Von Jean-Jacques Rousseau bis zu Pankaj Mishra – der einäugige Blick auf die Geschichte

(Auch erschienen in „Humane Wirtschaft“)

Immer erneut hat sich die Deutung der Geschichte von einem naiven Humanismus verführen lassen, weil dieser die Stimme des Gewissens ohne alles Wenn und Aber vertritt. Die Luftschlösser, die er auf diese Weise erbaut, verkörpern dann das hehre Ideal gegenüber einer so viel unvollkommeneren Realität. Wollen wir die Gegenwart aber gerecht und richtig beurteilen, dann dürfen wir die Vergangenheit nicht idealisieren, sondern müssen sie ohne jede Beschönigung beschreiben. Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, wo genau dies möglich ist, nämlich ein vorläufiges Resümee, das uns den Vergleich zwischen einer Vergangenheit erlaubt, in der 95% der Bevölkerung aufgrund des agrarischen Abhängigkeitsgesetzes namenlos, ohnmächtig und in ihrer physischen Existenz regelmäßig gefährdet waren, und einer fossilen Gegenwart, wo dieses Gesetz nach vielen Jahrtausenden zum ersten Mal außer Kraft geriet.

Obwohl zahlenmäßig auf ein Vielfaches angeschwollen,

haben die Massen, die früher ausschließlich zum Dienst einer Minderheit taugten, sich aus dieser sklavenartigen Unterwürfigkeit befreit. Heute haben sie nur noch ausnahmsweise den Hungertod zu befürchten; viele von ihnen erkämpften sich mit der Zeit Rechte, von denen ihre Vorfahren nicht einmal zu träumen wagten. Die nüchternen Zahlen dieser Entwicklung habe ich oben bereits angeführt. Lebenserwartung, Gesundheit, Bildungszugang und allgemeiner Lebensstandard haben sich im 19. bis 20. Jahrhunderts stetig verbessert. Große Hungersnöte traten nur noch zu Beginn dieser beiden Jahrhunderte auf (damit ist leider durchaus nicht gesagt, dass sie in Zukunft nicht wieder auftreten können); Mord und Totschlag gingen zurück, und die Zahl der Kriegsopfer war – in Anteilen der Gesamtbevölkerung gemessen – selbst im blutigen 20. Jahrhundert weniger groß als in vielen sogenannten primitiven Gesellschaften.

Aber warum hört man aus der Vergangenheit so viel weniger Klagen

und in der Gegenwart so sehr viele mehr? Ich denke, dass der Grund offensichtlich ist. Hätten die unterdrückten Massen damals eine Stimme gehabt, dann würde die Weltgeschichte bis heute von ihren Wehklagen widerhallen. Aber sie hatten keine Stimme; in der ganzen Welt blieben die Massen stumm, weil sie weder lesen noch schreiben konnten. Erfunden wurde die Schrift überhaupt erst im vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, aber selbst im spätmittelalterlichen England von 1530 wurden in einer Bevölkerung von fünf Millionen nur etwa 26 000 Knaben in der Kunst des Schreibens unterwiesen – also gerade einmal ein halbes Prozent (Durant)! Weltweit war diese Fähigkeit auf die oberen Zehntausend beschränkt – in der Regel nicht mehr als fünf Prozent der Bevölkerung; die aber nahmen eine gehobene Stellung an der Spitze der sozialen Pyramide ein und pflegten deshalb eher mit ihrer Lage zufrieden zu sein. Aus diesem und aus keinem anderen Grund ist die Geschichtsschreibung der Vergangenheit weitgehend auf Goldgrund gemalt, stammt sie doch beinahe ausschließlich von den Profiteuren jenes Systems..

Das sollte sich allerdings schlagartig ändern,

als die fossile Revolution zum ersten Mal in der Geschichte das Wunder vollbrachte, die unteren 95% aus ihrer dienenden Stellung und ihrem Analphabetismus zu befreien. In großem Maßstab wurden nun Bildungsinstitutionen geschaffen, welche in kurzer Zeit nahezu sämtlichen Menschen das Lesen und Schreiben ermöglichten. Und so kam, was von vornherein zu erwarten war: Kaum, dass die Menschen ihre Situation zu kommunizieren vermochten, ließ sich ein Chor der Wehklagen vernehmen, erst in Europa selbst, wo die fossile Revolution begann, und schließlich in der gesamten globalisierten Welt, wohin die europäische Aufklärung reichte.

Denn bis dahin hatten die unterdrückten Massen ja auch deswegen stillgehalten, weil Priester wie Fürsten ihnen mit Erfolg einzureden vermochten, dass Gott oder eine göttliche Ordnung ihnen das Dasein von Knechten verordnet und umgekehrt ihren Herren die Gnade der Herrschaft zugeteilt hatte. Nun gelang es den Aufklärern, allen voran Voltaire, eben diese göttliche Ordnung in Frage zu stellen. Die soziale Hierarchie von oben und unten sei, so ihre Botschaft, nur menschengemacht und beruhe daher auf Willkür, der sich niemand mehr fügen solle und brauche. Die Französische Revolution sprach allen Menschen die gleichen Rechte zu, und der englische Sozialphilosoph Jeremy Bentham sogar das gleiche Anrecht auf Glück.

Eine Lawine von Ressentiment

Die Wirkung dieser Botschaft war explosiv: sie äußerte sich in einem gesteigerten Bewusstsein für persönliches Unglück. Jeder, der von da an in seinem Leben nicht diejenige Stellung oder jenes Ausmaß von Glück erreichte, auf das er einen Anspruch zu haben glaubte, konnte sich nun nicht mehr damit trösten, dass der Herrgott selbst es so und nicht anders gewollt, sondern es waren jetzt die anderen Menschen– oft ganz konkrete Personen -, die seinem Glück im Wege standen. Die Befreiung des Menschen aus jahrtausendealter Unmündigkeit erhöhte nicht etwa die allgemeine Summe des Wohlbefindens, sondern setzte eine Lawine von Neid und Ressentiment in Bewegung. Das war vorher beinahe undenkbar gewesen. Der Neid eines einfachen Bauern auf einen Fürsten wäre nicht nur lächerlich gewesen, sondern man hätte darin sogar einen Frevel gesehen, solange eben jedermann glaubte, dass dem einen wie dem anderen sein jeweiliger Platz aufgrund göttlichen Ratschlusses zugeteilt sei. Doch Neid und Ressentiment waren nun an der Tagesordnung. Jeder intelligente, aufstrebende Mensch der unteren Schichten, der in der neuen Gesellschaft den Zugang zur Bildung erhalten hatte, quälte sich und seine Mitmenschen nun mit der Frage, warum andere, oft nur aufgrund von Erbschaft oder Glück, ihm den Weg nach oben versperrten?

Der Ausbruch aus der unverschuldeten Unmündigkeit

Zweifellos war es ein auf Bildung begründeter Wettbewerb, der den unteren 95% zum ersten Mal in der Geschichte den Ausbruch aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit erlaubte, doch in diese Befreiung war von Anfang an Gift gemischt. Denn in den seltensten Fällen war der einzelne mit der von ihm im Wettbewerb erreichten Lebensstellung zufrieden. Der Herrschaft Gottes hatten sich die Menschen wie unter ein unabwendbares Schicksal gebeugt, doch seitdem die Aufklärer Gott zu einer menschlichen Illusion erklärten, erschien ihnen jede Art von Herrschaft auf einmal als unerträglich. Nun wusste man: Das sind ja auch nur Menschen, noch dazu oft irgendwelche zu Unrecht privilegierten, die sich die Herrschaft über mich andere ihrer Mitmenschen anmaßen. Man höre etwa den Philosophen und Ökonomen Pierre-Joseph Proudhon, der erste, der sich selbst zum „Anarchisten“ (d.h. zum Feind aller Herrschaft) erklärte. In seinen „Bekenntnissen eines Revolutionärs“ von 1849 sagte er: „Wer immer seine Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, der ist ein Usurpator und Tyrann.“ Die Revolution bestand für Proudhon darin, dass kein System Herrschaft über Menschen ausüben dürfe, sei es das der Monarchie, der Aristokratie, ja nicht einmal die Demokratie im Namen des Volkes, ja überhaupt keinerlei Autorität, nicht einmal eine populäre.

Écrasez l‘infâme

Mit dem generellen Verbot der Herrschaft von Menschen über andere Menschen sprach Proudhon eine Forderung aus, die ein grundlegend verwandeltes Verhältnis der aufstrebenden Massen gegenüber der Politik charakterisierte. Das änderte freilich nichts daran, dass Herrschaft weiterhin eine Tatsache war. Daher ließen viele es nicht bei bloßem Misstrauen bewenden, sondern forderten ihre gewaltsame Beseitigung. Der russische Anarchist „Bakunin trieb die romantisch-liberale Auffassung von individueller Autonomie auf die Spitze, als er Freiheit mit freudiger Bereitschaft zur Zerstörung identifizierte“. Und Richard Wagner, sein Zeitgenosse, war nicht nur in der Musik ein Revolutionär, er wollte diese Rolle auch als politisch handelnder Mensch übernehmen. Als 1848 das Fieber der Revolution neuerlich ganz Europa ergriff, schrieb er: „Ich wünsche die Herrschaft der einen über die anderen zu brechen… – die Macht der Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums“. Wagner war ein höchst empfindsamer Mann, deswegen empfand er es als umso schmerzhafter, dass er während seines Aufenthalts in Paris unbekannt und ungewürdigt blieb, während ein jüdischer Komponist wie Giacomo Meyerbeer im Rampenlicht der öffentlichen Beliebtheit stand. Diese Kränkung schlug sich bei Wagner in Tiraden des Hasses nieder, in denen sich intensiver Neid und Ressentiment unverkennbar bekunden. Paris wurde für ihn zum Inbegriff persönlichen Misserfolgs. 1850 schrieb er die furchtbaren Zeilen: „Ich glaube an keine andere Revolution als eine, welche mit der Niederbrennung von Paris beginnt.“ Und Wagner war es auch, der eine der furchtbarsten Hetzschriften gegen die Juden schrieb. Solche Ereignisse sollte man nicht übergehen, denn sie enthalten eine wichtige Lehre. Wenn schon eine Zelebrität wie Richard Wagner sich dazu verleiten ließ, persönliche Unzufriedenheit in wüsten Ressentiments aufflammen zu lassen, dann ist leicht zu verstehen, warum der mit dem 19. Jahrhundert einsetzende globale Alphabetismus einen Tsunami an Ressentiments nach sich zog.

Kassandras gegen den Optimismus des Fortschritts

Im Allgemeinen überwog dennoch die gegenteilige Position. Angefangen von Voltaire über die Enzyklopädisten und Friedrich Hegel bis zu Herbert Spencer berauschte sich das Europa des 19. Jahrhunderts an einem Fortschritt, der es in kurzer Zeit zum Herrn der Welt erhob – eine Stellung, an der die wenigsten damals etwas auszusetzen hatten. Insgesamt war es eine Minderheit, welche künftiges Unheil und den Verfall beschwor. Zu den Kassandras gehörten neben den deutschen Romantikern vor allem Karl Marx und Friedrich Nietzsche, aber ebenso Giuseppe Mazzini in Italien sowie in Russland Alexander Herzen sowie der schon zuvor genannte Bakunin. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts prophezeite Herzen „einen fürchterlichen Kataklysmus… Von täglicher Mühsal überwältigt, von Hunger geschwächt und von Unwissen verblödet,“ seien die Massen lange Zeit „die unwillkommenen Gäste des Lebensfestes“ gewesen und ihre „Unterdrückung die unabdingbare Voraussetzung für das privilegierte Leben einer Minderheit.“ Das wäre eine völlig richtige Diagnose im Hinblick auf die Vergangenheit gewesen, aber Herzen wollte seine Aussage auf die Zukunft bezogen wissen.

Pankaj Mishra

Es ist das Vorrecht von Außenseitern, dass sie nicht selten einen schärferen Blick für die seelisch-geistigen Befindlichkeiten anderer Kulturen besitzen als die in ihnen lebenden Menschen. In seinem brillant geschriebenen Buch „Age of Anger“ (Zeitalter des Zorns) hat der indische Autor Pankaj Mishra eine Kritik der europäischen Aufklärung und ihrer Gegenströmungen vorgelegt, deren Tenor eindeutig ist: Mishra hält das Projekt der Aufklärung für gründlich gescheitert. Dass mag verwundern, weil das neunzehnte Jahrhundert – vor allem in seiner zweiten Hälfte – von einer wahren Euphorie des Fortschrittsglaubens beflügelt war, ein Glaube, der außerhalb des Westens selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus nicht verklungen ist – man denke etwa an China, das sich gegenwärtig in einem wahren Fortschrittstaumel befindet. Darüber schweigt das Buch; es lässt fast nur die Stimmen von Zweifel, Widerstand bis hin zur Zerstörungswut zu Worte kommen, also Stimmen, die der gegenwärtig vorherrschenden Seelenlage westlicher Leser entsprechen.

 Die Darlegungen des „Age of Anger“ erscheinen auf den ersten Blick bezwingend

Die Verlierer des Fortschritts hatten im angehenden neunzehnten Jahrhundert ja genauso zu leiden wie gegenwärtig die Nachzügler in Asien oder Afrika. Doch bei näherem Hinschauen wird dem Leser die Einseitigkeit des Autors ebenso bewusst wie die der von ihm vorzugsweise zitierten Autoritäten. In Europa war es Jean-Jacques Rousseau, der als erster seine Stimme gegen die Aufklärung erhob, die er des Betrugs und der Täuschung bezichtigte. „Sein Ideal war das kleine, strenge, selbstgenügsame, eifernd patriotische, herausfordernd unkosmopolitische und unkommerzielle Sparta.“ Gewiss, doch schon an dieser Äußerung, gegen die Mishra keine Einwände erhebt, wird die ganz unhistorische Vorgangsweise Rousseaus und vieler seiner geistigen Nachfolger deutlich. Sparta war der Ausbeuterstaat schlechthin, ein Staat, wo fünf Prozent einer selbst ernannten Herrenrasse von Analphabeten ein gnadenloses Regiment von Mord und Erpressung über 95% der von ihnen unterworfenen Ureinwohner, die Heloten, ausübte. Über diese verschwindende Minorität wissen wir dank Platon und Thukydides sehr gut Bescheid, aber die 95% geknechteter Bauern waren der Rede nicht wert und blieben selbst so stumm wie ihre Brüder und Schwestern überall auf der Welt, die in allen großen Agrarkulturen weder schreiben noch lesen konnten. Sie haben uns aber einzig deshalb kein Zeugnis von ihrem Leid hinterlassen, weil sie als Analphabeten es nicht zu hinterlassen vermochten. Und einzig aus diesem Grund haben sich geschichtsblinde Theoretisierer wie Rousseau dazu versteigen können, in Sparta das Vorbild einer idealen Gesellschaft zu sehen.

In der Idealisierung eines Bauerntums,

das bis an die Schwelle der Neuzeit zu stummem Leiden verurteilt blieb, sind Anarchisten wie Alexander Herzen oder Michail A. Bakunin ihrem Vorbild Rousseau blind gefolgt: „Die bäuerliche Gemeinschaft, selbstversorgend und sittenstreng könnte uns den wirklichen Pfad in Richtung einer freien und gleichen Gesellschaft weisen… Russische Autoren von Herzen bis zu Tolstoi verurteilten immer wieder die Besessenheit des westlichen Bürgertums von privatem Eigentum, dem hielten sie den russischen Muzhik als eine bewundernswert altruistische Erscheinung entgegen.“ Selbst Schriftsteller wie Tolstoi oder Dostojewski, die es eigentlich besser wussten, haben zu dieser Idealisierung geneigt, obwohl die Bauern gerade vom russischen Adel besonders gnadenlos unterdrückt worden sind.

Aller Evidenz zum Trotz hat Rousseau

sogar vorauszusehen gemeint, dass die Menschen Gott dereinst darum anflehen werden, ihnen „ihre Unwissenheit, ihre Unschuld und ihre Armut zurückzugeben, denn das seien die einzigen Güter, die uns glücklich machen.“ Dagegen erfülle „unersättlicher Ehrgeiz, die Begierde, ihren jeweiligen Besitz zu mehren, und zwar nicht so sehr aufgrund von Entbehrung, sondern um andere zu überrunden, die Menschen mit der verderblichen Neigung, anderen Schaden zuzufügen.“

Wie der Naive Humanismus die Geschichte verfälscht

Pankaj Mishra, dem ich die vorangehenden Zitate verdanke, schließt sich der Meinung seiner Kronzeugen an. Er verkündet, dass „die Geschichte der Modernisierung im Großen und Ganzen auf Blutvergießen und Chaos beruhe statt auf friedlicher Übereinkunft.“ Diese Auffassung ist zwar einerseits völlig richtig, denn zu keinem Zeitpunkt sind die beiden vergangenen Jahrhunderte frei von Krieg, Not, sozialen Wirren und ökonomischen Rückschlägen gewesen. Aber sie ist andererseits völlig falsch, sobald man zu einem Vergleich übergeht, nämlich mit der Vergangenheit vor der fossilen Ära. Krieg, soziale Wirren und ökonomisches Elend waren gerade vor der fossilen Epoche endemisch und ihre Auswirkungen waren ungleich größer und unheilvoller. Selbst nach der Abschließung gegen die Außenwelt, also nach der Vereinigung der Streitenden Reiche, wurde China – die bis ins 18. Jahrhundert weltweit wohlhabendste Agrarkultur – regelmäßig von Hungersnöten verwüstet, deren Opfer natürlich in erster Linie die fronende Bauernschaft war. Harmonie wurde von oben gepredigt, aber sie entsprach niemals der Realität.

Drei Beispiele: Die Verwüstung Indiens, Muhammad Tughlak und Rajasinghe II

Die Zustände in anderen großen Agrarkulturen waren für eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit eher noch schlechter als in China, wie ich an drei willkürlich gewählten Beispielen ganz kurz illustrieren möchte. In „Masse und Macht“ hat Elias Canetti die Zustände an einem indischen Fürstenhof des 14. Jahrhunderts aufgrund der Zeugnisse zweier muslimischer Gelehrter aus jener Zeit beschrieben (Ibn Battuta und Ziauddin Barani). Unter der Herrschaft des Sultans von Delhi, Muhammad Tughlak, erreichte das Sultanat eine Ausdehnung, die es danach erst zweihundert Jahre später – unter dem Mogul-Herrscher Akbar – erneut zu erlangen vermochte. Der Sultan war insofern eine herausragende Gestalt, als man in ihm ein Muster umfassender Bildung und ästhetisierender Feinsinnigkeit sah, aber zugleich war er eine Bestie in Menschengestalt, denn seine Liebe zu Grausamkeiten war kaum zu überbieten. Jeder, der ihn besuchte, musste zunächst einmal die zu Haufen aufgetürmten Leichen der Hingerichteten passieren, die den Pfad zum Tor des Palastes säumten, wo die Körper stets drei Tage lang für jedermann sichtbar waren. Jeden Tag wurden Hunderte von Leuten in Ketten, mit gefesselten Händen und Füßen vor ihn gebracht. Die einen wurden hingerichtet, die anderen gefoltert, die dritten geschlagen. Der dauernde Aufruhr gegen den Herrscher war durchaus verständlich, denn wie nahezu jeder Fürst vor Anbruch der Neuzeit hielt es auch Muhammad Tughlak für sein gottgegebenes Recht, aus seinen Untertanen so viel Steuern wie möglich herauszupressen. Diese waren schon unter seinen Vorgängern sehr hoch gewesen, unter ihm aber wurde die Steuerlast noch vergrößert, wobei deren Eintreibung mit so rücksichtsloser Grausamkeit erfolgte, dass die Bauern zu Bettlern wurden. Wer unter den Hindus etwas besaß, verließ sein Land und schlug sich in die Dschungel zu den Rebellen, von denen es kleinere oder größere Trupps bald überall geben sollte. Der Boden lag brach, immer weniger Getreide wurde produziert. Es kam zu einer Hungersnot in den Kernprovinzen des Reiches.

Die Zerstörung Indiens durch den Islam

Das Schema von herrscherlicher Willkür, der vor allem die Massen der wehrlosen Bauern zum Opfer fielen, ist bezeichnend, denn es wiederholte sich damals überall auf der Welt. Hinzu kamen aber noch religiöse Kämpfe zwischen den das Land seit dem 9. Jahrhundert erobernden muslimischen Invasoren und den heimischen Hindus. Gerade Indien liefert dafür ein besonders trauriges Beispiel. Heute denken wir nur an die wunderbaren architektonischen Monumente, die der Islam gerade in Indien hinterlassen hat, oder wir denken an den Mogul-Herrscher Akbar den Großen, eine der wohl bewundernswertesten und humansten Fürstengestalten aller Zeiten, aber das entsetzliche Unglück, die furchtbaren Verwüstungen, die der Islam in den ersten Jahrhunderten seiner Herrschaft anrichtete, werden meist ausgeblendet. „Die muslimische Eroberung Indiens,“ so sagte es der große US-amerikanische Historiker Will Durant, „ist wahrscheinlich das blutigste Ereignis der Weltgeschichte. Es ist eine entmutigende Geschichte, weil es die offensichtliche Einsicht vermittelt, dass die Zivilisation stets gefährdet ist.“ Von Muhammad Tughlak war schon die Rede. Von einem seiner Nachfolger Sultan Ahmad Shah ist überliefert, dass er jedes Mal drei Tage lang feierte, wenn die Zahl der an einem Tag hingeschlachteten Hindus die Marke von zwanzigtausend übertraf.

Dabei hat es durchaus Stimmen gegeben, die den Herrschern „ins Gewissen geredet“ haben

Aber gegen das religiös-ideologische  Pseudogewissen (hierzu später) und die Verlockung schneller Beute kamen sie nicht an. Ein christlicher Papst hat sich für die Verbrechen des Christentums entschuldigt, aber von Seiten der höchsten Vertreter des Islam wartet man immer noch auf eine vergleichbare Äußerung. „Hat man jemals davon gehört,“ fragt der Althistoriker David Engels, „dass ein Direktor der Universität Al Azhar (die größte Autorität der Sunniten) sich im Namen des Islam für die brutale Unterdrückung des Hinduismus entschuldigt habe, von der Indien zwischen 1000 und 1500 unserer Zeitrechnung heimgesucht wurde, wodurch sich die Bevölkerung dort um 80 Millionen Menschen verringerte – ein Ereignis das zu den »blutigsten der Weltgeschichte« zählt?“

Robert Knox und das Ceylon des 17. Jahrhunderts

Extreme Willkür in der Ausübung von Herrschaft war vor der fossilen Revolution ein gemeinsames Merkmal aller großen Agrarkulturen, selbst dort, wo der friedliche Buddhismus den Ton angab, zum Beispiel in Ceylon. Auch in diesem Fall besitzen wir das Zeugnis eines Beobachters, der keinen Grund hatte, der herrschenden Macht nach dem Mund zu reden. Im 17. Jahrhundert geriet ein Engländer namens Robert Knox von 1659 bis 1678 in die Gefangenschaft des Königs von Kandy Rajasinghe II. Weil der König die Weißen, die an der Küste bereits die ersten Forts errichtet hatten (erst Portugiesen, dann Holländer), für Menschen einer stärkeren Rasse hielt, ließ er die Gefangenen von den Untertanen auf deren Kosten durchfüttern und wies ihnen heimische Frauen zu, damit sie zwecks Aufbesserung der eigenen Rasse möglichst viel Nachkommenschaft produzierten. Knox hat dem Land zwar keine Kinder geschenkt, stattdessen hinterließ er der Nachwelt das überaus farbige Gemälde einer hochentwickelten Agrarkultur vor ihrer Eroberung durch die Engländer. Er schildert ein Land, in dem die Frauen durch entsprechende Praktiken ihre Kinderzahl begrenzten, so dass der Bevölkerungsdruck auf die Ressourcen offenbar nicht allzu groß werden konnte. „Oft töten sie die Neugeborenen, aber selten die erste Geburt.“ Die Gesellschaft war durch Kastenschranken streng gegliedert, wobei den Bauern wie überall sonst die Aufgabe zufiel, sich selbst und die oberen zehn Prozent zu ernähren. Wer eine Schuld aufnahm, die er nicht zurückzahlen konnte, sank auf die Stufe eines Sklaven hinab – da Schulden nach zwei Jahren auf das Doppelte wuchsen, war dieser Fall durchaus häufig. Die Gesellschaft ließ keinen Aufstieg von Individuen zu, denn niemand konnte die ihm durch das Kastensystem zugewiesene Stellung verlassen. Der buddhistische König lebte allerdings in beständiger Furcht vor Aufruhr und Verrat seiner Untertanen, deswegen hielt er sich durch Grausamkeit und Unberechenbarkeit an der Spitze, wobei er ganz wie später der Gewaltherrscher Stalin gerade jene in seinem Umkreis begünstigte, die er vernichten wollte. Verschiedene Prozeduren der Tortur und Zertrampeln durch Elefanten spielten dabei eine besondere Rolle, aber schlimmer als selbst die grausamste Todesart galt die Vernichtung der sozialen Würde, wenn der König die Frauen oder Töchter seiner Opfer der untersten Klasse der Bettler gleichsam zum Fraß vorwarf und deren Familien dadurch für alle Zeit entehrte (Knox 1681).

Die Blindheit der naiven Humanisten für die Vergangenheit

Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob es den Ceylonesen zu jener Zeit wesentlich schlechter ging als den Engländern des 17. Jahrhunderts, das eine Zeit blutigen Bürgerkriegs war. Doch angesichts der äußersten Willkür, der selbst die höchsten Würdenträger unter einem absoluten Fürsten ausgesetzt waren – von der Masse der Bevölkerung ganz zu schweigen – ist es kaum zu begreifen, dass ein hochgebildeter Autor wie Pankaj Mishra diese Vergangenheit einfach verschweigt, um dann mit Rousseau und vielen anderen Kritikern der Moderne die Gegenwart so darzustellen, als wäre damit ein bisher unerreichtes Ausmaß von menschlichem Leid verwirklicht. Zustimmend zitiert er Michel Foucault, in dessen Worten der kapitalistische Westen, “die härteste, grausamste, selbstsüchtigste, verlogenste und ausbeuterischeste Gesellschaft“ repräsentiert, „die sich überhaupt denken lasse.“ Das ist schlicht und einfach eine grobe historische Unwahrheit.

Anders als Pankaj Mishra behauptet,

ist die Geschichte der Modernisierung im Großen und Ganzen von viel weniger Blutvergießen und Chaos begleitet als die Geschichte der großen Agrarzivilisationen vor der fossilen Revolution. Das ist umso bemerkenswerter, als die Zahl der Menschen sich innerhalb von nur dreihundert Jahren zu verzehnfachen droht. Dass in dieser unkontrollierten Vervielfachung unserer Art eine der größten Gefahren liegen könnte, gerät den Kritikern der Moderne im Allgemeinen gar nicht erst in den Blick. Stattdessen lauschen sie dem allgemeinen Wehgeschrei, denn diese Milliarden können sich, wie schon gesagt, mit ihren Klagen viel besser Gehör verschaffen, weil sie inzwischen fast alle sowohl lesen wie schreiben können. Nicht wenige Intellektuelle, die persönlich in abgesicherten Verhältnissen leben, reden sich in zahllosen Büchern über Missstände in Rage, die früheren Zeiten nicht einmal der Rede wert erschienen wären.

Die Kritik an den Versprechungen der Aufklärer

ist inzwischen so alt wie diese selbst, nämlich bald dreihundert Jahre. Der außerordentliche Fortschritt, den man den Propheten der Vernunft verdankt, wird dabei oft übergangen oder auch schlicht übersehen, weil er inzwischen so selbstverständlich erscheint. Gegen Beginn des zwanzigstens Jahrhunderts standen fast allen Bürgern – bald auch den Frauen – sämtliche Stellungen offen, welche eine Gesellschaft vergeben konnte. Daraus hätte die erste wirklich klassenlose Gesellschaft der Geschichte hervorgehen können. Denn das Ideal, wie es die Aufklärer formulierten, sah ja ausdrücklich vor, dass über die Befähigung zu einem erstrebten Posten allein die Leistung eines Individuums entscheiden sollte. Im Prinzip sollte der Wettbewerb die Karten in jeder Generation aufs Neue mischen, so dass niemand aufgrund der Geburt, zum Beispiel nur deshalb weil er reiche Eltern besaß, in eine höhere Stellung gelangt. Doch schnell zeigte sich, dass die Reichen weiterhin ihren Kindern die besseren Posten verschafften und immer reicher wurden, eben weil ihnen der Reichtum dafür die besseren Voraussetzungen bot. Doch ist das gerade kein Argument gegen die Aufklärung und deren Sinn für Gerechtigkeit, sondern beweist nur, dass es nicht gelang, die Last der Vergangenheit abzuschütteln. Nicht die Aufklärung hat versagt, sondern deren Verwirklichung.

Nur eine Art von Entwicklung wäre noch radikaler gewesen

als diejenige, welche die Aufklärer von Voltaire über Diderot und d’Alembert bis zu Kant und Hegel ins Auge fassten, nämlich eine  Gleichbehandlung aller Menschen ungeachtet ihrer Fähigkeiten (und damit auch ohne Wettbewerb), so wie sie im Nukleus der Familie vermutlich seit Beginn der Menschheitsgeschichte die Regel war: Eine Mutter liebt ihre Kinder, ganz gleich ob sie stark oder schwach sind, dumm oder intelligent. Das war gleichermaßen das Ideal, welches Marx vorschwebte. In der klassenlosen Gesellschaft, wie er sie verwirklichen wollte, „gab jeder nach seinen Fähigkeiten und nahm gemäß seinen Bedürfnissen.“

 Wir wissen heute,

dass es eine solche familienähnliche Solidarität in vielen kleinen Gesellschaften tatsächlich gab, angefangen bei den Jägern und Sammlern bis zu einigen frühen Gartenkulturen wie z.B. den Zuni. Aufgrund des agrarischen Abhängigkeitsgesetzes wurde sie allerdings nie in den großen Agrarkulturen verwirklicht – jedes Experiment dieser Art ist bisher blutig gescheitert: mit Millionen von Toten zuletzt in der Kulturrevolution, der Mao das chinesische  Milliardenvolk in den zehn Jahren zwischen 1966 und 1976 unterwarf. Ganz und gar undenkbar aber ist ein strikter Egalitarismus in der Ära der Streitenden Reiche, wo jede Nation Talent und Willenskraft aufs Höchste zu steigern trachtet. In solchen Zeiten werden alle Leistungen, welche einen Vorteil im Wettbewerb und Überlebenskampf versprechen, im Gegenteil besonders betont und belohnt, also vor allem ökonomisches Können und militärische Erfindungskraft. Wettbewerb spielt dann eine so beherrschende Rolle, dass er auch von denen, die ihm ihren Aufstieg verdanken, nicht mehr als Chance gesehen wird, sondern nur noch als ein zerstörerischer Kampf alle gegen alle. Heute leben wir – nicht anders als die Menschen der Achsenzeit vor zweitausend fünfhundert Jahren – wieder in einer Ära der Streitenden Reiche. Genau darin liegt – wie eine der Hauptthesen dieses Buches besagt – das eigentliche Problem unserer Zeit (das aber Kritiker der Moderne angefangen von Rousseau bis zu Pankaj Mishra geflissentlich verdrängen und übersehen).

Auszug aus meinem (bisher noch ungedruckten) Buch: Auf der Suche nach Sinn und Ziel der Geschichte – Leben in der Ära der Streitenden Reiche. Englische Version im Netz aufrufbar ( “In Search of Meaning and Purpose in History„.)