – ausdrücklich eingeräumt wurde. Selbst Giganten wie Albert Einstein hatten sich mit einer solchen Einschränkung nicht abfinden können, denn „Der liebe Gott würfelt nicht“, d.h. er setzt keine sinnlosen Akte nach Art einer Zufallsmaschine. Der eiserne Ring einer prinzipiell total erklärbaren Welt, in der auch der Mensch nur Maschine ist, war durch die Entdeckung des Zufalls zwar zerbrochen, aber dadurch war nichts gewonnen. Zähneknirschend musste man sich von nun an gefallen lassen, dass es neben den Ordnungen, welcher der Wissenschaftler in Gesetzen beschreibt, die Zone des sinnlosen Zufalls gibt, ein wissenschaftliches Abfallprodukt sozusagen, dessen Existenz man zwar akzeptieren musste, dem man aber keinerlei Sinn zu geben vermochte.

Für die Erklärung des menschlichen Wollens kam damit natürlich noch eine weitere Möglichkeit in Betracht. Man war nicht länger darauf beschränkt, es wie Demokrit oder Russell als determiniert zu betrachten. Man konnte es jetzt ebenso gut in den zweiten Bereich, also den des Zufalls, verschieben. Dann war der Mensch keine Maschine, die eine in ferner Zukunft zur Vollendung gelangte Wissenschaft einmal so vollständig berechnen wird, dass jeder Willensakt und jede Handlung dann ebenso notwendig erscheinen wie eine Mondfinsternis. Der Zufall bot die alternative Möglichkeit, jeden Denk- und Willensakt für gleich beliebig und grundsätzlich unberechenbar zu verstehen wie das Verhalten eines irrlichternden Elektrons.

Schöpferische Vernunft – Inbegriff der Sinnhaftigkeit

Damit war freilich nichts gewonnen. Wenn man den Menschen als vollständig berechenbares Uhrwerk versteht, setzt man ihn gleich mit ‚toter’ Materie. Wenn man alternativ seine Willensakte so versteht, als würden sie von einem Zufallsgenerator erzeugt, beraubt man sie jeglichen Sinns.

In der Wissenschaft diskreditiert man sich bekanntlich durch Emotionen, weil sich da subjektives Wollen und Wünschen zu sehr in den Vordergrund drängen. Aber ich stehe nicht an, in diesem Fall meinen subjektiven Gefühlen freien Lauf zu lassen, indem ich beide Vorgehensweisen – einschließlich jenes Gemisches aus beiden, das sich als ‚soft determinism’ besonderer Beliebtheit erfreut – als hanebüchenen Unfug bezeichne.*1*

Denn Tatsache ist ja, dass unser Wollen uns selbst als der Inbegriff des Sinnhaften erscheint, ja, dass wir den Begriff eines Sinns überhaupt nur deswegen bilden können, weil uns als denkenden und handelnden Wesen immer ein Sinn, d.h. Bedeutung und Zweck, vor Augen stehen. Gleichgültig, ob man den Menschen zur Maschine oder zu einem Zufallsgenerator erklärt, der Sinn kommt beide Male abhanden. Schon bei ihrem Urheber, bei Bertrand Russell, ist die Analytische Philosophie mit dem Geburtsfehler behaftet, die zentrale Kategorie, den Sinn, durch ihr Verfahren abgetötet zu haben.

Wie man der Freiheit ihre zentrale Stellung zurückgibt, habe ich in meinem Buch ‚Die Macht der Träume und die Ohnmacht der Vernunft – eine Philosophie der Freiheit’ (Metropolis 2013) zu zeigen versucht. Bisher noch frei über das Netz zugänglich ist die wesentlich erweiterte englische Version ‚Doubt and Dogma – a Philosophy of Freedom in Nature and Man’.

1 Eine andere Sache ist es, dass viele unserer Handlungen bestimmten Zwängen unterliegen, so dass unsere Freiheit niemals absolut ist.