Kritischer versus naiver Humanismus

(Kapitel aus meinem Buch: Auf der Suche nach Sinn und Ziel der Geschichte – Leben in der Ära der Streitenden Reiche. Deutsches Original liegt beim Verlag, aber die englische Übersetzung ist – zeitweilig zumindest – über das Netz verfügbar:  “In Search of Meaning and Purpose in History„.http://www.gerojenner.com/mfilesm/MandP.pdf))

Wenn die Aufgabe /dieses Buches/ geglückt ist, wenn also der Nachweis gelingt, dass Sapiens seit Beginn seiner Geschichte nicht nur intellektuell, sondern ebenso auch in moralischer Hinsicht ein und dasselbe Wesen war und bis heute geblieben ist, dann leitet uns die vorliegende Suche zu einem neuverstandenen Humanismus, den ich von seinem Vorgänger allerdings dadurch unterscheiden möchte, dass ich ihn als „kritischen Humanismus“ bezeichne. Dieser weiß zwar um das allen Menschen gemeinsame Gewissen, aber anders als der naive Humanismus geht er nicht davon aus, dass Bildung und Aufklärung schon genügen, um Mensch und Gesellschaft grundsätzlich zu reformieren. Der naive Humanismus ist auf einer Illusion begründet: Er glaubt, man brauche dem Menschen nur die Augen für bestimmte Wahrheiten zu öffnen, und schon würde er einer Zukunft entgegenschreiten, in der es keine Kriege, keine Habgier, keine Unterdrückung, ja, wer weiß, vielleicht nicht einmal das Böse mehr gibt. Das ist leider nicht mehr als eine schöne Idee. Oder, wie Neil Postman sagt: „Luftschlösser bauen wir alle, problematisch wird es erst, wenn wir versuchen, darin zu  wohnen.“ Denn eine derartige Deutung von Geschichte steht in krassem Gegensatz zu allem, was wir von der Vergangenheit wissen. Interessengegensätze haben die ganze bisherige Geschichte bestimmt, sie gelangten nicht immer gleich stark zum Ausdruck – wie schon Thukydides wusste, hat es hat sehr wohl glücklichere und weit weniger glückliche Epochen gegeben *1*, aber die Gegensätze zwischen Einzelnen, Gruppen und Staaten waren trotzdem immer vorhanden, und sie haben sich oft gegen das moralische Gewissen behauptet. Nichts deutet darauf hin, dass unsere Zeit in dieser Hinsicht einen Bruch mit der Vergangenheit vollzieht.

Die Verirrungen des Naiven Humanismus

Der naive Humanismus malt ein künftiges Paradies an die Wand. Auf dem Wege der sanften, öfter aber auch der gewaltsamen Aufklärung glaubt er, nur an wenigen Stellschrauben der menschlichen Psyche, Gesellschaft, Politik oder Ökonomie drehen zu müssen, um auf diese Art Schluss mit allen bisherigen Übeln zu machen. Deswegen lief diese Art des Humanismus stets Gefahr, von radikalen Kräften des linken wie rechten Lagers zu eigenen Zwecken missbraucht zu werden. Die totalitäre Beglückung anderer Menschen im Namen idealistischer Ideologien hat, wie wir aus dem vergangenen Jahrhundert wissen, größeren Schaden bewirkt als individuelle Habsucht, Gier oder Egoismus (Koestler, Arendt, Lewis). Sie hat außerdem dazu beigetragen, modische Zyniker überhaupt an der Verbesserungsfähigkeit menschlicher Gesellschaft zweifeln zu lassen.

Dennoch wird es den naiven Humanismus auch als positive Kraft immer geben, nämlich in Gestalt des gelebten Vorbilds. Wenn jemand unter größten materiellen Opfern, die er sich selbst auferlegt, seine Vorstellungen von einem guten und richtigen Leben verwirklicht ohne sie anderen aufzuzwingen, dann haben wir es mit den Heiligen früherer Zeiten zu tun.

Die Heiligen, die sich selbst zum Opfer für ihre Ideale bringen, sind aber Ausnahmen der Geschichte – die Regel waren sie nie. Sobald wir den Unterschied zwischen gemachter und gedachter Geschichte vollziehen, also zwischen den Taten des Menschen und seinem Gewissen, dann halten wir zwar am Humanismus fest, aber wir fassen ihn kritisch auf, weil wir uns sehr wohl bewusst sind, dass der unmittelbare, kurzfristige Nutzen – das Streben nach Macht, nach Gewinn, nach Vorteilen des einzelnen, des Stamms, der Nation auf Kosten der anderen – das menschliche Gewissen immer wieder zu überwinden und oft sogar für lange Zeit zu beherrschen vermag. Bis zum heutigen Tag ist diese Tatsache daran abzulesen, dass Menschen in aller Regel ihresgleichen nur dann als gleichwertig akzeptierten, wenn diese sich zu behaupten, zu wehren, Widerstand zu leisten imstande waren. Um nur eines von Tausenden Beispielen zu nennen: Frankreich und Deutschland haben sich erst in dem Augenblick miteinander versöhnt, als sie einsahen, dass sie einander niemals endgültig zu besiegen vermochten. Die ganze Geschichte der Streitenden Reiche, die in diesem Buch erzählt werden wird, ist ein Beleg für diese These.

Der neue Anti-Humanismus

Der kritische Humanismus steht deshalb vor einer doppelten Front: Einerseits unterscheidet er sich von seinem naiven Gegenbild, andererseits grenzt er sich in aller Schärfe von dem neuerdings wieder um sich greifenden Anti-Humanismus ab. In unserer Zeit wie auch in der Vergangenheit tritt uns Letzterer in Gestalt des Fremdenhasses entgegen, der die Gleichheit der Menschen grundsätzlich bestreitet. Er gibt der eigenen Sippe, dem eigenen Stamm, der eigenen ideologischen Gruppe, der eigenen Nation und Religion nicht nur den Vorrang – das ist bis zu einem gewissen Grade völlig natürlich und sogar selbstverständlich, denn wenn ich nicht überzeugt bin, dass meine Gruppe, meine Überzeugungen und mein Lebensstil für mich die richtigen sind, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, warum ich sie beibehalte. Über diese natürliche Einstellung schießt der Antihumanismus jedoch weit hinaus. Er sieht sein Ziel darin, die anderen – ihre Lebensart und Überzeugungen – auf alle mögliche Weise zu diskreditieren. Im Extremfall designiert er sie als Untermenschen, deren Lebensrecht er bestreitet.

Die Dialektik der Maßlosigkeit

Aufgrund der unseligen dreizehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wo dieser Antihumanismus in Nazi-Deutschland zur offiziellen Ideologie gemacht worden ist, hat sich bei uns innerhalb weniger Jahrzehnte eine ideologische Kehrtwende ereignet: Der naive Humanismus manifestiert sich – oft geradezu kämpferisch – als Fremdenliebe, die bis zum Extrem der Selbstaufgabe geht. In den Worten des stark umstrittenen, aber gegenwärtig wohl einflussreichsten französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, bis zur freiwilligen „Unterwerfung“ (Soumission). Ich sagte schon, dass er sich in historischer Sicht ausnahmsweise in Menschen manifestierte, die im Ruf der Heiligkeit standen, und dann ein Beispiel dafür waren, wie Liebe alles Trennende überbrückt. Aber in seiner heute modischen Form ist der naive Humanismus totalitären Bestrebungen viel eher verwandt, weil seine Proponenten ihre eigenen Ideale der Bevölkerungsmehrheit aufzwingen wollen, wobei sie deren oftmals durchaus berechtigte Interessen souverän zu missachten pflegen. Die jüngsten Entwicklungen in ganz Europa zeigen, dass der naive Humanismus, der sich aus moralischer Überheblichkeit über die Interessen einer Mehrheit hinwegsetzt, wesentlich dafür verantwortlich ist, dass der Anti-Humanismus in breiter Front wieder sein hässliches Haupt erhebt.

Leider macht der naive Humanismus nichts wirklich besser, weil er alle Lehren der gemachten Geschichte missachtet (von denen er in der Regel ja auch aus diesem Grund gar nichts wissen möchte). Um in den Worten Max Webers zu sprechen, setzt er das Wunschdenken (die Gesinnungsethik) an die Stelle einer Ethik der Verantwortung. Das hat noch nie funktioniert. Man denke nur an all jene zum Teil ganz friedlichen Gesellschaften zurück, welche die europäischen Fremden vom 16. bis zum 19. Jahrhundert mit offenen Armen empfingen, weil sie glaubten, dass ihr eigener Wunsch nach Friedfertigkeit sie vor dem Zugriff der Eroberer schützen würde. Wie sie zu ihrem Verderben erfahren mussten, wurden sie von den Kolonisatoren rücksichtslos ausgebeutet und manche unter ihnen auch vollständig ausgemerzt. Friedfertigkeit oder gar Liebe hat gegen überlegene Waffen und die Gier nach Beute nie etwas auszurichten vermocht. Gerade weil der kritische Humanismus auf der intellektuellen und moralischen Gleichheit der Menschen besteht, und zwar im Guten wie im Bösen, ist er sich der geschichtlichen Tatsache bewusst, dass Menschen – trotz des Gewissens, das ihnen allen gemeinsam ist – zunächst einmal ihren Interessen gehorchen. Würde man Politik konsequent im Sinne eines naiven Humanismus betreiben, dann kommt im besten Fall eine gut gemeinte Dummheit dabei heraus, im schlechtesten Fall führt sie zu innerer Spaltung und Unruhe. Sobald eine Bevölkerungsmehrheit sich in ihren Interessen bedroht fühlt und sich dem Willen der Elite nicht länger fügt, kann es leicht dazu kommen, dass die von oben verordnete Fremdenliebe ihr gerades Gegenteil zur Erscheinung bringt, nämlich den Fremdenhass des Antihumanismus. Diese unheilvolle Dialektik einer von der Mehrheit als maßlos bewerteten Politik kennzeichnet die gegenwärtige Lage in mehreren Staaten Europas. Wie keine andere Bewegung hat der Antihumanismus als Reaktion gegen das Wunschdenken seines naiven Gegenspielers das intellektuelle Klima in Nachkriegseuropa vergiftet.D


[1 [In Friedenszeiten und unter glücklichen Verhältnissen haben Städte und Menschen bessere Gesinnungen, weil sie nicht in unfreiwillige Zwangslagen verfallen. Der Krieg aber, der den mühelosen Erwerb des täglichen Bedarfs unterbindet, zwingt die Zuchtrute der Gewalt und lenkt die Leidenschaften der Menge so, wie es der Augenblick befiehlt (Thukydides 1963, S. 262).[