Ja oder nein – lernt der Mensch aus der Geschichte?

Die Frage ist umstritten und scheint doch eine schnelle Antwort zu gewähren: Bei oberflächlicher Betrachtung ist der Mensch das aus der Geschichte lernende Wesen schlechthin. Wer sich die Finger am Feuer verbrennt, hält sie gewiss nicht zum zweiten Mal in eine Flamme. Wer den Samen aufgehen sieht, nachdem er ihn in die Erde säte, hat die Grundzüge der neolithischen Revolution begriffen und damit den Grundstein für jenen gewaltigen Bau des kumulativen Wissens gelegt, der nur in einer Gesellschaft des Lernens entstehen konnte, wo sich das begrenzte Wissen einzelner Individuen zu kollektivem Wissen in Raum und Zeit addiert. Nur aus Erfahrung wird der Mensch klug; die Geschichte, aus der er Erfahrung schöpft, bildet die Grundlage aller Erkenntnis und allen Fortschritts.

Lernen verweigert!

Andererseits ist es ein Faktum, dass in einigen Ländern des Westens die meisten Ehen im Schnitt nicht länger als drei oder vier Jahre währen und dass es um die Liebe überhaupt schlecht bestellt ist – trotzdem beginnt jede Generation von neuem Beziehungen einzugehen und Heiraten sind nach wie vor beliebt, auch wenn sie sich immer mehr in Richtung der seriellen Monogamie entwickeln. Es ist ein weiteres Faktum, dass selbst in Staaten, wo Kriege den Menschen ein Schicksal in Not und Elend verheißen, Frauen weiterhin Kinder gebären. Und es gehört zu den unbestreitbaren Fakten, dass der Mensch durch übermäßige Nutzung der natürlichen Ressourcen ganze Landstriche in Wüsten verwandelt hat oder sie durch Versalzung für die Landwirtschaft unbrauchbar machte. Dennoch scheint er entschlossen, auch in diesem Punkt nichts aus der Geschichte zu lernen, denn heute betrifft der ökologische Raubbau an der Natur zur gleichen Zeit das nutzbare Land, die überfischten Meere und eine durch CO2 überlastete Atmosphäre. Müssen wir da noch die schlimmste unserer Resistenzen gegen das Lernen erwähnen, die Tatsache nämlich, dass sämtliche Staaten, die es sich leisten können (und viele andere mehr, die es sich nicht einmal leisten können) ihr Arsenal an Waffen beständig erweitern, und zwar vorzugsweise um solche der Massenvernichtung, obwohl wir aus der Geschichte wissen, dass Waffen nie gehortet, sondern zwangsläufig irgendwann auch eingesetzt wurden – schon deswegen, weil die sie produzierenden Industrien sonst bankrott gehen und ihre Kapitalgeber keinen Gewinn machen würden? Selbst die apokalyptische Drohung mit Atom- und Nuklearsprengköpfen, also mit Waffen der ultimativen Ausrottung der gesamten menschlichen Spezies, hat nichts daran zu ändern vermocht, dass Menschen aus der Geschichte nichts lernen wollen.

Der Riss zwischen Homo und sapiens

Spätestens an dieser Stelle sollte jeder begreifen, dass der Mensch von Natur aus ein gespaltenes, schizophrenes Wesen ist, ebenso fähig, sein kollektives Wissen durch Erfahrung ins Unendliche auszuweiten, wie gleichzeitig dazu imstande, alle Erfahrung, mag diese noch so eindeutig sein, völlig zu ignorieren, falls sie in Konflikt mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen steht.

Das hat sogar einen biologisch gewollten Sinn. Jede neue Generation erobert sich eine neue Welt, die für sie die erste und einzige ist, weil sie nur diese aus eigener Anschauung kennt. Mögen die Alten ihr ein Leben ohne Rente und feste Arbeitsplätze bescheren – das ist ihre Welt, da wird sie hineingeboren, um für sich daraus das Beste zu machen. Mögen die Alten ihr eine zerstörte Natur hinterlassen, allen Lebens so bar wie die Sandwüsten der heißesten oder die Eiswüsten der kältesten Regionen, dann wird sie eben Sand- oder Eisformationen besingen wie die Inuits oder Tuaregs. Es ist ein biologisch angelegter Mechanismus der Wirklichkeits-Anverwandlung, der junge Menschen jeder neuen Generation befähigt, Geschichte gleichmütig oder auch brachial zur Seite zu schieben, um in ihrer je eigenen Welt Fuß zu fassen – ein Mechanismus, der, wie wir wissen, durchaus imstande ist, die größten kreativen Kräfte hervorzurufen. Nach der wohl verheerendsten Epoche der europäischen Geschichte, der schwarzen Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, kam einer der lichtesten Momente unserer Geschichte: die Renaissance. Morgenröte folgte unmittelbar auf äußerstes Elend und tiefste Nacht.

„Wir schaffen es“ – die Kraft, das Wirkliche dem eigenen Wollen zu unterwerfen und neue Geschichte zu schreiben, stößt freilich an Grenzen. In der Schlacht von „Wounded Knee“ glaubten die Sioux, den Kugeln der Weißen zu trotzen: Sie wähnten sich durch ihre Geistertanzhemden magisch geschützt. 1945 glaubten nicht wenige Samurai, mit Schwertern und unbeugsamer Willenskraft die Bomben der Amerikaner zu überwinden. Immer wieder verfielen Menschen dem Wahn, ihrem Wollen die Macht zuzuschreiben, selbst die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. „Wir schaffen es“, diese Parole wird dann zu einem wirklichkeitsfremden Zweckoptimismus, der ebenso oft an den Gesetzen der Natur wie an denen der menschlichen Psyche scheitert.

Wenn individuelle Rationalität kollektive Unvernunft bedeutet

Nicht nur vom Menschen selbst hängt es ab, wie er sich zur Erfahrung verhält, weit häufiger diktiert ihm die Letztere selbst sein Verhalten, weil er je nach der eigenen Lebenssituation ganz unterschiedliche Erfahrungen macht. So ist es zu erklären, dass ich im Sinne meiner je eigenen Geschichte völlig rational handeln kann und dennoch – und oft ohne es zu beabsichtigen – den größten Schaden für andere bewirke.

Das klassische Beispiel ist die Bevölkerungsproblematik. Ein indischer, anatolischer, marokkanischer, … Bauer handelt im Sinne seines privaten Wohlergehens ganz rational, wenn er möglichst viele (männliche) Kinder zur Welt kommen lässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines von ihnen in der Stadt gut verdienen und ihn im Alter erhalten wird, steigt mit jedem weiteren Familienmitglied. Dagegen gehört die Einsicht, dass er dadurch sein Land zu ewiger Armut verdammt, sollten alle so handeln wie er, nicht zu seiner unmittelbaren Erfahrung; selbst ein abstraktes, angelesenes Wissen von solchen Zusammenhängen wird ihn nicht davon abhalten können, seinem persönlichen Vorteil zu folgen.

Ein nicht weniger klassisches Beispiel ist die Kinderarmut im Rom der Kaiserzeit und in den heutigen Staaten des Westens. Wer in Rom zu den begüterten Schichten zählte, ließ sein Vermögen lieber durch gut ausgebildete Sklaven verwalten als dass er sich auf das Wohlwollen des eigenen Nachwuchses verließ. Sklaven gehorchten seinen Wünschen aufs Wort – wenn es sein musste, konnte er sie jederzeit durch bessere Fachkräfte ersetzen. Dagegen verursachten eigene Kinder nicht nur gewaltige Ausgaben, er musste zudem damit rechnen, dass sie sein Vermögen später verjubeln und ihm nichts als Ärger bescheren würden, den er dann ohnmächtig schlucken musste.

In unserer Zeit hat das staatliche Rentensystem die gleiche Wirkung erzielt: Sie hat den einzelnen Bürger unabhängig von der Versorgung durch die eigene Nachkommenschaft gemacht. Kein Wunder, dass es einer zunehmenden Zahl von Bürgern daher sinnvoller erscheint, als Single für einen materiell abgesicherten Lebensabend zu sorgen, als unter großen finanziellen Opfern eigene Kinder großzuziehen, die sie zum Dank für ihre Mühen später ins Altenheim transferieren.

Die Zeugungsbereitschaft indischer Bauern auf der einen und die Zeugungsverweigerung in den Staaten des Westens auf der anderen Seite sind streng symmetrisch. In beiden Fällen handeln die Individuen vom eigenen Standpunkt aus strikt rational, indem sie genau jenen Teil der Erfahrung berücksichtigen, der sie selbst und ihren materiellen Vorteil unmittelbar betrifft. Dagegen blenden sie jenen anderen Teil völlig aus, der die Gemeinschaft als ganze angeht: Diese schädigen sie durch ihr Verhalten. Das sind zwei Varianten der selektiven Vernunft, also der Unfähigkeit oder des Unwillens, aus der Geschichte zu lernen. Die eine bedroht den Globus mit einer Menschenschwemme von über sieben Milliarden, die zweite bedroht die Staaten Europas mit dem Aussterben ihrer Bevölkerungen (wobei freilich anzumerken ist, dass angesichts der Bevölkerungsexplosion die Kinderarmut westlicher Staaten das beste Rezept für den Globus wäre – allerdings nur, wenn es die ganze übrige Welt auch übernehmen würde).

Die Fallstricke der selektiven Vernunft

Selektive Erfahrung führt zu selektiver Vernunft – darin sehe ich das eigentliche Problem unserer Zeit, das sich in umfassender Weise auf allen Ebenen manifestiert. Das individuelle Auto erhöht die Mobilität jedes einzelnen Bürgers und damit seinen Lebensstandard, während es einen wachsenden Schaden für die Bevölkerung als ganze und für den Globus als ganzen bewirkt: verstopfte und verstunkene Städte, rasant fortschreitender Landschaftsverbrauch, Erschöpfung der Ressourcen, Bedrohung durch den Klimawandel.

Nicht einmal selektive Erfahrung muss in diesem Fall verantwortlich sein. Vermutlich sind sich die meisten Menschen der Industriestaaten der Folgen ihres Handelns durchaus bewusst – sie werden ja täglich darüber von den Medien unterrichtet. Doch kollektive Erfahrung bewirkt kein Lernen, wenn es in Konflikt mit den unmittelbaren Bedürfnissen steht. Der Verzicht auf das Auto würde ja nur dem Verzichtenden selbst Nachteile bringen, ohne dass die allgemeine Bedrohung dadurch vermindert wird – solange die Mehrheit nicht folgt, bleibt alles beim alten.

Das Leerfischen der Meere, die zunehmende Ersetzung der teureren heimischen Waren durch asiatische Billigprodukte, vor allem aber das uneingeschränkte Wachstum der Wirtschaft – all dies folgt dem Muster der selektiven Vernunft, die dem einzelnen nützt und dem Ganzen schadet. Ausreichendes Wissen ist durchaus vorhanden, aber es wird missachtet. Nur eine übergeordnete Instanz, die zum Wohle aller die selektive Vernunft genau da begrenzt, wo sie dieses Wohl heillos schädigt, vermag eine solche Entwicklung aufzuhalten.

Wettrüsten – ein Triumph der selektiven Vernunft

Diese übergeordnete Instanz, diese sichtbare Hand, welche die in all den genannten Fällen unsichtbare Hand des Adam Smith ersetzt, war und ist in jedem einzelnen Land der heute so oft und so gerne geschmähte Staat – nur er vermag im Sinne des Allgemeinwohls die selektive Vernunft der Einzelnen zu begrenzen. In dem grünen Weltraumschiff, auf dem wir, zu sieben Milliarden dicht aneinandergepresst, auf Gedeih und Verderb unserem kollektiven Schicksal entgegensehen, reicht der Einzelstaat jedoch längst nicht mehr aus. An der Rationalität der selektiven Vernunft einzelner Staaten droht die Menschheit als ganze zu scheitern. Zweifellos das erschreckendste Beispiel für den Unwillen aus der Geschichte zu lernen stellt das weltweite Wettrüsten dar.

Oder wird irgendjemand in Abrede stellen, dass jede Anhäufung von Waffen regelmäßig dazu führte, dass der Mensch diese Waffen schließlich zur Ermordung von Seinesgleichen gebraucht? Ein friedlicher Umgang mit Mordinstrumenten ist aus der bisherigen Geschichte schlechterdings nicht bekannt. Dennoch werden Waffen immer erneut und sogar in immer größeren Mengen und mit immer stärkerer Vernichtungskraft produziert. Überall auf der Welt, sei es im Westen, in China oder in Russland sind sich die Menschen einschließlich der sie lenkenden politischen Kaste der drohenden Gefahr eines Wettlaufs in Richtung Apokalypse durchaus bewusst. Aber es ergeht ihnen nicht anders als jedem von uns in der Rolle des Autofahrers. Der Verzicht auf die eigenen Bomben führt nur zu eigener Unterlegenheit und damit zu einem massiven eigenen Nachteil, solange nicht alle anderen dem Beispiel folgen – aus diesem Grunde verzichtet niemand, obwohl die Lehren aus der Geschichte gerade hier von unüberbietbarer Eindeutigkeit sind.

Ich vermag nicht zu erkennen, wie irgendwelche religiösen, psychologischen, sozialen oder sonstigen Forschungsergebnisse bzw. Erweckungserlebnisse die primitive Mechanik der selektiven Vernunft und damit auch den apokalyptischen Wettlauf beenden könnten. Eine wirkliche Änderung kann nur von einer Instanz ausgehen, welche dem Einzelwollen der Staaten Zügel anzulegen vermag. Immanuel Kant und Albert Einstein haben die Notwendigkeit einer solchen Instanz vorausgesehen (siehe Der kommende Weltstaat).