Dekadenz als politisches Phänomen

Nur mit größter Vorsicht sollte man das Wort Dekadenz verwenden. Zu sehr gleicht es einer Fallgrube, aus der einem moralinsaure Düfte entgegen strömen. Wie viele Politiker, von Diktatoren ganz zu schweigen, haben sich über den Sittenverfall ereifert, nur um daraus eine wirksame Waffe gegen ihre Gegner zu schmieden. Deswegen sei hier gleich zu Anfang betont, dass ich Dekadenz nicht in moralischem Sinne verstehe, sondern als ein politisches Phänomen.In moralischem Sinne hat unsere Zeit den erhobenen Zeigefinger glücklicherweise geächtet. Sofern Du mit Deinem Verhalten nicht anderen oder der Gesellschaft schadest, wird dieses als Privatsache akzeptiert. Deswegen ist die heute übliche Freizügigkeit sexueller Praktiken nur in den Augen der Ewig-Gestrigen ein Zeichen von Dekadenz – also als Sünde, Verfall und Vorzeichen baldigen Weltuntergangs zu verdammen. Davon soll hier keine Rede sein.

Ganz anders verhält es sich, wenn solche Freizügigkeit dem Machterhalt dient, da sie mehr oder weniger bewusst als Mittel der Massendomestizierung eingesetzt und missbraucht wird. „Sollen sie sich an dem Opium ihrer kleinen Lüste und Laster berauschen. Lassen wir ihnen die Narrenfreiheit, dann werden sie die Unfreiheit in allem für unseren Machterhalt Wesentlichen umso williger akzeptieren.“ Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater von Jimmy Carter, hatte das Gemeinte schon mit dem treffenden Wort ,Tittytainment‘ auf den Punkt gebracht. Im Rom der Kaiserzeit, das nach den Worten Theodor Mommsens von einer Handvoll Familien beherrscht worden ist, war diese Art der politischen Dekadenz traurige Realität. Das Volk wurde mit blutigen Spielen und einem (beinahe) bedingungslosen Grundeinkommen bei Laune gehalten. Die einzig damit verbundene Forderung: Die hauptstädtischen Massen hatten als verantwortliche Mitgestalter des Gemeinwesens abzudanken, ihre Stimme bedingungslos dem jeweiligen Brotherrn zu geben. So gelang es einer hauchdünnen ‚Elite’ an der Spitze des Staates, das Schicksal von Millionen nach eigenem Belieben diktatorisch zu lenken.

Genau das verstehe ich unter politischer Dekadenz: Private Freiheit und Freizügigkeit nicht als Ausweis staatsbürgerlicher Mündigkeit, sondern als manipulatives Machtinstrument, das bewusst zum Zweck der Ent-mündigung eingesetzt wird.

Vor Jahren schrieb Peter Bender ein Buch mit dem Titel: ‚Weltmacht Amerika – das neue Rom’. Der Parallelismus ist in der Tat unübersehbar. Nach den Worten Noam Chomskys werden die Vereinigten Staaten von einer Plutokratie beherrscht – das Personal von Kongress und Senat setzt sich in der Tat fast ausschließlich aus Dollarmillionären zusammen. Selbst der Economist macht kein Hehl aus dieser Rolle des Geldes in der amerikanischen Politik: „… money talks louder than ever in American politics. Thousands of lobbyists (more than 20 for every member of Congress) add to the length and complexity of legislation, the better to smuggle in special privileges. All this creates the impression that American democracy is for sale and that the rich have more power than the poor … “.*1*

Die amerikanische Demokratie hat sich an die Reichen verkauft – inzwischen darf man das ganz wörtlich verstehen. Präsidentschaftskandidaten werden nur scheinbar vom Volk gewählt. Denn zu Kandidaten werden sie erst und überhaupt auch nur dann, wenn ihnen die plutokratische Elite die nötigen Spenden für den immens teuren Wahlkampf gewährt. Mit anderen Worten: Erst wählt das Geld, dann darf sich das Volk zwischen den vom Geld gesiebten Kandidaten entscheiden. Demokratie wird zum bloßen Ritual abgewertet: In Wahrheit nickt das Volk die von oben gefällten Entscheidungen ab.

Weniger weit, wenn auch in gleicher Richtung hat sich die Europäische Union entwickelt. Auch hier droht ein neues Rom zu entstehen. „Schätzungsweise 20.000 Lobbyisten nehmen in Brüssel Einfluss auf die EU-Institutionen. Etwa 70 Prozent davon arbeiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Sie genießen privilegierte Zugänge zu den Kommissaren. Und sie überhäufen die Abgeordneten mit ihren Änderungsanträgen für Gesetzesvorlagen.“ Auf diese Weise ist in der neuen Hauptstadt des Alten Kontinents eine Verwaltungszentrale entstanden, die in erster Linie die Interessen des Geldes bedient. Statt alle Entscheidungen, die vor Ort gefällt werden können, subsidiarisch auch vor Ort verhandeln zu lassen, sind unter der Ägide Brüssels zunächst einmal die Provinz- oder Landtage der Staaten Europas zu bloßen Schwatzbuden verkommen, in denen fast nichts mehr entschieden wird; längst hat aber der gleiche Prozess auch ihre Parlamente erfasst, die sich in immer mehr Fragen entmündigen lassen. Wir haben es hier mit einer wirklichen Erosion der Demokratie zu tun, denn eine europäische Regierung benötigt nicht mehr Kompetenzen, als für ein geschlossenes Auftreten nach außen erforderlich ist: also nicht mehr als eine gemeinsame Außen-, Handels- und Verteidigungspolitik.

Die Stärke der amerikanischen Demokratie, wie sie von Alexis de Tocqueville vor anderthalb Jahrhunderten beschrieben wurde, lag gerade darin, dass die einzelnen Bundesstaaten und selbst die Gemeinden für alle Belange zuständig blieben, die sich am besten vor Ort regeln lassen. Nichts fürchtete man so sehr wie den Staat als Leviathan, der die ganze Gesellschaft auf ein und dasselbe Prokrustesbett presst. Max Weber sah die besondere Vitalität dieser demokratischen Selbstbestimmung in den zahlreichen amerikanischen Sekten (vor allem protestantischer Provenienz), die einst auf lokaler Ebene jene Funktionen wahrnahmen, die sehr viel später der zentrale Wohlfahrtsstaat übernehmen sollte. Die lokale Selbstbestimmung ging in den Vereinigten Staaten so weit, dass ein Krimineller sich in Sicherheit wiegen konnte, wenn er die Grenze seines Bundesstaates hinter sich ließ.

Diese vor Ort gelebte Demokratie gibt es heute nur noch in der Schweiz. Seit die USA zur Weltmacht wurden, spätestens aber seit Ende der siebziger Jahre, wurde das demokratische Prinzip schrittweise durch das plutokratische abgelöst. Leviathan in Gestalt eines allmächtigen Staates wacht über allen. Die umfassende Ausspionierung auch der eigenen Bevölkerung ist nur eines von vielen Symptomen für diesen grundlegenden Wandel.

Leider folgte die Vereinigung Europas von vornherein nicht dem basisdemokratischen Modell, von dem sich Tocqueville so sehr faszinieren ließ, sondern orientierte sich am Leitbild eines mächtigen Staats, wie er in Frankreich in einem bis auf die Revolution zurückgehenden linken Modell seinen Ursprung hat und in Deutschland in einer Tradition des rechten Autoritarismus wurzelt. Statt unter dem Dach eines gemeinsamen Europa den einzelnen Staaten bis hin zu den Bundesländern und Gemeinden größtmögliche Freiheit zu gewähren, wie es ihrer gewachsenen Vielfalt entspricht, wurde Brüssel von vornherein als Regulierungsbehörde erdacht, die sich das Recht nehmen durfte und sollte, von oben herab in alle Bereiche von Wirtschaft und Politik einzugreifen. Dass man auf diese Weise die lokale Selbstbestimmung aushöhlen und mit der Zeit ganz außer Kraft zu setzen würde, war abzusehen.

Demgegenüber hätte die Verständigung der Gemeinschaft auf eine gemeinsame Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik nach schweizerischem oder US-amerikanischem Vorbild die Brüsseler Uniformierungsbehörde nicht nur überflüssig gemacht, sondern sie hätte dafür gesorgt, dass man sie als das erkennt, was sie in Wahrheit ist: eine Gefahr für die echte, von unten gelebte Demokratie. Diese Einsicht scheiterte an dem Machtwillen der einzelnen Landesfürsten: Die Premiers und Kanzler in Frankreich, Deutschland, England etc. dachten gar nicht daran, eine Einschränkung ihrer Kompetenzen zu akzeptieren.

Das Resultat liegt heute offen vor Augen: Von einer ‚schlechten Linken’ wurde die Entwicklung Europas in die Bahn eines erstickenden Zentralismus gelenkt, denn für die zentrale Lenkung aller Lebensbereiche ist die Linke immer schon anfällig gewesen. Von einer ‚schlechten Rechten’ wurde dagegen nur auf einer Art Freiheit wirklich bestanden: der Freiheit von Privilegien und wachsender Ungleichheit. Damit hat die Vereinigung Europas einen ähnlichen Lauf genommen, wie sie die Weltmacht USA seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kennt: Staatsbürgerliche Entmündigung im Sinne einer schleichenden Entdemokratisierung. Die Auswirkungen dieser Politik lassen sich inzwischen auch am Bild unserer Städte und Landschaften erkennen, wo die Menschen zu bloßen Befehlsempfängern im eigenen Lebensraum werden. In zunehmendem Maße wird dieses Bild durch äußere Kräfte und Mächte bestimmt, gegen die der Bürger vor Ort machtlos ist: durch internationale Konzerne, Großinvestoren, Finanzinstitute etc. Auf der einen Seite sind auf diese Weise öde Agrarwüsten entstanden, punktiert von sich entvölkernden Gemeinden, auf der anderen Seite stetig anschwellende Metropolen, in denen die Menschen sich nur noch als geduldete Mieter fühlen. Kein Wunder, dass daraus ein Gefühl der Unzugehörigkeit, der Einsam- und der Machtlosigkeit resultiert. Solche Gefühle dürften heute nicht weniger intensiv und verbreitet sein als im alten Rom nach der Zeitenwende, als die republikanischen Institutionen nur noch als schöne Attrappen fungierten.

Robert Menasse glaubte ein Loblied auf die Brüsseler Bürokratie anstimmen zu sollen. Ich sehe in dieser Entwicklung den Inbegriff politischer Dekadenz, die noch dazu eine ganz natürliche, vermutlich unausweichliche Folge hat: Je mehr eine sogenannte ‚Elite’ den Bürger aus dem öffentlichen Raum verdrängt, weil sie seine Mitbestimmung zum bloßen Ritual entwertet, umso wichtiger wird es, den zunehmend entmündigten Massen Freiheit dort zu gewähren, wo sie die Kreise der Macht unbehelligt lässt, weil sie sich ihr gegenüber als harmlos erweist: ‚Narrenfreiheit’ also. Diese Art Scheinfreiheit ist das sozialpsychologische Pendant zum Verlust von echter Freiheit. Dieselben Menschen, die den eisernen Regeln von Wirtschaft und Politik so gnadenlos unterworfen sind, dass sie sich ihnen nur um den Preis der Existenzgefährdung widersetzen (there is no alternative), dürfen und sollen im privaten Raum hemmungslos Freiheit genießen – so hemmungslos wie sie wohl zu keiner Zeit der Geschichte (mit Ausnahme eben von Rom) in gleicher Radikalität möglich war. Der im wirtschaftlich-politischen Apparat von der herrschenden Elite zur Ohnmacht verurteilte, nur noch als fremdbestimmtes Rädchen funktionierende Massenmensch darf und soll im privaten Bereich die Entfesselung seines Ichs betreiben. Nach Belieben darf er sich als Punk oder Guru gebärden, darf jede Wahrheit und jeden Wahnsinn laut in die Welt posaunen, darf ein Meisterwerk oder ein Häufchen Scheiße gleichermaßen als Kunst bezeichnen. Seine Narrenfreiheit ist nahezu unendlich – vorausgesetzt, dass er eben nur im Privaten agiert und der Macht das ganze übrige Feld überlässt. Früher einmal hat Herbert Marcuse von ‚repressiver Toleranz’ gesprochen. Das ist ein irreführender Terminus, denn Toleranz an sich ist natürlich nie repressiv, aber sie kann es durchaus werden, wenn ihr heimlicher Zweck darin besteht, an die Stelle von echter Freiheit die bloße Narrenfreiheit zu setzen. Die Folge: Das scheinbar entfesselte Ich ahnt nicht einmal das manipulative Spiel, zu dem es verurteilt ist. Es weiß nicht einmal, welchen Preis es für seine Ersatzfreiheit zu entrichten hat: den Verzicht auf seine staatsbürgerliche Existenz.

De Gaulle hat einmal gemeint, die Vereinigten Staaten seien in einem einzigen Schritt vom Jugend- ins Greisenalter hinübergewechselt. Was würde er heute meinen, könnte er die Debatten der Hohen Häuser in Frankreich oder Deutschland verfolgen? Ich sage nicht, dass Fragen wie die des Kopftuchs oder die Behandlung von Homosexuellen nicht wichtig seien. Im Vergleich zu den existenziellen Fragen, mit denen nicht erst die Krise die Länder Europas konfrontiert, sind sie aber schlicht unbedeutend – und das gilt erst recht von den lächerlichen Debatten über den Stinkefinger eines großmäuligen griechischen Ministers. Es ist eben genau dies ein Zeichen von beängstigender politischer Dekadenz, wenn die Volksvertreter die großen Fragen der EZB, dem Brüsseler Apparat und den lenkenden Lobbys überlassen, um ihre Zeit an Scheinfragen zu vergeuden. Populismus und Demagogie sind die Schwestern der politischen Dekadenz.

Trotz allem lasse man sich nicht zu vorschnellen Gleichsetzungen verleiten! Zwar kommen in den Ländern des Westens allmählich altrömische Verhältnisse auf, doch wäre es ein Zeichen mangelnden Urteilsvermögens, sie deswegen mit Staaten wie China oder Russland zu verwechseln oder gar gleichzusetzen. Wer das System Putin ernsthaft kritisiert, tut gut daran, das Land möglichst schnell zu verlassen – bevor es für ihn lebensgefährlich wird. Wer in China das Gleiche tut, spielt von vornherein mit seinem Leben. In westlichen Ländern hat man für das gleiche Problem eine Lösung gefunden, die niemandem wirklich gefällt, doch keiner wird allen Ernstes bestreiten, dass sie um vieles humaner ist. Jeder darf bei uns schreien, so laut er will: er wird nur nicht gehört, weil so ziemlich alle gleichzeitig schreien und dieses Geschrei zu unserer Narrenfreiheit gehört. Um wirklich gehört zu werden, braucht man den Schutz einer Institution, und Institutionen brauchen in der Regel viel Geld. Und so entscheidet letztlich auch hier das Geld darüber, welche Stimmen an die Öffentlichkeit dringen und von dieser gehört werden können und welche nicht. Auf Grund der Konzentration von Presse und Verlagswesen werden die wirklich gehörten und einflussreichen Stimmen allerdings weniger und zunehmend uniformer.

Dennoch: Wer die politische Dekadenz westlicher Länder beklagt, darf die bestehenden Unterschiede nicht aus den Augen verlieren. Mangel an Demokratie kann hier oder dort etwas ganz anderes bedeuten. In westlichen Ländern lebt es sich vergleichsweise leicht: Brüssel gibt sich, wie Hans-Magnus Enzensberger es formuliert, als ‚sanftes Monster’. Und Narrenfreiheit kann den Menschen schließlich so gut gefallen wie ‚panis et circenses’ einst den hauptstädtischen Massen des alten Rom. Im Vergleich dazu wirken Russland und China wie zähnebleckende Monster mit umfassender Kujonierung und Schikanierung der Bürger, sobald diese es wagen, gegen den politischen Strom anzuschwimmen. Weil es immer noch so bequem ist, im Westen und vor allem in Europa zu leben, strömen die Asylanten und andere Flüchtlinge eben vorzugsweise zu uns und nicht nach Russland – so wie vor zweitausend Jahren die Menschen aus den Randprovinzen des Reiches nach Rom.

Aber dass auch die Narrenfreiheit, verbunden mit staatspolitischer Ohnmacht, Menschen auf Dauer psychisch verformt und entstellt, lässt sich wohl kaum bestreiten. In Rom wurden die ausgehaltenen, aber zur Unmündigkeit abgerichteten Massen süchtig nach Sex, Gewalt und Grausamkeiten. So weit sind wir nicht, und so weit wird es wohl auch nicht kommen, denn seit 2007 nimmt die Geschichte des Alten Kontinents einen unvorhergesehenen Verlauf: Auf einmal ist Schluss mit lustig. Außer in Deutschland ist es in fast ganz Europa mit dem bequemen und leichten Leben vorbei. Die Menschen reiben sich die Augen und erheben die Faust gegen ihre ‚Eliten’. Was ist die Narrenfreiheit noch wert, wenn sie mit Arbeitslosigkeit und Armut einhergeht? Europaweit beginnt das Erwachen. Die Menschen fordern die ihnen geraubte Freiheit zurück!

1: Hierzu ein wichtiger Essay im Economist.